bwp@ Ausgabe 2 - Mai 2002

Lernen in Netzen - Aufgaben für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik

Hrsg.: Karin Büchter & Franz Gramlinger

Be-online: Lernberatung im Netz

Der Beitrag stellt die Rahmenbedingungen und das didaktische Konzept für eine internetgestützte Bildungs- und Beratungsplattform vor. Das Projekt be-online vernetzt erstens eine Lehr-, Lerngruppe technisch im Internet und zweitens vernetzt es in didaktischer Hinsicht die Bedeutungshorizonte der Gruppenteilnehmer im Rahmen eines systematisch angelegten Verstehensprozesses, der schließlich in einen Beratungsprozess mündet.

Beschrieben wird, in welcher Weise Akteure in Modernisierungsprozessen zeitnahe und ortsunabhängige Beratungsleistungen für ihre besonderen Handlungsproblematiken in Modernisierungsprojekten erwarten. Traditionell vermittlungsorientierte Bildungsarbeit stößt in solchen Handlungsfeldern schnell an ihre Grenzen. Diese Rahmenbedingungen greift das vom BMBF gefördertem Projekt be-online auf. Beschrieben wird zweitens das didaktische Konzept, das sich als subjektorientierte Lernberatung definiert und sich deutlich von  vermittlungsorientierten Konzepten des e-Learning abgrenzt. Die Lernhandlungen der Onlineforums-Teilnehmer werden als interessengeleitetes soziales Handeln verstanden (im Unterschied zu kognitiven Operationen), die auf erweiterte betrieblich-gesellschaftliche Teilhabe zielen. Lernen und Wissen stehen im Zusammenhang der gesellschaftlichen Produktion von Bedeutungen, die es im Lernprozess zu erweitern und zu differenzieren gilt.

Abschließend verwiesen wird auf ein Praxisbeispiel im Netz, das die praktische Umsetzung einer Online-Lernberatung zeigt.

Der folgende Beitrag problematisiert aus einer didaktiktheoretischen und lerntheoretischen Perspektive Lehr-, Lernverhältnisse im Internet und stellt das didaktische Konzept einer Online-Lernberatung für Weiterbildungsprozesse in betrieblichen Modernisierungskontexten vor. Es wird zunächst die These begründet, dass Weiterbildung in gesellschaftlich-betrieb­lichen Modernisierungskontexten in vielen Fällen eine beratungsorientierte Didaktik - im Unterschied zu einer vermittlungsorientierten Didaktik - erfordert. Daran anschließend wird aus einer lerntheoretischen Perspektive „verstehen/beraten“ als zentraler Referenzpunkt didaktischen Handelns vorgestellt. Schließlich werden am Beispiel des Forschungs- und Entwicklungsprojektes be-online die Vor- und Nachteile des Mediums Internet für eine beratungs­orientierte Didaktik dargelegt und zukünftige Forschungsperspektiven aufgezeigt. Dieser Beitrag konzentriert sich also auf didaktik- und lerntheoretische Begründungen sowie auf eine Problematisierung der Umsetzungsmöglichkeiten für eine beratungsorientierte Didaktik im Internet. Dabei wird der spezifische Charakter dieser Zeitschrift als Online-Zeitschrift genutzt, um an verschiedenen Stellen Verbindungen zu bildungspraktischen Darstellungen der Online-Lernberatung im Internet herzustellen (www.projekt-be-online.de). Die theoretischen Begründungen und die praktischen Darstellungen mögen zusammen einen vertieften Einblick in den Versuch einer Online-Lernberatung geben.

1 Der Eigensinn des Lerners als Problem der Online-Didaktik

Bildungsangebote im Internet basieren überwiegend auf einer vermittlungsorientierten Didak­tik: ein von Pädagogen oder Anderen vorbestimmter Stoff wird Lernenden als Lernan­for­derung angetragen und methodisch so aufbereitet, dass seine Aneignung in anschaulicher Weise gelingen mag. Vermittlungsdidaktiken umfassen ein breites Spektrum: Es reicht von einfacheren Übertragungsmodellen, denen gemäß Lernende instruiert werden, bis hin zu anspruchsvollen Entdeckungs- bzw. Verständigungsmodellen (vgl. Kiel 1999, 91 ff ). Immer aber bleibt ein zu vermittelnder Inhalt - meist exemplarisch ausgewählt - der Ausgangspunkt didaktischen Handelns. Immer ist die Aneignung des Inhalts Ziel des didaktischen Handelns – auch wenn dies in individualisierter oder relativierter Weise geschieht (z.B. in den Verständi­gungs­modellen). Schul- und Ausbildungssituationen sind typisch für diese didaktischen Ver­mittlungsperspektiven. Der Lehrplan für einen bestimmten Schul- oder Ausbildungsabschnitt repräsentiert die Lernanforderung mit den zu vermittelnden Inhalten.

Der didaktische Referenzpunkt des Lernens im Netz bleibt der vom Lehrenden bzw. vom Lehrprogramm zu vermittelnde Inhalt, den sich möglichst die gesamte Lerngruppe aneignen soll. Der einzelne Lerner kann dabei nur begrenzt abweichen: auf den vom Programm vorbe­dachten und angebotenen Wegen oder über tutorielle Angebote. Individuelle Lernbesonder­heiten können in der face-to-face-Situation des Präsenzseminars durch erfahrene Lehrer/innen leichter aufgegriffen werden. Lernen ist nicht die einfache Kehrseite des Lehrens. Dieser „Lehr-Lern-Kurzschluss“ (Holzkamp 1996) tritt auf, wenn die subjektive Planungs­akti­vität des Lehrers mit der subjektiven Lernaktivität des Lerners in Eins gesetzt wird. Lernhand­lungen gehorchen bei aller Lehrplanung durch Pädagogen dem subjektiven Eigensinn des Lerners und sind von der Lehrhandlung zu unterschieden.

Diese Differenz von Lehrhandlung und Lernhandlung mag in Schul- und Ausbildungssitua­tionen oft übersehen werden, weil dort das Expertenwissen der Lehrenden von allem Beteilig­ten – zumindest vordergründig – als sinnvoll akzeptiert wird. Eine Vermittlungsdidaktik hat in Schul- und Ausbildungssituationen auch ihren festen Ertrag. Weiterbildungsprozesse in Modernisierungskontexten stellen sich aber grundlegend anders dar, weil die Weiterbildungs­teil­nehmer selbst Experten ihrer spezifischen Handlungssituation sind, die vorgeplante Lösun­gen nicht ohne weiteres akzeptieren. Der Eigensinn des Lerners und das von ihm eingebrachte Wissen als spezifischer Bedeutungshorizont erhalten einen zentralen Stellenwert im Weiter­bildungs­prozess, den Online-Angebote aufzunehmen haben.

2 Charakteristika der Weiterbildung in betrieblichen Modernisierungs­kontexten

Aus lerntheoretischer und didaktischer Perspektive ist für betriebliche Modernisierungspro­jekte charakteristisch, dass dort Menschen an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit stoßen und im Rahmen ihrer bis dato erworbenen beruflichen Kompetenz problematische Hand­lungs­situationen erfahren. Gesellschaftlich-betriebliche Modernisierungsprozesse stellen sich unübersichtlich, offen, gefahrvoll und komplex dar. Konstitutiv für Komplexität sind bei­spiels­weise uneindeutige Zielvorgaben, unklare Neben- und Fernwirkungen, die Eigendyna­mik von Entwicklungen und unbekannte Handlungsmöglichkeiten.

Dies soll mit einem Beispiel aus der Weiterbildungspraxis kurz illustriert werden: Wilfried ist als Personalratsvorsitzender einer Kommunalverwaltung ein zentraler Akteur im Rahmen der Verwaltungsreform. Die Verwaltungsstrukturen sollen durch Dezentralisierung und Flexibi­lisierung im Rahmen der Verwaltungsreform effizienter und bürgerfreundlicher gestaltet wer­den. Die Reform soll darüber hinaus den Beschäftigten der Kommunalverwaltung humanere, interessante und sichere Arbeitsplätze bringen. Ein Zielbündel, dass in seiner Komplexität unklar, zum Teil widersprüchlich und offen ist. Die Akteure handeln in diesem Reformprojekt mit einem hohen Grad an Unsicherheit. Wilfried entscheidet sich für eine Weiterbildung mit dem Thema „Gestaltungskompetenz in Modernisierungsprojekten“, nachdem er in einem Reformprojekt „Wohnungsbörse“ in Konflikte gerät, die er selbst nicht mehr ausreichend zu überblicken glaubt und aus denen er keinen Ausweg mehr erkennt. Das Projekt „Wohnungs­börse“ des Sozialamts wird sowohl in der Öffentlichkeit, von der Verwaltungsspitze, vielen Personalräten und auch von Wilfried selbst sozialpolitisch unterstützt. Es soll die Wohnungs­vermittlung insbesondere für benachteiligte Bürger verbessern. Allerdings müssen gemäß dem Projektplan auch Ämter zusammengelegt werden, was den Interessen einiger Beschäftig­ten­gruppen entgegen läuft. Diese Modernisierungsverlierer fordern von Wilfried zur Ver­tretung ihrer Interessen die Verhinderung bestimmter Reformmaßnahmen, insbesondere die geplanten Zusammenlegungen. Wilfried will einerseits das Reformprojekt sozialpolitisch unterstützen, andererseits aber auch die Interessen dieser Beschäftigtengruppen vertreten. Diese Rücksichtnahme auf die Beschäftigteninteressen wird von den Protagonisten des Pro­jekts nicht geschätzt. Das bringt ihn in ein Dilemma und in verschiedene Konfliktsituationen. Wie soll er weiter handeln?

Wilfried bringt vor diesem Hintergrund eine Handlungsproblematik in die Weiterbildung ein, die unterschiedlichste Aspekte umfasst: In seiner konfliktgeladenen Handlungssituation tref­fen Identitätsfragen als Personalrat, rechtliche Aspekte, Macht- und Beziehungsfragen, Gender­konflikte, Fragen nach möglichen Interessensvertretungsmodellen und verschiedene Rollenverständnisse von Interessensvertretern aufeinander.

Bildungsteilnehmer/innen suchen Orientierung in solchen unübersichtlichen und komplexen Handlungssituationen. Welcher Weiterbildner kann für solche Situationen noch Hilfe ver­sprech­ende Inhalte planend auswählen und legitim vermitteln? Teilnehmer/innen an Weiter­bildungen stehen Bildungsangeboten skeptisch gegenüber, die aus der Sicht eines Experten Lösungen anbieten. Dies hat verschiedene Gründe. Anders als in Ausbildungssituationen sehen sich mit Expertenrat konfrontierte Weiterbildungsteilnehmer/innen nicht in ihrem eigenen Expertenstatus anerkannt. Hinzu kommt, dass von Experten vorbedachte Weiter­bildungsinhalte meist nur einzelne Aspekt der vom Teilnehmer mitgebrachten Handlungs­problematik tangieren, z.B. den rechtlichen Aspekt, den Beziehungsaspekt usw. Dies muss aber nicht der Aspekt sein, den der/die Teilnehmer/in zur Lösung seines/ihres Problems für relevant hält. Halten Teilnehmer/innen aber das Angebot für sich nicht relevant, wird weder Lernen noch ein Transfer in den Alltag möglich.

Weiterbildung allgemein und auch Online-Weiterbildung im Besonderen haben sich den Relevanzen und dem Eigensinn der Lernenden zuzuwenden. Erforderlich ist ein didaktischer Paradigmenwechsel, der dem Eigensinn der Lernenden gerecht wird und nicht bei seiner Rolle als Adressat oder Teilnehmer stehen bleibt. Lernende konstituieren den Bildungs­prozess in gleicher Weise wie die Lehrenden und nehmen nicht nur teil (vgl. Benner 1995 und Ludwig 2000, 27ff.). Die Rolle der Lernenden in Weiterbildungsprozessen lässt sich selbst als Ausdruck gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse verstehen, an denen Weiter­bildung teil hat und die Weiterbildung als Institution verändern. Zwei gesellschaftliche Modernisierungsphänomene treffen in der Weiterbildung aufeinander: zum einen ein erwei­tertes Selbstbewusstsein der Lernenden gegenüber pädagogischen Anforderungen, zum anderen eine verringerte Sicherheit bezüglich der Geltung und Relevanz zu vermittelnder Wissensbestände. Expertenwissen wird in der Wissensgesellschaft selbst problematisch und reflexiv (vgl. z.B. Wittpoth 2001 und Nassehi 2000). Der technischen Innovation wäre also – zumindest für Weiterbildungsprozesse in Modernisierungskontexten - eine didaktische Innovation an die Seite zu stellen, die Unübersichtlichkeit, Unsicherheit und Komplexität sozialer Handlungssituationen angemessen aufgreift und mit der flexiblen Verfügbarkeit des Internets verbindet.

Ertragreich erscheinen hier didaktische Ansätze, die als Referenzpunkt ihres didaktischen Handelns nicht „vermitteln“, sondern „verstehen/beraten“ wählen. Das pädagogische Handeln bezieht sich dann verstehend und beratend auf den Eigensinn des subjektiven Lernhandelns. Wie aber ist der Eigensinn des Lernenden zu begreifen, damit er im didaktischen Kontext verstanden werden kann?

3 Lernen als soziale und begründete Handlung

Lernhandlungen Erwachsener sind interessensbestimmt. Sie entstehen, wie bei Wilfried, aus einer subjektiv empfundenen Unzulänglichkeitserfahrung in bestimmten Handlungs­situatio­nen und sind mit dem Interesse verbunden, zukünftig in solchen oder ähnlichen Situationen wieder handlungsfähig zu werden oder erfolgreicher zu handeln. Lernen erscheint Erwach­senen dabei als eine erfolgversprechende Strategie, mit der sie/er weiterführende Einsichten und Perspektiven antizipieren kann.

Lernen kann als eine spezielle Form sozialen Handelns (vgl. Holzkamp 1993) verstanden werden. Lernhandlungen oder Lernschleifen entstehen an jenen Stellen des Alltagshandelns, an denen das Subjekt ein Handlungsproblem erfährt und sich durch Lernen eine erweiterte Handlungsfähigkeit verspricht. Die Lernhandlung des Subjekts basiert also auf einer Irritation als Diskrepanzerfahrung, aus der heraus es Gründe für eine Lernschleife entwickelt. Diese subjektiven Lernbegründungen zielen auf eine Erweiterung der empfundenen gesellschaft­lichen Teilhabemöglichkeiten[1]. Wilfried will beispielsweise seinen Konflikt lösen und Handlungsperspektiven gewinnen, die ihm sowohl die Interessenvertretung der betroffenen Beschäftigten ermöglichen als auch sein sozialpolitisches Ziel realisieren.

Lernen ist so betrachtet eine soziale Kategorie, die mit den Bedürfnissen und Interessen des Weiterbildungsteilnehmers in seiner Lebenspraxis verbunden ist. Lernende dringen in für sie noch nicht verfügbare gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten ein, indem sie sich gesell­schaftlich verfügbare, aber noch nicht subjektiv gegebene Bedeutungshorizonte/Wissen erschließen. In Wilfrieds Fall wären dies beispielsweise verschiedene Rollenkonzepte von Gestaltungsakteuren in Modernisierungsprojekten. Solche Rollenkonzepte könnten sich ihm dann als potentieller Lerngegenstand darstellen, wenn er mit einem neuen Rollenkonzept eine Erweiterung seiner Handlungsfähigkeit antizipieren kann. Inwieweit er diese Potenzialität aufgreift oder verweigert ist also seinen Interessen geschuldet, die in seiner spezifischen Diskrepanzerfahrung und seinen Lernbegründungen zum Ausdruck kommen. Lernen ist so gesehen ein Selbstverständigungsprozess, den der Lernende zwischen seinen bestehenden Bedeutungshorizonten und noch nicht verfügbaren gesellschaftlichen Bedeutungshorizonten vollzieht.

4 Verstehen/beraten als didaktischer Referenzpunkt der Lernberatung

Wenn Lernen in der beschriebenen Weise als begründetes Handeln im sozialen Kontext ver­standen werden kann, dann besteht in Lehr-, Lernverhältnissen die Möglichkeit, Lernhand­lungen als Selbstverständigungsprozess zwischen subjektiv gegebenen und noch nicht verfüg­baren gesellschaftlichen Bedeutungshorizonten zu verstehen und zu unterstützen. Dies bietet einen Referenzpunkt für didaktisches Handeln, der beim lernenden Subjekt und seiner Hand­lungsproblematik liegt und nicht bei einem zu vermittelnden Inhalt.

Lernberatung zielt auf die  Unterstützung des Selbstverständigungsprozesses des Lernenden in seinem gesellschaftlich-betrieblichen Umfeld. In Wilfrieds Fall zielte die Lernberatung beispielsweise auf das erweiterte Verstehen seiner Konfliktsituation mit den implizierten Handlungsgründen der verschiedenen Akteure und den spezifischen betrieblichen Strukturen, um daraus neue Handlungswege ableiten zu können. Lernberatung zielt – in Abgrenzung zu Konzepten, die Lernberatung als Kompensation individueller Lerndefizite definieren - nicht nur auf die Person der/des Lernenden, sondern insbesondere auf das Verhältnis zwischen Lernendem und gegenständlich-thematischen Problemstellungen.

Der Versuch, den Selbstverständigungsprozess des Lernenden zu verstehen, ist ein Fremdver­ständigungsprozess zwischen Weiterbildner/in und Lernendem. Dieser Versuch beinhaltet immer zugleich auch die Möglichkeit des Nicht-Verstehens. Wer als Weiterbildner/in Lernende verstehen will ist selbst gefordert, auf die erzählte Handlungsproblematik des Lernenden das eigene mitgebrachte Vorwissen, seine eigene Sinnperspektive anzulegen. Ein Vorgang in dem bereits Nicht-Verstehen angelegt ist, wenn das eigene Vorverständnis die Oberhand gewinnt und den fremden Sinn immer gleich subsumiert. Das Verstehen des Selbst­verständigungsprozesses des Lernenden als Fremdverstehen durch den/die Weiterbildner/in ist ein hermeneutischer Prozess, der einerseits handlungshermeneutische Kompetenz voraus­setzt (vgl. Ludwig 2002) und andererseits einer gewissen Systematik bedarf, die es als didaktisches Setting abzusichern gilt. Beides soll Verstehen ermöglichen und verhindern, dass vor­schnell die Handlungsproblematik des Lernenden unter die Sinnperspektive des/der Weiter­bildners/in subsumiert wird.

Das didaktische Handeln mit dem Referenzpunkt verstehen/beraten ist als hermeneutischer Prozess mit  der Fallrekonstruktion in der qualitativen Sozialforschung vergleichbar und steht vor ähnlichen Problemen. Verstehen verfolgt in beiden Fällen das Ziel, Typisches und Verall­gemeinerbares in der besonderen Handlungsproblematik des Lernenden zu finden, aus dem heraus der Fall/die Handlungsproblematik in neuer Weise verstanden werden kann. Das Ver­stehen des Selbstverständigungsprozesses ist ein abduktiver Prozess (vgl. z.B. Radtke 1985; Flick 1990; Kelle 1994), in dem die Sinnperspektiven des Lernenden mit den Sinnperspektiven des Verstehenden als Gegenhorizont verschränkt werden. Das im Ver­stehensprozess Gesuchte ist ein Begründungs- und Erklärungszusammenhang, der die Hand­lungsproblematik in ihren relevanten Aspekten verstehen lässt. Das Problem dabei ist, dass es einen prinzipiell unabgeschlossenen Raum von Gegenhorizonten (mögliche Sinn- und Bedeutungshorizonte/ Erklärungszusammenhänge) auf den Fall/die Handlungsproblematik gibt und die Relevanz der einzelnen Bedeutungshorizonte für die Begründung/Erklärung des Falles im Lehr-, Lernprozess von den Beteiligten unterschiedlich bewertet wird.

Im Unterschied zur Textrekonstruktion im Rahmen der qualitativen Sozialforschung ist der Textproduzent, der seine Handlungsproblematik erzählt, im Weiterbildungsprozess selbst anwesend. Dies hat zur Folge, dass Gegenhorizonte, also alternative Sinnperspektiven auf die erzählte Handlungsproblematik, vom Erzähler schnell als unzulässige Kritik empfunden werden. Ohne kritische Gegenhorizonte gelingt aber kein Verstehen der eingelagerten gesell­schaftlichen Strukturen im Fall. Es bliebe bei einem reinen Nachvollzug der erzählten Sinn­perspektiven in der Handlungsproblematik, was schließlich einer intentionalistischen Ver­kürzung (vgl. Hitzler u.a. 1999) der Handlungsproblematik gleich käme. Die Kritik im Verstehensprozess des Lehr-, Lernverhältnisses ist deshalb im Medium unbedingter Aner­kennung des Lernenden zu leisten, welche die Kritik in der Schwebe lässt (vgl. Straub 1999, 66). Verstehen, Kritik und Anerkennung bilden einen untrennbaren Zusammenhang in der Lernberatung.

Kritik bei gleichzeitiger Anerkennung kann gelingen, wenn kritische Gegenhorizonte auf die Handlungsproblematik als mögliche Gegenhorizonte in den Verstehensprozess eingebracht werden und nicht mit einem Wahrheits- und Durchsetzungsanspruch verbunden werden. Letzteres behindert Verstehen als Selbst- und Fremdverständigungsprozess. Die Multiper­spek­tivität, wie sie in kooperativen Lerngruppen durch die Mitarbeit mehrerer Interpreten geschaffen wird, kann ein breites Möglichkeitsfeld an Gegenhorizonten erschließen. Gegen­horizonte auf die erzählten Sinnhorizonte in der Handlungsproblematik besitzen für Lernende dann Beratungscharakter: sie können, müssen aber nicht für die Erklärung der eigenen Hand­lungsproblematik herangezogen werden. Das Lernen im Sinne einer Erweiterung/Ausdifferen­zierung bestehender Sinnhorizonte bleibt als subjektiver Prozess für Andere unverfügbar.

Lernberatung will ein intersubjektives und kooperatives Lehr-, Lernverhältnis ermöglichen (vgl. Holzkamp 1993, 528), in dem die Beteiligten versuchen, sich selbst und wechsel­seitig zu verstehen, indem sie ihre unterschiedlichen Bedeutungshorizonte auf eine Hand­lungs­problematik miteinander vergleichen und in anerkennender Weise kritisieren. Dies meint, dass die Handlungsgründe des Lernenden in einer schwierig erlebten Handlungssitua­tion einerseits anerkannt werden, andererseits aber auch in kritischer Absicht die Möglichkeit alternativer Bedeutungs-, Begründungshorizonte als Gegenhorizonte in die Lernberatung eingebracht werden.

5 Lernberatung online

Das Projekt be-online (www.projekt-be-online.de) ist Teil des Forschungs- und Entwick­lungs­programms „Lernen für den Wandel – Wandel im Lernen: Lernkultur Kompetenzent­wicklung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Ziel des Projekts be-online ist die Entwicklung eines beratungsorientierten Bildungszusammenhangs im Internet. Diese Lernberatung im Netz wird mit Blick auf Weiterbildungsträger entwickelt, die beratungs­orientierte Bildungsprozesse im Internet als ein neues Angebot in ihr Programm aufnehmen wollen. Weiterbildungsträger sollen unterstützt werden, Online-Lernberatung für Akteure in betrieblichen Modernisierungsprojekten durchführen zu können.

Das Projekt be-online wird derzeit in Bildungsstätten der Gewerkschaft ver.di umgesetzt. Bildungsteilnehmer/innen in diesen Online-Foren sind Betriebs- und Personalräte aus betrieb­lichen Modernisierungsprojekten. Die Online-Foren umfassen ca. 12 Teilnehmer/innen, die in einem Mix aus Präsenzseminaren und Onlinephasen zusammen arbeiten. Jedes Online-Forum beginnt mit einem einwöchigen  Präsenzseminar und wird dann online im Internet weiterge­führt. Insgesamt arbeitet ein Online-Forum zirka ein Jahr zusammen. Die einjährige Online­phase  wird nochmals von einem dreitägigen Zwischenseminar unterbrochen. Ziel der Online-Foren ist die zeitnahe und arbeitsplatznahe Unterstützung der betrieblichen Gestaltungs­kompe­tenz von Betriebs- und Personalräten bei der Bewältigung des betrieblichen Wandels.

Das Konzept der Online-Lernberatung hat in zentraler Weise das Bildungskonzept und Arbeits­modell „Fallarbeit“ zur Grundlage, wie es von Kurt R. Müller u.a. (1998 und 1997) entwickelt wurde[2]. „Fallarbeit“ nimmt seinen Ausgangspunkt in problematisch erlebten Hand­lungssituationen/Handlungsproblematiken einzelner Bildungsteilnehmer, die als „Fall­erzählung“ Eingang ins Seminar bzw. Online-Forum finden. Diese Handlungsproblematiken können Aktualität besitzen oder aber auch länger zurück liegen. Sie sollten in jedem Fall eine emotionale Befindlichkeit und Diskrepanzerfahrung des Fallerzählers repräsentieren, die eine Lernschleife begründen kann. Im Beispielfall Wilfried (http://www.projekt-be-online.de/projekt/realisierung/beispielfall.php) ist dies die subjektiv empfundene Konfliktlage im Projekt Wohnungsbörse zwischen dem sozialpolitischen Ziel und dem Ziel, die Interessen der betroffenen Beschäftigten zu vertreten. Wilfried wollte „am liebsten alles hinwerfen“.

Das Arbeitsmodell „Fallarbeit“ wurde für die vernetzte Arbeitssituation im Internet, in der die einzelnen Forumsteilnehmer/innen einerseits kooperierend, andererseits aber auch indivi­dueller und losgelöster vom Forum arbeiten können, zu vier Arbeitskomplexen zusammen­gefasst (www.projekt-be-online.de/projekt/konzepte/arbeitsmodell.php):

1. Arbeitskomplex: Erzählen der Fallgeschichte und Nachfragen stellen

2. Arbeitskomplex: Hineinversetzen in die Akteure der Fallerzählung

3. Arbeitskomplex: Spuren suchen und Kernthemen sammeln

4. Arbeitskomplex: Kernthemen bearbeiten und Handlungsoptionen eröffnen.

Die Lernberatung beginnt mit der Auswahl eines Falles, der zunächst vom Fallgeber erzählt und von den anderen Forumsteilnehmern/innen nachgefragt wird. In die erzählte Handlungs­problematik – hier von Wilfried - versetzen sich die anderen Forumsteilnehmer/innen aus ihren individuell verschiedenen Perspektiven hinein und eröffnen so neue, vom Fallerzähler bisher nicht erkannte Sichtweisen auf den Fall. Im dritten Arbeitskomplex wird die erzählte Handlungsproblematik unter verschiedenen Aspekten interpretiert (z.B. Handlungsgründe der Projektleitung und der betroffenen Beschäftigen, Beziehungen zwischen den Personalratsmit­gliedern sowie zur Verwaltungsleitung und zu den Beschäftigten, ökonomische und organisa­torische Strukturen in der Verwaltung usw.).  Je mehr Perspektiven auf den Fall möglich werden, um so breiter wird das Spektrum möglicher Bedeutungshorizonte auf die Handlungs­problematik aufgedeckt. Bei dieser Suche nach möglichen Lesarten des Falles ist das Ziel Viel­falt und Differenz – hergestellt durch die individuellen Perspektiven der einzelnen Forums­teilnehmer/innen, nicht Einheit und Kosens für eine „richtige“ Lesart. Es sollen möglichst viele, auch für den Fallerzähler kritische Lesarten erarbeitet werden, aus denen er später eine für sich passende Lesart auswählen kann. Die kritischen Aspekte in den alterna­tiven Lesarten zu den Handlungssituationen im Fall bleiben in der Schwebe, weil diese kritischen Lesarten nur mögliche Perspektiven auf den Fall darstellen.

Zum Ende des dritten Arbeitskomplexes werden durch den Fallerzähler zentral erscheinende Kernthemen ausgewählt, die im vierten Arbeitskomplex mit Hilfe zusätzlich eingeführten Wissens in abduktiver[3] Weise verknüpft werden. In Wilfrieds Fall waren dies verschiedene Rollenmodelle als Gestaltungsakteur in Organisationsentwicklungsprojekten. Dadurch soll die individuell erlebte, besondere Handlungsproblematik in ihren allgemeinen typischen Strukturen erkennbar werden und sich für den Fallerzähler in ihrer strukturellen Rahmung zeigen, aus der sich neue Handlungswege ableiten lassen. Durch die Verallgemeinerung der besonderen Handlungsproblematik können die anderen Teilnehmer/innen ebenfalls Einsichten in eigene schwierige Handlungssituationen gewinnen, die ähnliche Strukturen aufweisen. Am Ende dieses beratungsorientierten Bildungsprozesses werden vor dem Hintergrund der gewon­nenen Einsichten in den Fall und auf den Fall mögliche Handlungsoptionen gesammelt, die der Fallerzähler Wilfried für sein Modernisierungsprojekt mitnehmen kann. Durch neue Einsichten in die Handlungsproblematik und durch praktische Handlungsoptionen, bezogen auf die konkrete betriebliche Situation, will die Fallberatung Voraussetzungen für die Erwei­te­rung von Wilfrieds Handlungsfähigkeit schaffen.

5.1 Das Internet als günstige Voraussetzung für eine beratungsorientierte Didaktik

Die Zusammenarbeit im Internet bietet im Vergleich zum Präsenzseminar – neben Nachteilen - auch günstige Voraussetzungen für eine Lernberatung. Zu nennen ist hier zunächst die mög­li­che Aktualität in der Bearbeitung von Handlungsproblematiken. Akteure in betrieblichen Modernisierungsprojekten können sich langfristig - über ein Jahr hinweg - in einem Online-Forum als Netzwerk zusammenschließen und vergangene sowie aktuell entstehende Hand­lungs­problematiken zum Gegenstand des Online-Forums machen. Auf diese Weise wird vermieden, dass jemand für eine aktuell entstehende Lernproblematik, die in einem Projekt entsteht, ein passendes und zeitnahes Weiterbildungsangebot suchen muss – was selten gelingt.

Ein zentraler Vorteil der Online-Lernberatung ist die individualisierte und zugleich gruppen­vernetzte Arbeitsweise im virtuellen Kontext des Internets. Online-Foren bilden in doppelter Hinsicht ein Netz. Sie sind technisch über das Internet vernetzt und bilden zugleich ein Netz­werk individueller Perspektiven auf eine gemeinsame Fallgeschichte im Forum. Demgegen­über unterstützt die Gruppensituation im Präsenzseminar einen „Anschluss-Effekt“, in dessen Folge sich Interpretationen Einzelner an einer Leitinterpretation anschließen können. Im Online-Forum interpretiert zunächst jedes Mitglied die Fallerzählung für sich selbst im Aus­tausch mit dem Fallerzähler. Der/die einzelne Interpret/in hat also mehr Distanz zu den anderen Forumsmitgliedern. Die Verbindung zu den anderen Forumsmitgliedern ist zu Beginn der Fallarbeit nur punktuell gegeben. Dies unterstützt ein möglichst breites Spektrum an Interpretationen der Fallgeschichte. Erst wenn die Vielfalt der Interpretationen erarbeitet ist, wird gemeinsam das Neue und Verallgemeinerungsfähige im Fall gesucht. Der virtuelle Kontext wird so im Rahmen einer beratungsorientierten Didaktik zum Vorteil, der mehr Multiperspektivität ermöglicht. Im Rahmen einer vermittlungsorientierten Didaktik gerät die Individualisierung im virtuellen Kontext zum Nachteil, weil ein erhöhter Kontrollaufwand mit Blick auf die Aneignung der geplanten Lehrziele erforderlich wird.

Für die Lernberater/innen ergeben sich Vorteile aus der distanzierten und schriftlichen Kommu­nikation im Online-Forum (vgl. Ludwig 2002 oder Vorabdruck unter http://www.projekt-be-online.de/veroeffentlichungen/art.php?id=11). Der verstehende Zu­gang zu den Lernbegründungen der einzelnen Seminarteilnehmer/innen ist in Präsenz­seminaren für den/die Fallberater/in aufgrund der alltäglichen Kommunikationssituation im Seminar begrenzt. Relevante Bedeutungs-/Begründungshorizonte von Seminarteil­nehmer/ innen können in der Gruppenkommunikation verloren gehen. Demgegenüber liegen die Bedeutungs-, Begründungshorizonte der Forumsteilnehmer/innen in den asynchronen Forums­beiträgen schriftlich vor und können von den Online-Fallberatern/innen immer wieder neu rekonstruiert werden. Ihre Situation ähnelt hier der von Sozialforschern, die am Text­protokoll arbeiten. Durch die distanzierte Kommunikationsform wird auch die abduktive Rekonstruktion des Falles im vierten Arbeitskomplex unterstützt. Während in Präsenz­semi­naren nur solche Erklärungsfolien für die ausgewählten Kernthemen des Falles herangezogen werden können, die dem/der Fallberater/in in der Seminarsituation verfügbar sind, kann der/ die Online-Fallberater/in mittels der bestehenden zeitlichen Distanz geeignete theoretische Folien suchen, die zur Handlungsproblematik passen.

Ein weiterer wichtiger Vorteil der Lernberatung in Online-Foren ist die Transferevaluation. Fallorientierte Weiterbildung ist mit ihrem beratungsorientierten Ansatz grundsätzlich in hohem Maße transferorientiert, weil Ausgangs- und Endpunkt des didaktischen Handelns die besondere Handlungssituation des Fallerzählers ist: die Interpretation bezieht sich auf die besondere Handlungssituation und auch die Handlungsoptionen am Ende der Fallbearbeitung beziehen sich auf das weitere Handeln in der besonderen Situation. Die Transferleistung, die in vermittlungsorientierten Didaktiken der/die einzelne Bildungsteilnehmer/in vom allge­meinen Bildungsinhalt hin auf seine/ihre Praxis zu leisten hat, wird in der beratungsorientier­ten Didaktik im Seminar/Forum selbst vollzogen: Dem Fallerzähler werden mehrere Inter­pretationen seiner besonderen Situation angeboten, aus denen er auswählen kann. Im Online-Forum besteht darüber hinaus die Möglichkeit, den weiteren Verlauf des Falles zu beobachten und zu reflektieren. Wilfried kann beispielsweise nach seiner Fallbearbeitung im Forum erzählen, welche Handlungsoptionen er letztlich ausgewählt hat und wie sich der Fallverlauf weiter entwickelte. Der Transferprozess kann auf diese Weise selbst nochmals, ggf. als neuer Fall, reflektiert werden.

5.2 Probleme für eine beratungsorientierte Didaktik im Internet

Das Medium Internet bereitet einer beratungsorientierten Didaktik auch Probleme. Es lassen sich technische und didaktische Probleme unterscheiden.

Technische Probleme ergeben sich an jenen Stellen, die eine synchrone Kommunikation im Forum erfordern. Diese Anforderung stellt sich vor allem in der Nachfragephase im ersten Arbeitskomplex und in der Kernthemenbearbeitung im vierten Arbeitskomplex. Dies sind jeweils Reflexionsphasen, die einen unmittelbaren und differenzierten Vergleich und Ab­gleich der eigenen Bedeutungshorizonte mit den Bedeutungshorizonten des Fallerzählers (Arbeitskomplex 1) bzw. der anderen Forumsteilnehmer/innen (Arbeitskomplex 4) zum Ziel haben. Insbesondere die Kernthemenbearbeitung im vierten Arbeitskomplex verlangt einen Vergleich der eigenen Bedeutungshorizonte auf den Fall mit den eingebrachten allgemeinen Interpretationsfolien des/der Fallberaterin oder anderer Forumsteilnehmer/innen. In dieser Phase stellt sich für jede/n einzelnen Forumsteilnehmer/in die Frage, ob die eingebrachte Theoriefolie zur Differenzierung der eigenen Bedeutungshorizonte beiträgt, ob „ich“ also etwas im Fall lernen kann. Dieser Vergleich lässt sich asynchron im Forum kaum herstellen, weil er Sinnhorizonte und feine Nuancen zum Gegenstand hat, die im unmittelbaren Gespräch in Form wechselseitiger Nachfragen deutlicher werden als nur in vorbereiteten schriftlichen Ausführungen. Erforderlich wird an dieser Stelle eine Chat-Software, die übliche „Plauder-Funktionalitäten“ von Chats überschreitet. Sie sollte beispielsweise Meldelisten und mehrere Themenfenster umfassen, damit die Wartezeiten im Chat für themenbezogene Diskussionen in einer 12-köpfigen Gruppe nicht zu lang werden. Solche Funktionalitäten finden sich bisher nur bei Client-Server-Software, die für Online-Foren von Bildungsträgern wenig tauglich ist: Betriebe sind wegen der Forumsteilnahe einer/s Beschäftigten nicht bereit, eine gesonderte Software auf den betrieblichen Server zu legen. Web-basierte Chat-Software weist diese Funktionalitäten bisher nicht auf.

Ein zentrales didaktisches Problem resultiert aus dem emotional armen virtuellen Kontext. Die Bereitschaft, dass „ich“ mich auf ein fremdes Handlungsproblem in verstehender Weise einlasse ist im Internet geringer als in Präsenzsituationen, wo „ich“  zusammen mit dem Fallerzähler körperlich unmittelbar involviert bin. Im Online-Forum sitze „ich“ allein mit meinen Reflexionen in meinem Arbeitsraum. Die Relevanz des fremden Handlungsproblems und die Potentialität des damit verbundenen Nutzens für mich im Online-Forum konkurrieren mit meinen alltäglichen Anforderungen am Arbeitsplatz. „Ich“ muss also schon einen guten Lerngrund besitzen, um mich parallel zu meinen drängenden Alltagsanforderungen an dem kooperativen Lernprozess im Online-Forum engagieren zu können.

Ein weiteres Problem resultiert aus der Kehrseite des Aktualitätsvorteils im Online-Forum. Der Vorteil erhöhter Aktualität mündet zugleich in einen Nachteil verringerter zeitlicher Distanz zur Handlungsproblematik. Im Extremfall ist die Handlungsproblematik so aktuell, dass sie sich während der Fallbearbeitung im Zeitraum von ca. drei Wochen verändert. Dies bedeutet, dass die erzählte Handlungsproblematik ggf. plötzlich nicht mehr existiert, weil sie sich im zwischenzeitlichen Fallverlauf aufgelöst und ggf. einer anderen Platz gemacht hat. Bildung kann in ihrer beratungsorientierten Form an dieser Stelle die Grenze zum Coaching überschreiten. Dem steht die Verantwortung gegenüber den anderen Forumsteilneh­mern/ innen entgegen, die Interpretationen einbringen, um selbst verallgemeinerte Einsichten aus der Fallbearbeitung gewinnen zu können. Der kooperative Lernzusammenhang wird nur dann kooperativ empfunden, wenn Handlungsproblematiken/Lerngegenstände wechselseitig bear­beitet werden können. Eine nicht abschließbare und fortlaufende Bearbeitung einer einzelnen fremden Handlungsproblematik verhindert dies, wenn die anderen Forumsteilnehmern/innen ihren eigenen Lerngegenstand nicht bearbeiten können.

6 Forschungsperspektiven

Das Projekt be-online verfolgt einen qualitativen Forschungsansatz, mit dem die Lernbegrün­dungen und empfundenen Lernbehinderungen im Rahmen der Online-Lernberatung rekon­struiert werden können[4]. Die meisten Forschungsprojekte zum Lernen im Internet unter­suchen aus einer kognitionspsychologischen oder sozialpsychologischen Perspektive Bedin­gungen für motiviertes Handeln oder erfolgreiches Lernen im Internet. Dabei werden bei­spiels­weise verschiedene Kommunikationskanäle oder zeitliche und örtliche Kommunika­tionscharakteristika hinsichtlich ihrer Wirkung auf Motivation, Partizipation und Lernerfolg untersucht.

Im Projekt be-online stehen statt solcher Bedingungen für Lernen die subjektiven Lern­begründungen und die von den Forumsteilnehmer/innen subjektiv empfundenen Lernbehin­derungen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Erstens wird nach dem Verhältnis von Alltagshandeln und Lernhandeln gefragt. Dazu zählen Fragen nach typischen Lernbegrün­dungen für eine Teilnahme an Online-Foren, Fragen nach der Gestaltung alltäglicher Anforderungen am Arbeitsplatz in Verbindung mit Reflexionsanforderungen im Online-Forum und schließlich Fragen nach dem Transfer in die Organisation hinein: Wie gehen Forumsteilnehmer/innen mit ihren neu gewonnen Einsichten in ihren Betrieben um bzw. welche typischen Umgangsweisen lassen sich rekonstruieren? Ein zweiter Fragenkomplex richtet sich auf das beratungsorientierte Lehr-, Lernverhältnis im Online-Forum. Hier wird nach der subjektiven Befindlichkeit in den jeweiligen Fallbearbeitungen, nach dem indivi­duellen Lernverlauf und der dabei erreichten Tiefe des Gegenstandsaufschlusses gefragt. Ein dritter Fragenkomplex zielt auf die pädagogisch-professionellen Anforderungen und Möglichkeiten für Online-Fallberater/innen. Im Mittelpunkt stehen hier Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen des Sinnverstehens in Online-Foren.

Literatur

Benner, D. (1995): Studien zur Theorie der Erziehung und Bildung. Pädagogik als Wissen­schaft, Handlungstheorie und Reformpraxis. Weinheim: Beltz.

Flick, U. (1990): Fallanalysen: Geltungsbegründung durch Systematische Perspektiven-Tri­angulation. In: Jüttemann, G. (Hrsg.): Komparative Kasuistik. Heidelberg: Asanger, 184-203.

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[1] Damit verbunden ist die Annahme, dass sich „der Mensch nicht bewusst selbst schaden kann“ (Holzkamp 1995,  839).

[2] Vgl. auch www.unibw-muenchen.de/campus/Paed/we2/ep/fallarbeit/index.htm

[3] Abduktion bezeichnet in Anlehnung an Ch. S. Peirce einen logischen Schluss, der zwischen deduktivem und induktivem Schluss liegt. Die Abduktion schafft Neues, indem sie materiell reiche Beobachtungen mit formalen Theorien verknüpft und nicht das eine aus dem anderen ableitet, das Fremde immer schon unter Bekanntes subsumiert.

[4]  Zur Rekonstruktion von Lernbegründungen und Lernbehinderungen in betrieblichen Modernisierungsprojekten vgl. Ludwig 2000.