Ausgabe 14
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bwp@ Ausgabe 14 - Juni 2008
Berufliche Lehr-/ Lernprozesse - Zur Vermessung der Berufsbildungslandschaft
Hrsg.:
, &Erweiterung beruflicher Handlungskompetenzen durch förderdiagnostische Bestimmung von Lese- und Schreibkompetenzen benachteiligter Jugendlicher und junger Erwachsener
Der Artikel nimmt die Problematik fehlender Grundbildung Jugendlicher und junger Erwachsener im Übergangssystem sowie in Ausbildung und Erwerbsarbeit auf und ordnet sie in die Entwicklung berufliche Handlungskompetenz ein.
Mangelnde Ausbildungsreife Jugendlicher im Zusammenhang mit fehlenden sozialen, personalen Kompetenzen bzw. schulischen Kenntnissen von potenziellen Auszubildenden sind Aspekte, die zu Anfang eines Ausbildungsjahres kontrovers diskutiert werden. Unbestritten ist, dass gute Lese- und Schreibkenntnisse elementare Bedingungen sind, um an Ausbildung, Erwerbsarbeit und in erweiterter Perspektive an beruflicher und betrieblicher Weiterbildung zu partizipieren. Grundbildung ist daher eine elementare Voraussetzung zur Erlangung beruflicher Handlungskompetenz und ist in die vier Kompetenzbereiche, der Fach-, Personal-, Sozial- und Methodenkompetenz zu integrieren. Eine systematische Diagnostik oder Förderung individueller Kenntnisse im System der beruflichen Bildung ist jedoch nicht vorgesehen und wird als originäre Aufgabe des allgemeinbildenden schulischen Bildungssystems angesehen.
Vorgestellt wird das Teilprojekt 4: Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule-Beruf des Verbundprojektes „lea“, in dem mit einer systematischen und validen Diagnostik, Förderbedarfe direkt im Arbeitszusammenhang aufgezeigt sowie bearbeitet werden. Das zu entwickelnde adaptive Förderinstrument soll Lehrkräften und Ausbilder/innen ermöglichen, kompetent Grundbildungskompetenzen zu diagnostizieren, in Niveaustufen einzuordnen und konkrete individuelle Förderbedarfe abzuleiten.
1 Ausgangspunkte
Die vom Bundesverband Alphabetisierung hohe geschätzte Zahl von ca. vier Millionen Analphabeten/innen bzw. funktionalen Analphabeten/innen verweist auf insgesamt hohe Grundbildungsdefizite in der deutschen Gesellschaft. Vier Millionen entspricht einer Quote ca. 6,3% funktionaler Analphabeten an der Gesamtbevölkerung (vgl. GROTLÜSCHEN/LINDE 2007). Empirisch bestätigen auch internationale Studien wie PISA, IALS und ALL, dass sich große Gruppen der beteiligten Bevölkerungen auf geringen Niveaustufen der Sprach- bzw. Grundbildungskompetenzen befinden. Die erste PISA- Studie (vgl. DEUTSCHES PISA-KONSORTIUM 2001) ermittelte die Lesekompetenzen von 15-Jährigen im internationalen Vergleich. Dabei ergab sich in Deutschland im Besonderen eine mangelnde oder geringe Herausbildung von Lesekompetenzen: Über ein Zehntel der 15-jährigen blieben unter dem Leselevel eins, womit ein sehr begrenztes Textverständnis der Zielgruppe nachgewiesen wurde. Auch in weiteren Kompetenzbereichen der mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung sowie in der Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen wurden in den PISA- Folgestudien erhebliche Defizite der Schüler- und Schülerinnenleistungen festgestellt. Je nach Kompetenzart wurde im Rahmen der Pisaerhebung eine „Risikogruppe“ von einem Anteil zwischen 10 und 25% eines Altersjahrganges ermittelt, „die allenfalls nicht in der Lage (waren) einfachste Texte zu verstehen und deutlich erkennbare Informationen daraus zu nutzen“ (STRANAT 2004, 243). Die Studien IALS und ALL ordneten die Bevölkerungen der teilnehmenden Länder in Niveaustufen der Grundqualifikation ein. Die Ergebnisse bestätigen, dass in allen Ländern eine substantielle Bevölkerungsgruppe zwischen 6 und 11% existiert, die nur die niedrigste Niveaustufe erreicht. Deutschsprachige Ergebnisse werden aus den Daten der Schweiz abgeleitet, da Deutschland sich an der Studie nicht beteiligte. Dort verfügen zwischen 13 und 19% der erwachsenen Bevölkerung über geringste Grundqualifikationen. Die Ergebnisse aus den internationalen Studien rekurrieren auf Lücken im Bildungssystem und weisen Handlungsbedarfe in den Bereichen Schule, Erstausbildung und Weiterbildung aus.
Die umfassende Arbeitsbefähigung ist ein zentrales Anliegen des beruflichen Handlungskompetenzkonzeptes. Dennoch schafft es eine große Gruppe der Gesellschaft nicht, diesen kontinuierlich steigenden Anforderungen zu entsprechen. Dabei sind in einer wissensorientierten Gesellschaft gut ausgebildete Fachkräfte von elementarer Bedeutung. Vor allem werden spezialisierte Arbeitskräfte im qualifizierten Hochtechnologie- und Dienstleistungsbereich benötigt. Hier kann auf ein insgesamt gehobenes Bildungsniveau in der Arbeitsgesellschaft verwiesen werden, in der neue Arbeitsplätze mit veränderten Berufsbildern entstehen (vgl. WEBER 2008). Gleichzeitig geht die Nachfrage nach Einfacharbeitsplätzen weiter zurück und in den kommenden Jahren wird jeder zweite Arbeitsplatz für Menschen ohne einen formalen Bildungsabschluss wegfallen (vgl. SCHMIDT 2000). Durch steigende Anforderungen in unterschiedlichen Arbeitsfeldern und damit auch in Ausbildungsberufen werden höhere Ansprüche an Erwerbstätige und Auszubildende als Ausgangsbasis gestellt (vgl. EFING 2006). Beim Zugang in das berufliche Bildungssystem haben junge Menschen mit nur geringen Kenntnissen in den Kernfächern Deutsch und Mathematik oft keine Chancen einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Andererseits steigt der Fachkräftebedarf, wodurch die Nachfrage an diesen Auszubildenden zunimmt und somit junge Erwachsene mit niedrigeren Eingangsvoraussetzungen stärker in den Fokus der Betriebe geraten. Ohne qualifizierende Fördersysteme ist diese Gruppe aber auf lange Sicht nicht in der Lage, den Ausbildungsanforderungen gerecht werden zu können. Zu diesen gehört auch die Steigerung der Literalität. Die OECD definiert Literalität als „die Verwendung von gedruckten oder geschriebenen Informationen, um in der Gesellschaft zurechtzukommen, eigenen Ziele zu erreichen und eigenes Wissen sowie individuelle Möglichkeiten zu entwickeln“ (OECD/STATISTICS CANADA 1995, 16).
Aufgrund der Diskrepanz zwischen unzureichenden Kenntnissen in den Kernfächern Deutsch und Mathematik, wie sie die Zahlen der PISA- Studie belegen, und den jungen Erwachsenen, die ohne Schulabschlüsse die Schule verlassen, ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Anteil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen trotz eines Schulabschlusses mangelnde Kenntnisse insbesondere im Lesen und Schreiben aufweist (BAUMERT 2008), wodurch ihre dauerhafte Integration in das Ausbildungssystem gefährdet ist.
„Zunächst erreicht ein erheblicher Teil der Hauptschüler nicht das Bildungsminimum. Das heißt, diesen jungen Menschen fehlen schon die Kulturtechniken -Rechnen, Schreiben und Lesen- auf dem notwendigen Niveau“ (TENORTH 2008, 10).
Eine Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung verdeutlicht, dass „die Beherrschung der elementaren Kulturtechniken (Lesen, Rechnen, Schreiben) […] als eine wichtige Voraussetzung für den Eintritt in das Berufsleben und somit als Merkmal der Ausbildungsreife verstanden“ (EBERHARD 2006, 31) wird. Mangelnde Grundbildungskenntnisse haben nach den Ergebnissen einer Unternehmensbefragung der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) erkennbare Folgen für eine Berufsausbildung. Vor allem die Unternehmen übten starke Kritik an den mangelnden Lese- und Schreibkenntnissen der Jugendlichen: 82,5% der Befragten sahen hier erhebliche Defizite bei den Auszubildenden. Unabhängig ihrer Berufsgruppenzugehörigkeit waren sich die befragten Unternehmen einig, dass sich im Vergleich zu den 1980er Jahren die Beherrschung der Kulturtechniken durch die Ausbildungsstellenbewerber/innen deutlich verschlechtert habe“ (vgl. ebd.).
Laut aktuellem Bildungsbericht (2008) verlassen darüber hinaus jährlich etwa 8% der Schülerinnen und Schüler die Allgemeinbildende Schule ohne einen Abschluss; vielfach werden Schulabschlüsse dann aber doch noch zu einem späteren Zeitpunkt, im Übergangssystem nachgeholt. Jedoch haben im Alter von 18 bis unter 25 Jahren 2,4% der jungen Erwachsenen immer noch keinen Abschluss erreicht. Sie befinden sich auch nicht mehr im Bildungssystem und sind somit nur schwer für nachträgliche Bildungswege zu gewinnen. Deshalb liegt ein Anknüpfungspunkt für Förderung von Literalität in nachträglichen Qualifizierungsmaßnahmen für junge Erwachsene.
Münden junge Erwachsene mit schwachen Literalitätskompetenzen dennoch in das berufliche Bildungssystem ein, müssten die Defizite üblicher Weise im Deutschunterricht der Berufsschulen bearbeitet werden. Nach GRUNDMANN verliert jedoch insbesondere der Sprach- und Literaturunterricht an den Berufsschulen mehr und mehr an Bedeutung, so dass Spielräume für nachträgliche Bildungsprozesse zur Stärkung der Sprachkompetenzen im institutionellen Kontext der Berufsschule kaum vorhanden sind (vgl. GRUNDMANN 2005, 155). Auszubildende können lediglich einzelfallbezogene Stützsysteme (abH) beantragen. Wird in der Allgemeinbildenden Schule das Fach Deutsch noch als „Superfach“ bezeichnet mit der Begründung, dass das Fach Deutsch zur Erziehung, Emanzipation und Mündigkeit im Rahmen von Sozialisationsprozessen diene, scheint dies für den Erwerb der Berufsfähigkeit von jungen Erwachsenen im Übergangssystem der Berufsbildung und in Ausbildung nicht mehr zu gelten. Vor allem Betriebe und Kammern beanstanden einerseits den Deutschunterricht an Berufsschulen, da dort der direkte Berufsbezug nicht deutlich werden würde (vgl. ebd., 157). Andererseits bemängeln diese Institutionen - Betrieben und Kammern - gleichzeitig die fehlende Ausbildungsreife von Schulabgängerinnen und Schulabgängern und zwar nicht nur in sozialisatorischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf deren Grundkenntnisse in den Fächern Deutsch und Mathematik (s. o.). Verbindet man die beiden Positionen, bedeutet dies, dass junge Erwachsene an der ersten Schwelle oft über unzureichende Kenntnisse im Lesen- und Schreiben verfügen, aber die Berufsschule zurzeit keinen Ort darstellt, um systematisch mangelnde Kenntnisse in den Grundfächern zu beheben. Betriebe und Kammern fordern vielmehr, dass Ausbildungsanfänger/innen diese Kenntnisse bereits zu Beginn der Ausbildung mitbringen müssen, wenn sie als ausbildungsfähig gelten sollen. Junge Erwachsene mit Förderbedarf, die an einer beruflichen und betrieblichen Integration festhalten, geraten damit in eine Situation, in der sie aufgrund von fehlender Abstimmung zwischen den allgemeinen und beruflichen Bildungsinstitutionen ohne systematische Unterstützung bleiben und somit das Scheitern an der ersten Schwelle begünstigt wird.
2 Projektverbund lea
Das Forschungsprojekt zum Thema Literalitätsentwicklung in der Arbeitswelt von Arbeitskräften (lea)[1] an der Universität Bremen befasst sich mit dem Thematik der Alphabetisierung Erwachsener speziell im Arbeitsprozess. Der Forschungsverbund „lea“ besteht aus fünf Teilprojekten und einer Verbundleitung sowie Kooperationspartnern aus dem Praxisfeld (weitere Informationen unter www.workforce.uni-bremen.de). An der Projektarbeit beteiligt sind u. a. die Bremer Volkshochschule, WISOAK, bfw, Haus der Zukunft e.V., bras e.V., Allgemeine Berufsschule etc.. Im Projekt werden unterschiedliche Expertisen aus der Sonderpädagogik, der Erwachsenenbildung, Berufs- und Wirtschaftspädagogik und des E-learnings gebündelt. Ziel ist die Entwicklung einer berufsbezogenen, sonderpädagogisch, erwachsenengerecht aufgebauten Förderdiagnostik (Formative Assessment). Das System wird als Self- und Peer-Assessment eingesetzt, zur Breitennutzung digital aufbereitet und in eine Beratungsstruktur integriert.
Abb. 1: Projektverbund „lea“: Eigene Darstellung
Das zu entwickelnde förderdiagnostische Instrument berücksichtigt verschiedene Dimensionen, die zur Förderung von Lese- und Schreibkompetenzen erforderlich sind. Diese sind wiederum abzubilden auf unterschiedliche Niveaustufen zur Ermittlung des Status Quo der zu testenden Lernenden. Dafür ist eine Ausdifferenzierung der Niveaustufen nationaler und internationaler Vergleichsstudien und Referenzsysteme wie beispielsweise PISA, Bildungsstandards, IALS/ALL oder den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen nach unten erforderlich. Zur Diagnostik der Grundbildungskenntnisse wird ein eigenes Referenzsystem entwickelt. Anhand der diagnostischen Ergebnisse können dann zielgerichtet Förderbedarfe Einzelner auf den unterschiedlichen Dimensionen und Niveaustufen abgeleitet werden. Das diagnostische Instrument ist aufgrund seiner Itemauswahl durch einen Lebens- und Arbeitsweltbezug gekennzeichnet.
3 Teilprojekt Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule-Beruf
Aus den aufgezeigten Defiziten der Literalität bzw. Grundbildung Jugendlicher und junger Erwachsener leitet sich der Ausgangspunkt des hier vorgestellten Projekts ab. Das Teilprojekt „Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule-Beruf“ fokussiert einerseits auf Nachlernprozesse der Sprachkompetenz Jugendlicher und junger Erwachsener und andererseits auf die Integration der Jugendlichen sowie deren Entwicklung von Sprachkompetenz in Ausbildung und Erwerbsarbeit. Mit diesen Bedingungsfaktoren richtet sich die Projektarbeit auf spezifischen Lerninhalte und -prozesse, die im Jugend- und jungen Erwachsenenalter nachgeholt werden müssen, wie auf die Bedeutung der Integration von Lernprozessen in die Phase der Einmündung in Ausbildung und/oder Erwerbsarbeit.
Anhand problemzentrierter Interviews werden empirische Daten zur Fremd- und Selbsteinschätzung der Literalität der Teilnehmer/innen erhoben und ausgewertet. Ausgehend von diesen Ergebnissen wird die Integration des förderdiagnostischen Instruments erprobt. Dieses Herangehen erscheint sinnvoll, da es sich um ein adaptives Instrument handelt, das möglichst passgenau platziert werden soll. Die Integration der Teilnehmendenperspektive eröffnet Einblicke in die gestörten Bildungsbiografien und deckt mögliche Muster von Hemmnissen, förderlichen Konstellationen und Motivation auf, die bei der Integration des förderdiagnostischen Instruments berücksichtigt werden müssen.
Das Teilprojekt „Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule Berufe“ (TP4) setzt anschließend das förderdiagnostische Instrument in nachholenden Bildungsgängen des Übergangssystems und der beruflichen Bildung ein, um in einem zweiten Schritt eine zielgerichtete Förderung der Literalität von jungen Erwachsenen zu ermöglichen. Dabei wird ein direkter Handlungsbezug zu den Inhalten und Arbeitszusammenhängen der unterschiedlichen Bildungsgänge und –Maßnahmen - auch zur Förderung der Motivation von Teilnehmenden - hergestellt. Darüber hinaus werden im Kontext der untersuchten Bildungsmaßnahmen, die eingeführten und erprobten Kompetenzfeststellungsverfahren gesichtet und auf die systematische Feststellung der Literalität ausgewertet (vgl. Kapitel 5).
Junge Erwachsene befinden sich noch in der Nähe von Bildungsinstitutionen und haben eine Orientierung auf Erwerbsarbeit noch nicht aufgegeben. Trotz wachsender Ängste hinsichtlich einer fehlenden Einmündung in Ausbildung und Erwerbsarbeit, wie es die Shell-Jugendstudie (SHELL DEUTSCHLAND HOLDING 2006, 74 ff.) belegt, halten junge Erwachsene am Ziel der Einmündung in Erwerbsarbeit weiterhin fest. Die Blessuren der „beschädigten Lernbiographie“ beziehen sich im Wesentlichen auf negative Schulerfahrungen und sind noch nicht durch zusätzliche Ausgrenzungserfahrungen an der ersten Schwelle verfestigt worden. Untersuchungen (IALS/ALL) belegen, dass mit zunehmendem Alter die Lese- und Schreibfähigkeiten z.B. durch die fehlenden Routinen der Schrift- und Sprachverwendung abnehmen. Mit zunehmendem höherem Alter wird das Lernen subjektiv belastender empfunden. Da die Literalitätsentwicklung im Kindesalter einsetzt und die Bedingungen des Nachlernens von versäumten Entwicklungsschritten im Erwachsenenalter noch nicht hinreichend erforscht sind, ergibt sich die Notwendigkeit eines speziellen Diagnostikinstruments für die Zielgruppe, denn bisher sind die Instrumente der Literalitätsentwicklung vor allem für das Kindes- und nicht für das Jugendalter konzipiert worden.
Die Verknüpfung von nachholender Sprachkompetenzentwicklung mit einem Bezug zur Arbeits- und Lebenswelt geht davon aus, dass die Motivation der jungen Erwachsenen gestärkt wird. Motivation in einer pädagogischen Perspektive bezieht sich unter anderem auf die Leistungsbereitschaft. WEINER formuliert dazu: „Was wir zu erreichen suchen und wie sehr wir uns darum bemühen, hängt davon ab, was uns das angestrebte Ziel bedeutet und für wie wahrscheinlich wir es halten, das wir es erreichen können“ (WEINER 1984, 144 zit. n. KRETSCHMANN/ROSE 2002, 12). Lernen mit dem Ziel von Handlungskompetenzentwicklung bedeutet, die kompetente Bewältigung von Problemen, die aus der Praxis generiert werden und in einen vollständigen Rahmen des Zyklus von Planung, Durchführung und Kontrolle gestellt werden. Dabei wird auf das pädagogische Paradigma des ganzheitlichen Lernens mit „Kopf, Hand und Herz“ zurückgegriffen und in Verbindung mit kognitiven, affektiven, psychomotorischen und sozial kommunikativen Schwerpunkten gebracht (vgl. EULER/HAHN 2004, 59). Ausgehend von diesem ganzheitlichen Menschenbild wird der Motivationsgedanke aufgegriffen und in den Handlungszusammenhang integriert. Die Förderung der Literalität der Zielgruppe ist damit in einer zweifachen Perspektive angesprochen: Zum einen werden Sprachkompetenzen im direkten Verwertungszusammenhang erweitert und mit dem besseren Verständnis der Anforderungen aus der Arbeitswelt verbunden, um die Chancen auf eine berufliche Integration zu steigern. Zum anderen bietet die Arbeitswelt einen Handlungsrahmen, in dem die jungen Erwachsenen nicht nur abstrakt ihre Sprachkompetenz erweitern, sondern im Sinne einer vollständigen Handlung diese mit dem praktischen Handlungsvollzug verbinden. Sie „begreifen“ im aktiven Tun den Bedeutungsgehalt der Sprache und damit wird der Lernprozess motivational unterstützt.
4 Zum Zusammenhang von Literalität und beruflicher Handlungskompetenz
Bei der Betrachtung des Kompetenzbegriffs aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, werden unterschiedliche Blickwinkel eingenommen. KLIEME und HARTIG (2007) benennen die Positionen in der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Diskussion und stellen gleichzeitig die Modellierung der Messbarkeit von Kompetenzen in den Mittelpunkt. Dieses ist angelehnt an die PISA- Untersuchungen, in denen unter anderem ein Leistungsvergleich der Schulsysteme fokussiert wird. Das PISA- Konsortium definiert das Leistungsniveau der Schüler/innen auf der Lesekompetenzstufe eins als „Risikogruppe“, wodurch die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten einschränkt werden. Der Begriff der „Risikogruppe“ birgt die Gefahr, die Problemlage der fehlenden Literalität aus der gesellschaftlichen Verantwortung zu nehmen und an die Individuen zu delegieren, wodurch strukturelle Ursachen aus dem Blick geraten (vgl. DEMMER 2008, 14; STRANAT 2004, 243 ff.).
Die Debatte zur Messbarkeit von Kompetenzen und die daran anknüpfende wissenschaftliche Diskussion werden in diesem Aufsatz als Ausgangspunkt aufgegriffen. Einerseits wird zwar die Feststellung individueller Kompetenzausprägungen von Literalität als erforderlich angesehen, andererseits zielt die Diagnostik aber nicht auf einen standardisierten Vergleich, sondern auf die differenzierten Kenntnisstände der Zielgruppe, aus der eine Förderplanung abgeleitet werden kann. Die Ausdifferenzierung der Kenntnisstände der „Risikogruppe“ sowie deren Förderung stehen also im Mittelpunkt des Forschungsinteresses des Teilprojektes „Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule-Beruf“ (s. o.).Es wird davon ausgegangen, dass Nachlernprozesse zur Literalität im Kontext der beruflichen Förderpädagogik (vgl. BOJANOWSKI 2005) der Berufsbildung initiiert werden müssen, um den Ausschluss aus gesellschaftlicher Teilhabe nicht weiter zu zementieren.
In den Sozial- und Erziehungswissenschaften wurde die Kompetenzdebatte angeregt durch den Sprachwissenschaftler Chomsky. Ausgehend von seiner Kritik an behavioristischen Lerntheorien zum Spracherwerb, unterscheidet CHOMSKY in seiner Analyse zwischen „Sprach-Kompetenz“ und „Sprach-Verwendung“ (Performanz). Definiert wird Kompetenz als „die Kenntnis des Sprechers- Hörers von seiner Sprache, während Performanz „der aktuelle Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen“ ist (CHOMSKY 1970, 14 zit. n. VONKEN 2005, 20). Der Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz liegt letztlich darin, dass direkt aus der Kompetenz zu sprechen die Sprachhandlung erwächst, die wiederum ein Ergebnis der Kompetenz ist (vgl. ebd.).
Vor allem die sozialwissenschaftliche Dimension des Kompetenzbegriffes geht darüber hinaus auf die Ausführungen von HABERMAS zurück. Mit seiner Theorie zum kommunikativen Handeln schließt er sich dem Kompetenzbegriff von CHOMSKY an, erweitert diesen aber um einen gesellschaftskritischen und emanzipatorischen Bedeutungsgehalt (vgl. KLIEME/HARTIG 2007) und stellt damit die Kompetenzen der Individuen in den Zusammenhang zum sozialen System. Die Handlung von Individuen ist gleich zu setzen mit dem Performanzbegriff von CHOMSKY, allerdings schließt kommunikatives Handeln den Kontext, also die Lebenswelt der Handelnden mit ein. Dabei ist die Lebenswelt die Grundlage für eine kommunikative Interaktion. Des Weiteren wird von HABERMAS einerseits auf den Raum verwiesen, in dem sich die soziale Interaktion vollzieht und andererseits wird auf das soziale Klima Bezug genommen, da damit die Voraussetzungen für Identitätsbildung eröffnet werden. Das verdeutlicht, dass die Lebenswelt keine Zustandsbeschreibung ist, sondern einen kontinuierlichen Prozess intersubjektiver Verfahren charakterisiert (vgl. HABERMAS 1981), durch die eine autonome und individuelle Lebensgestaltung ermöglicht wird und zugleich Voraussetzung für Bildungsprozesse ist. Die von HABERMAS entwickelte Begrifflichkeit verdeutlicht, vor welchen Herausforderungen Individuen stehen. Sie bedürfen der Möglichkeiten, kulturellen Kontext zu erkennen und diesen auf ihren Lebens- und Arbeitszusammenhang zu beziehen, womit soziale Kompetenzen, die Fähigkeit zur Kommunikation und Selbstreflexion angesprochen sind. Ein entscheidender Aspekt ist dabei der besondere Stellenwert der wirkungsvollen Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt. Hiermit ist die Motivation und Volitation des Individuums berührt und es rücken das Wechselverhältnis zwischen den Wirkungen des Kontextes und das Subjekt in den Mittelpunkt der Betrachtung (vgl. WEINERT 2001).
Der erziehungswissenschaftliche Kompetenzbegriff geht auf ROTH (1971) zurück, der die Kompetenzdiskussion mit einem emanzipatorischen Erziehungsbegriff verknüpft hat. Er verbindet den Kompetenzbegriff mit Mündigkeit und Handlungsfähigkeit, die bei ihm zu zentralen Erziehungszielen werden (vgl. ROTH 1971, 180). Er beschreibt Kompetenzen als individuelle Fähigkeiten im Sinne einer Urteilskraft für das eigene Handeln: als Selbstkompetenz, das bedeutet, dass die Individuen die Fähigkeit, selbstverantwortlich handeln zu können, herausgebildet haben, als Sachkompetenz, also die Fähigkeit für Sachbereiche urteils- und handlungsfähig zuständig sein zu können und als Sozialkompetenz, die die beiden ersten Kompetenzbereiche mit einer gesellschaftlich und politischen Perspektive verbindet (vgl. REETZ 1999, 35). Die bildungspolitischen Diskussionen der 1970er Jahre wurden von ROTH deutlich geprägt und führten dazu, dass eine Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung in der Kommission des Bildungsrates erfolgte. Im Mittelpunkt standen die sozialen Kompetenzen und das gesellschaftlich verantwortliche Handeln, aber auch „die Bewältigung von Lebenssituationen sowie die Urteils- und Handlungsfähigkeit in den verschiedenen Bereichen des Lebens“ (DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1974, 49). In diesem Sinne entwickelt REETZ in Anlehnung an ROTHS Theorie ein Konzept, das die Dimensionen des Kompetenzerwerbs und der Entwicklung der Persönlichkeit in einen interdependenten Zusammenhang stellen. Dem Individuum sollen „Sachkompetenz und individuelle Mündigkeit, Sozialkompetenz und soziale Mündigkeit sowie Selbstkompetenz und moralische Mündigkeit“ vermittelt werden (vgl. ebd.). Nach ARNOLD erweitert die Konzeption von REETZ den beruflichen Kompetenzbegriff um einen Persönlichkeitsbegriff und steht somit in der Tradition der klassischen Bildungstheorie (vgl. ARNOLD 1994, 143).
Die kommunikative Verständigung in der Lebenswelt zum Erwerb von Kompetenzen zählt zur elementaren Voraussetzung von Handlungskompetenz, die in der beruflichen Bildung nach Kompetenzbereichen der Fach-, Methoden-, Sozial- und personale (Mitwirkungs-) Kompetenzen unterteilt werden (vgl. BUNK 1994, 11). Es kann dabei davon ausgegangen werden, dass Lese- und Schreibkenntnisse wesentliche Bedingungen sind, um an Bildungsprozessen jeglicher Art zu partizipieren (vgl. WEINERT 2001, 82). Sie sind Grundlage für den Erwerb weiterer Kompetenzen, die in Bildungsinstitutionen vermittelt werden.
WEINERT (2001) differenziert darüber hinaus die Begriffe der Schlüssel- und Metakompetenzen, die in unterschiedlichen lebensweltlichen Situationen angewendet werden können bzw. müssen. Schlüsselkompetenzen können mit einer „besonderen Transferbreite charakterisiert werden wie etwa sprachliche Kompetenzen, sowie „Metakompetenzen“, welche sowohl den Erwerb als auch die Anwendung spezifischer Kompetenzen erleichtern (vgl. WEINERT 2001, 80ff). Zu den Metakompetenzen gehören einerseits Denk-, Lern-, Planungs- und Steuerungsstrategien, andererseits gehört dazu das Wissen um Aufgaben, Strategien und um die eigenen Stärken und Schwächen. Daraus ergibt sich als weiterer grundlegender Aspekt des Kompetenzkonzeptes, dass Kompetenzen durch Lernen erworben werden können bzw. erworbenen werden müssen. Kompetenzen können also durch Erfahrung in relevanten Anforderungssituationen erworben […] werden“ (KLIEME/HARTIG 2007, 17).
Die Diskussion zur beruflichen Handlungskompetenz ist auf das Konzept des Berufs zurück zu führen. Den Ansätzen zur beruflichen Handlungskompetenz ist gemeinsam, dass sie sich immer auf die Bewältigung von Arbeitsaufgaben und um die Gestaltung von berufsbezogenen Anforderungen beziehen. Für die Umsetzung von Arbeitsanforderungen werden die unterschiedlichen Kompetenzbereiche aktiviert und zur Realisierung eingesetzt.
Eine Differenzierung der Kompetenzbereiche (s. o.) ermöglicht die Operationalisierung der Arbeitsanforderungen und erleichtert eine angemessene Einschätzung dessen, was das Individuum zur Bewältigung der Arbeitsaufgabe an Kompetenzen mitbringt. Somit eröffnet das Konzept der beruflichen Handlungskompetenz eine relativ präzise Beschreibung der beruflichen Anforderungen und zeigt den Weg für notwendige Lernprozesse auf. Gerade die Operationalisierung beruflicher Anforderungen bietet günstige Anknüpfungspunkte für die Integration der Literalitätsentwicklung. Entsprechend der Arbeitsaufgaben und entlang der Kompetenzbereiche können Fördersequenzen in den Arbeits- und Lernprozess integriert werden, die sich auf die unterschiedlichen Dimensionen der Sprachentwicklung beziehen. Dabei kann auch auf die individuellen Voraussetzungen der Lernenden eingegangen werden, indem die Fördersequenzen dem didaktischen Prinzip vom Leichten zum Schweren folgen. Anknüpfend an die Shell-Jugendstudie ist davon auszugehen, dass junge Erwachsene an der Erlangung eines Berufsabschlusses interessiert sind und durch die enge Verknüpfung von beruflicher Handlungskompetenz und Literalitätsentwicklung eher bereit sind, Nachlernprozesse in neuer Weise anzugehen. Dabei ist der Beruf ein Motivationsfaktor der anschließt an zwei Voraussetzungen, die in der Motivationstheorie herausgearbeitet wurden: „Zum einen von der subjektiven Bedeutung, dem Anreiz (Ae), den die Tätigkeit hat, dem Gewinn, den wir uns von unseren Bemühungen versprechen, dem Interesse, das wir der Sache entgegenbringen zum anderen von der subjektiv eingeschätzten Wahrscheinlichkeit (We) das gewünschte Ziel zu erreichen, auch Erfolgszuversicht genannt, wobei We selbst ein zusammengesetzter Wert ist, zusammengesetzt aus der Einschätzung des eigenen Könnens und den geäußerten Möglichkeiten (…)“ (KRETSCHMANN/ROSE 2002, 12). Durch diese Setzung werden an das Konzept der beruflichen Handlungskompetenz zugleich hohe Erwartungen gerichtet, die über das Modell der vollständigen Handlung berücksichtigt werden können.
Das berufspädagogische Konzept der beruflichen Handlungskompetenz verdeutlicht, dass Literalität in der Berufsbildung implizit immer vorausgesetzt wird, in Form der Meta- bzw. Schlüsselkompetenzen. Das bisher verwendete Konzept beruflicher Handlungskompetenz in der Berufsbildung muss also vor dem Hintergrund der Zielgruppe erweitert werden. Die sprachlichen Kompetenzen sind den von WEINERT (2001) entwickelten Meta- und Schlüsselkompetenzen eindeutig zuzuordnen, womit ein Literalitätsbezug zur beruflichen Handlungskompetenz hergestellt werden kann.
Mit der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz muss Literalität als Baustein der Sprachkompetenz gesehen werden, da sich die berufliche Handlungskompetenz stets vor dem Hintergrund der Lebenswelt entwickelt (vgl. HABERMAS 1981). Mit WEINERTS Schlüsselkompetenzbegriff und HABERMAS Lebensweltausrichtung kann sprachliche Kompetenzentwicklung in einen direkten Bezug zur Arbeitswelt gestellt werden und bezieht somit die Entwicklungen der Kompetenzen auf das jeweilige Anforderungsprofil des Arbeitsgegenstandes mit ein.
5 Kompetenzfeststellungsverfahren & Literalität
Zur Feststellung individueller Förderbedarfe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat sich im System der beruflichen Förderpädagogik in den letzten Jahren ein umfangreicher Markt von Kompetenzfeststellungsverfahren mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Ausrichtungen etabliert. Die entwickelten Ansätze rücken dabei vorwiegend die Feststellung sozialer und personaler Kompetenzen in den Mittelpunkt, um bei schulischen Defiziten ausgleichend und zugleich ressourcenorientiert anzusetzen. Die jungen Menschen haben aufgrund ihrer gestörten Lernbiographien, die geprägt sind von negativen Schulerfahrungen und häufig durch soziale Faktoren verstärkt werden, wenig Interesse, sich mit ihrer eigenen Sprachkompetenz auseinander zu setzen. Es wird daher davon ausgegangen, dass die Literalitätsentwicklung im Jugend und Erwachsenenalter sehr eng mit der Entwicklung von Motivation zusammenhängen muss. In der Motivationstheorie von ATKINSON werden die (generalisierte) Motivation erfolgreich zu sein (Me) und die generalisierte Misserfolgsmotivation (Mm) unterschieden. Me bezieht sich auf die viele Gebiete erstreckende Bereitschaft einer Person, Erfolge zu erwarten und Anstrengungen zu erbringen, um (weitere) Erfolge zu erzielen. Mm bezieht sich auf die viele Gebiete erstreckende Bereitschaft einer Person, (weitere) Misserfolge zu erwarten und potenzielle Misserfolgserlebnisse durch Vermeidungsstrategien zu minimieren (vgl. KRETSCHMANN/ROSE 2002, 88). Gerade im Umgang mit Risiken sind Unterschiede zwischen erfolgsmotivierten und misserfolgsmotivierten Personen festzustellen. „Erfolgsmotivierte gehen Risiken ein, um zu dem, was sie haben, etwas hinzuzugewinnen. Misserfolgsmotivierte meiden Risiken, um keine Verluste zu erleiden. Daher meiden misserfolgsorientierte Lernende, wenn sie denn können, Anforderungs- und Bewährungssituationen. So können sie keine Fehler machen. Sie können jedoch auch nichts hinzulernen, sich nicht weiterentwickeln“ (ebd., 90). Insofern müssen Kompetenzfeststellungsverfahren die dargestellten Ausgangspositionen von Motivation berücksichtigen und Aufgabenformate so gestalten, das einerseits Erfolgserlebnisse hergestellt werden können, anderseits aber Muster der Vermeidung nicht bedient werden. Implizit ist daher bei Kompetenzfeststellungsverfahren immer eine Förderung mitzudenken und daran anzuschließen.
Insofern ist der förderdiagnostische Ansatz im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über die individuelle Bildungsbiographie zu verstehen. Förderdiagnostik bedeutet einerseits den aktuellen Sprachstand festzustellen und anderseits die Gründe für den Entwicklungsstand biographisch zu erschließen. Bei der Förderdiagnostik stehen das Individuum, die Zielsetzung der Bildungsmaßnahme und die daraus zu entwickelnde einzelne Förderperspektive im Vordergrund. Weniger bedeutend ist dabei die vergleichende Betrachtung der einzelnen Sprachstände bei den Teilnehmenden. Ressourcenorientierung bedeutet in diesem Zusammenhang, über ein adaptives Instrumentarium zu verfügen, dass sich trotz Heterogenität der Zielgruppe diagnostisch und förderpädagogisch einsetzen lässt. Eine Integration des Instruments in bestehende Kompetenzfeststellungsverfahren ist angestrebt, da in den Maßnahmen der beruflichen Förderpädagogik meist Sozialpädagogen/innen den Prozess der Feststellung und Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz unterstützen und damit das Instrumentarium in den Zusammenhang von Lebens- und Arbeitswelt gestellt werden kann.
Ein erster Überblick über die bestehenden Kompetenzfeststellungsverfahren zeigt jedoch, dass mangelnde Lese- und Schreibkenntnisse von Teilnehmenden in den Verfahren des beruflichen Übergangssystems bisher noch nicht umfassend berücksichtigt sind, weder hinsichtlich einer validen Diagnostik noch in einer systematisch ansetzenden Förderung.
Einige der im Zusammenhang mit der Zielgruppe der beruflichen Förderpädagogik bereits oft eingesetzten Verfahren zur Kompetenzfeststellung wie z.B. Hamet 2, TASTE for girls (Technik ausprobieren, Stärken Entdecken) DIA-TRAIN (DIAgnose & TRAINing), START oder PROFIL AC bieten bereits diagnostische Anknüpfungspunkte der Grundbildungskompetenzen. Exemplarisch werden zwei Verfahren benannt, bei denen sich Verbindungsmöglichkeiten zeigen, da sie die Grundbildungskompetenzen bereits über den Begriff der Kulturtechnik in das Verfahren aufgenommen haben. Das berufsspezifische Assessment Center-Verfahren START wendet sich an Personen, die sich in Bildungsangeboten des Übergangssystems befinden. Entwickelt wurde das Verfahren vom Institut für Maßnahmen zur Förderung der beruflichen und sozialen Eingliederung e.V. (IMBSE). Es wird zur Berufsorientierung bei Förder-, Haupt-, Real-, Gesamtschülern und -schülerinnen sowie an Berufsbildenden Schulen und zur Eignungsanalyse in Berufsvorbereitungs-Maßnahmen eingesetzt. Zielgruppe der Kompetenzfeststellung sind junge Erwachsene im Übergangssystem, wobei mit dem Aufgreifen der Kulturtechniken (wie Rechnen, Schreiben, Lesen, Sprechen und Computerkenntnisse) bereits der Grundbildungsgedanke in die Diagnostik aufgenommen ist. Eine systematische Förderung von Literalität ist bislang jedoch noch nicht in den Förderprozess integriert worden.
Das Assessment Center Verfahren „PROFIL AC“ versteht sich als Förder-Assessment und wurde vom CJD-Jugenddorf Offenburg und dem Berufsbildungswerk Waiblingen entwickelt, um lernbehinderte junge Menschen oder Menschen mit sozialen Benachteiligungen bei der Berufsvorbereitung und der Gestaltung des Übergangs zwischen Schule und Beruf zu unterstützen. In diesem Verfahren wird der individuelle Umgang mit Sprache, Schrift, Zahlen, dem Computer und Internet erprobt und gefördert. Deshalb wäre bei diesem Verfahren ein Anschluss über die systematische Diagnostik der Literalität zu suchen.
Die Anschlussmöglichkeiten eines förderdiagnostischen Instruments bei verschiedenen berufsorientierten Assessment Center-Verfahren (in der Regel Assessment Center Verfahren) zeigen sich in der Gestaltung der Arbeitsaufgaben, sofern diese Verfahren an der spezifischen Problematik der Zielgruppe orientiert sind. Die Teilnehmer/innen könnten z.B. Arbeitsaufträge erhalten, die sich nach unterschiedlichen sprachlichen Niveaustufen und Dimensionen unterscheiden. Da bereits oben aufgezeigt wurde, dass Grundbildungskenntnisse als Voraussetzung von gesellschaftlicher und beruflicher Teilhabe anzusehen sind, ist daher eine Förderung von Literalität im Zusammenhang der Kompetenzfeststellung und -entwicklung sinnvoll und notwendig. Die Grundbildung bzw. Literalität - integriert in einem umfassenden Kompetenzfeststellungsverfahren –soll ressourcenorientiert die Kompetenzen der Teilnehmer/innen sichtbar machen. Deshalb wird mit dem förderdiagnostischen Ansatz das Ziel verfolgt, unterschiedliche Dimensionen der Sprachkompetenz zu entwickeln und bei der Aufgabengestaltung zu berücksichtigen, damit die vorliegenden Fähigkeiten differenziert sichtbar werden. Die Differenzierungen sollen gezielt die Teilkompetenzen der Teilnehmenden aufzeigen. Die Dimensionen orientieren sich deshalb an Kann-Kriterien, um die Lernenden dort abzuholen wo sie stehen. Auch schriftliche Verständnisfragen oder schriftliche Auswertungen der Bewältigung von Aufgaben bieten Möglichkeiten, um schriftsprachliche Kompetenzen festzustellen, stets mit dem Ziel der Entwicklung von Förderplänen.
6 Ausblick
Es ist deutlich geworden, dass der Stellenwert von Literalitätsentwicklung für die Integration auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zugenommen hat und die Gruppe der so genannten Bildungsverlierer/innen wesentlich stärker als bisher auch in Grundbildungskompetenzen gefördert werden muss, denn das Leistungsniveau vieler Lernenden schließt den Übergang in eine Berufsausbildung nahezu aus (vgl. TENORTH 2008, 10). Bis jetzt wird dieses Thema noch zu wenig systematisch im Kontext der beruflichen Bildung bearbeitet, vermutlich aufgrund der Einschätzung, dass nachholenden Bildungsprozesse im Kontext der Arbeitswelt keinen Platz haben. Das bedeutet, es besteht eine große Diskrepanz zwischen der Anforderung der Arbeitswelt und der „Risikogruppe“. Dies wird mit dem Begriff der fehlenden Ausbildungsreife umschrieben. Deshalb sind Nachlernprozesse in das Berufsbildende System und in die berufliche Förderpädagogik zu implementieren, wenn an dem Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe von allen Gesellschaftsmitgliedern festgehalten werden soll. Wenn man die berufliche Handlungskompetenz mit Schlüssel- und Metakompetenzen sowie der Theorie des kommunikativen Handelns in der Lebenswelt verbindet, werden vielfältige Anknüpfungspunkte für das Nachlernen von Literalität ermöglicht.
Mit Hilfe geeigneter Diagnostik und anschließender Förderung wird im Projekt ein Weg aufgezeigt, der die Literalitätsentwicklung mit der Integration auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verbindet. Anhand einer berufsrelevanten Diagnostik sowie in der Entwicklung von Materialien, die einen Lebens- und Arbeitsweltbezug aufweisen, sollen Lese- und Schreibkompetenzen der Lernenden unmittelbar im Arbeits- und Ausbildungsprozess gefördert werden. Dadurch wird die Entwicklung der Ausbildungsreife benachteiligter Zielgruppen unterstützt und die Ausbildungs- und Beschäftigungsfähigkeit ermöglicht.
Zur Realisierung dieser Aufgaben, werden unter anderen in einem gemeinsamen Vorhaben mit dem Haus der Zukunft Lüssum e.V., Sprachkurse im Betrieb und lea TP4 unter anderem ein Konzept zur Förderung der Lese- und Schreibkompetenzen von Menschen in einem sozial benachteiligten Stadtteil entwickelt, die eine Integration ins Erwerbssystem anstreben. Das an der Gemeinwesenarbeit orientierte Quartierszentrum Lüssum-Bockhorn der Stadt Bremen knüpft mit seinem Konzept an der Bearbeitung von stadtteilbezogenen Ungleichheitsdimensionen an, befördert mit einer empowermentorientierten Arbeitsweise die subjektiven Voraussetzungen der Stadtteilbewohnerinnen und -bewohner und stellt damit ein ideales Praxisfeld dar. Durch das Stärken von Kompetenzen und durch sozial integrierende Maßnahmen wird eine Wiederherstellung von sozialer Balance befördert (vgl. QUANTE-BRANDT 2003).
Das gemeinsame Projekt „Berufe erkunden, Lesen, Schreiben und Rechnen be-greifen“ stellt Literalitätsentwicklung in den direkten Bezug von Ausbildung und Erwerbsarbeit. Die Teilnehmenden erhalten die Möglichkeit, unterschiedlichste Berufsfelder kennen zu lernen und ihre Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen nah an den Inhalten und Arbeitsaufgaben der einzelnen Berufsfelder zu verbessern. Darüber hinaus wird zur Integration in Ausbildung oder Erwerbsarbeit ein Bewerbungstraining durchgeführt. Abgerundet wird das Angebot durch Betriebsbesichtigungen und Praktika, die den Bezug zur regionalen Wirtschaft und damit zum ersten Arbeitsmarkt herstellen sollen. Das in kooperativer Zusammenarbeit entwickelte Material für schwache Leser/Leserinnen und Schreiber/Schreiberinnen wird in unterschiedlichen Niveaustufen ausgewiesen, um den Anschluss an das im Projektverbund entwickelten Diagnostikinstrument herzustellen.
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[1] Das diesem Artikel zugrunde liegende Vorhaben wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01AB072905 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen.