bwp@ Ausgabe 2 - Mai 2002

Lernen in Netzen - Aufgaben für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik

Hrsg.: Karin Büchter & Franz Gramlinger

Lernen in Netzen – Einige neuralgische Punkte und offene Fragen in der berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskussion

Beitrag von Karin Büchter & Franz Gramlinger

Trotz der Fülle an Publikationen zum Thema „Lernen in Netzen“ steht die Debatte erst am Anfang; die meisten sowohl konzeptionellen als auch empirischen Beiträge werfen wiederum neue Diskussionsfragen auf und benennen künftige Forschungsfelder. In diesem Beitrag werden zunächst die Hauptthemen der berufs- und wirtschaftspädagogischen Auseinander-setzung mit Lernen in Netzen skizziert. Zu denen gehören: Merkmale, Potenziale und Nutzung Neuer Medien in beruflichen Lehr- und Lern-prozessen, Veränderung von durch elektronische Medien gestützten Lernkulturen, Gestaltung und Arrangements von Lernumgebungen und Anforderungen an die Akteure zur Begleitung, Beratung und Steuerung von Lernen in Netzen. Vorrangig geht es aber um Folgendes: Innerhalb dieser thematischen Bandbreite tauchen bestimmte neuralgische Punkte, wie zum Beispiel das „spannende“ Verhältnis zwischen Ökonomie und Pädagogik beim Einsatz Neuer Medien in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, gestellte Fragen, wie die nach dem „Bildungswert“ von E-Learning und zu dessen Förderung notwendigen Voraussetzungen und Bedingungen, aber auch nicht-gestellte Fragen, wie die nach den konkreten Gegenständen bzw. Inhalten, also nach dem Was, die einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Gestaltung von E-Lehr-Lern-prozessen haben dürften, regelmäßig auf.

1 Einführung

Mit „Lernen in Netzen“ ist Unterschiedliches gemeint. Innerhalb der Berufsbildungsdiskus­sion finden wir diese Formulierung auf mindestens drei Ebenen:

1. der interinstitutionellen,

2. der intrainstitutionellen oder organisationalen und

3. der informations- und kommunikationstechnischen.

Ad 1.: Auf interinstitutioneller Ebene bezeichnet Lernen in Netzen einen Austausch von Informationen insbesondere zum Zweck der Entscheidungs- und Handlungskoordination zwischen unterschiedlichen Institutionen bzw. Akteuren, beispielsweise der beruflichen Bildung. Die Idee der interinstitutionellen Vernetzung spielt vor allem in der Theorie und Praxis regionaler Berufsbildung seit den 80er Jahren eine besondere Rolle. Ein wesentlicher Anstoß hierfür war die damals verstärkt geführte Diskussion um „Regionalisierung der Strukturpolitik", in der Qualifizierung als „immaterieller Standortfaktor“ oder „endogenes Entwicklungspotenzial“ innerhalb der Region charakterisiert wurde. Eine Förderung der Regionalentwicklung durch Berufsbildung, so der Tenor, setze eine an regionalen Leitbildern orientierte Kooperation oder Vernetzung unterschiedlicher regionaler berufsbildungsrele­vanter Akteure oder Institutionen voraus. Spätestens mit dem BMBF-Programm, „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“ (BMBF 2000), und der bis zu diesem Zeitpunkt bereits weit verbreiteten Idee von der lernenden Gesellschaft wurde „Lernen in Netzen“ zu einer Leitfigur regionaler Berufsbildungspolitik.

Ad 2: Darüber hinaus ist Lernen in Netzen ein Inbegriff für Organisationsentwicklung. Inspiriert durch die betriebswirtschaftliche Organisationstheorie ist auch in Teilen der betrieblichen (Weiter-)Bildungsdiskussion seit den 80er Jahren an die Stelle des Bildes von der Organisation als bürokratischem Ordnungsgefüge das eines „evolutionären Systems“ getreten. Der Fokus richtet sich hierbei weniger auf die Gestaltung von Organisationen, als vielmehr auf Prozesse ihrer Eigendynamik und Selbstorganisation, die es zu initiieren und zu ermöglichen gilt. Umweltanpassung, Leistungsoptimierung, Wissenserweiterung und –trans­formation sind zentrale Schlagworte in entsprechenden Konzeptionen zum organisationalen Lernen (vgl. Hanft 1997). Das die Organisation tragende Ensemble von Individuen soll zum ständigen selbstorganisierten Lernen und zum Austausch von Wissen angeregt werden. In diesem Zusammenhang erhalten auch das informelle Lernen im Betrieb und am Arbeits­platz ihre Relevanz für die Unternehmensentwicklung – und zwar mit Hinweis auf die Mög­lich­keit der Wissenstransparenz, -transformation und -nutzung via Kommunikation. Das prominenteste Medium zur Unterstützung des Lernens in organisationalen Netzen ist dem­zufolge der Computer.

Ad 3.: Lernen in technischen bzw. virtuellen Netzen gehört derzeit zu den rationalsten For­men der Wissensaneignung. Als wesentliche Vorteile dabei gelten, dass von beliebigen Orten aus und zu jeder Zeit auf abgestelltes Wissen zugegriffen werden kann, Lernmate­rialien abge­rufen werden können, eigenes Wissen angeboten, trotz räumlicher Distanz Fragen gestellt und beantwortet werden usw. Im Glossar des Handbuchs E-Learning (HOHENSTEIN/WIL­BERS 2002) wird unter dem Stichwort „E-Learning“ darauf verwiesen, dass im Gegen­satz zum ursprünglichen Sammelbegriff für alle Formen elektronisch unterstützten Lernens heute bei­nahe ausschließlich Internet- bzw. Intranet-basiertes Lernen gemeint ist, wenn von E-Lear­ning die Rede ist. Das Potenzial bzw. die Möglichkeiten, nicht nur Rechner miteinander zu vernetzen oder den Lernenden über Netze Informationen besser, schneller, umfassender und billiger zugänglich zu machen, sondern auch Lernende und Lehrende sowie Lernende mit Lernenden zu „vernetzen“ – dieses Potenzial wurde zwar bereits - in erster Linie von markt­wirt­schaftlich und profit-orientierten Institutionen – erkannt, allerdings noch sehr wenig effektiv genutzt (vgl. dazu den Beitrag von EULER in dieser Ausgabe). Bildungsinstitutionen auf allen Ebenen – von der Volksschule bis zur Universität, von teuren Privatinstituten bis zur Volkshochschule – sind gerade dabei, „auf diesen Zug aufzuspringen“, wobei nach wie vor Kosten- und Effizienzgründe plus „die Zeichen der Zeit“ weit vor pädagogisch-didakti­schen Überlegungen und Begründungen rangieren. Theoretische Ansätze zu Themen wie Know­ledge Building Communities (die Gruppe um Scardamalia & BEREITER in Toronto), Learning Communities oder CSCL (computer-supported collaborative learning) weisen allerdings darauf hin, dass sich die Wissenschaft – zumindest im englischen Sprachraum - dieser Potenziale sehr wohl bewusst ist.

In der deutschsprachigen Berufsbildungsdiskussion spiegelt sich die zunehmende Bedeutung von Internetlernen in der Praxis in einer allmählich wachsenden Anzahl von – vor allem auch anwendungsbezogenen – Publikationen wider, in denen es in erster Linie um folgende Themen geht:

  • Potenziale des Internets für berufliche Lehr-Lernprozesse
  • Veränderung von Lernkulturen
  • Relation von Selbstorganisation und Kooperation beim Internetlernen
  • Sozialformen beim Internetlernen
  • Möglichkeiten und Voraussetzungen zur Gestaltung von Lernumgebungen
  • Lernportale und Lernplattformen
  • unterschiedliche Formen des Lernens
  • synchrone, asynchrone und Misch-(Hybrid-)formen der zeitlichen Gestaltung
  • tutorielle Betreuung
  • Qualitätskriterien
  • Kompetenzen zur Begleitung, Beratung und Steuerung des Lernens in Netzen

Im Folgenden werden wir uns auf die dritte Variante des Lernens in Netzen, also das Lernen im Internet konzentrieren, möchten aber nicht unerwähnt lassen – auch um unsere obige Differenzierung der drei Ebenen des Lernens in Netzen zu begründen - dass uns der Gedanke beschäftigt, das interinstitutionelle, organisationale und informations- und kommunika­tions­technische Lernen in deren Kohärenz zu begreifen und zu erforschen. Theoretische und empirische Auseinandersetzungen hierzu, etwa fallbezogene, stehen noch aus. Während sich die unmittelbaren Zusammenhänge dieser drei Ebenen theoretisch noch relativ leicht konstru­ieren lassen, dürfte eine empirische Rekonstruktion realer horizontaler (auf den einzelnen Ebenen) und vertikaler Prozesse (zwischen den einzelnen Ebenen) ein höchst kompliziertes methodisches Vorgehen erfordern. Dies wollen wir an anderer Stelle weiter thematisieren und kommen nun zu unseren eigentlichen Fragen.

2 Zu den neuralgischen Punkten und offenen Fragen

Zwar hat sich Deutschland – erst in den letzten Monaten – innerhalb Europas zu einer der führenden Nationen hinsichtlich privater und kommerzieller Nutzung des Internets ent­wickelt und auch verschiedenste Initiativen wie Schulen-ans-Netz oder Initiative d21 scheinen Erfolg hinsichtlich der (lokalen) Internetanbindung von Bildungseinrichtungen zu zeitigen. Verfolgt man allerdings die theoretische Diskussion und die praktische Realisierung netzbasierten Lernens und Lehrens in der Bildungsland­schaft Deutschlands und vergleicht das mit Berich­ten aus Kanada, Australien, den USA oder den skandinavischen Ländern, so scheint hierzu­lande alles etwas vorsichtiger, bedächtiger, nach gründlicher Abwägung und Diskussion – oder einfach schleppender vor sich zu gehen (vgl. Gramlinger 2002).

Diskussionen zum Thema E-Learning  – zumal erziehungswissenschaftliche bzw. berufs- und wirtschaftspädagogische, ebenso wie erwachsenenpädagogische – kreisen in der Regel um bestimmte, immer wieder auftretende Grundsatzfragen, die – wenn nicht expliziert – sich unterschwellig durch eine ganze Debatte ziehen können.

Fünf dieser Fragestellungen wollen wir im Folgenden versuchen zu pointieren, und zwar die Fragen nach

  1. dem Technikverständnis, genauer: dem Technikbild
  2. der Vereinbarkeit ökonomischer und pädagogischer Maxime
  3. dem „Bildungswert“ des Internets
  4. den konkreten Lehr-Lerninhalten
  5. der Verortung der Auseinandersetzung mit E-Learning innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik.

2.1 Technikbilder in der Diskussion um E-Learning

In seiner Abhandlung über „Technikbilder“ hat Huber (1988) zwischen zwei Grundhaltun­gen differenziert: einer „eutopen“ und einer „dystopen“. Basierten eutope Technikbilder auf neuzeitlichen Leitbildern des Rationalismus und Humanismus und unterstellten dank der techni­schen Entwicklung einen sukzessiven Fortschritt in den unterschiedlichen gesellschaft­lichen Bereichen, präsentierten dystope Technikbilder quasi das komplementäre Gegenstück: mit ihnen würden Fortschrittsskepsis und Schreckensvisionen über die technologische Ent­wicklung verbreitet. Beide Bilder finden sich in der Diskussion um Computerisierung – wie dies Huber anhand der unterschiedlichen Einsatzbereiche verdeutlicht (61ff.) – ebenso wie innerhalb der Debatte um das Internet und das Internetlernen wieder. So steht der euphori­schen Einstellung zu den Informations- und Kommunikations-Technologien (IKT) bzw. dem Internet, nach der diesem eine Schlüs­sel­rolle in der Wissensgesellschaft zugeschrieben wird, da es von traditionellen Lernein­schrän­kungen befreie und jedem die Chance eröffne, an der Vermehrung und Verbreitung von Wissen im Sinne des individuellen Weiterkommens und des gesellschaftlichen Fort­schritts teilzuhaben, die pessimistische Vorstellung vom Computer/Internet als Instrument zur Förderung geistiger Verarmung, sozialer Isolation, von Kontrolldefiziten über Wissensinhalte angesichts der Fülle an Informationen etc. gegenüber. Nicht der Mensch kommuniziere mit­tels der Technik, sondern die Technik, selber zum Subjekt geworden, übernehme zunehmend menschliche Verantwortung: „Es sind primär technische Systeme, Geräte, nicht Personen, welche Informationen [...] austauschen, deren Bedeutung in wachsendem Maße nur in einer Auflösung apparativer Funktionen liegt, also dem technischen System immanent bleibt [...] Das Veränderungspotential wird nicht mehr primär im Menschen, sondern in der von ihm hervorgebrachten Technik gesehen, die ‚sich’ entwickelt, gesellschaftliche Veränderungen bewirkt und schließlich sogar die Ziele für die Entwicklung der Menschen vergibt“ (Sesink 1998, 82).

Zwischen diesen beiden polaren und auf dem entsprechenden Kontinuum anzusiedelnden unterschiedlichen Mischformen in der Einstellung zu Computer und Internet kann nicht mit der Frage nach richtig oder falsch entschieden werden, auch hier gibt es keine absolute Bestimmung. Vielmehr bieten solche konträren Positionen die Ausgangsbasis für kritisch-konstruktive Reflexionen. Oder mit Marotzki (2000, 254): „Zwischen einer uniformierten Ablehnung des Internets in einer bewahrpädagogischen Tradition, die sich oftmals einer kulturkritischen Perspektive bedient, und einer unkritischen Euphorie im Sinne einer Techno­logie-Affirmation kann das Projekt einer erziehungswissenschaftlich orientierten Internet­kritik systematisch angesiedelt werden.“ Beispielsweise geben solche unterschiedlichen Positionen Aufschluss über die jeweils daran geknüpften sozialen Interessen und die den Technikbildern korrespondierenden Gesellschafts- und Menschenbildern und ihren sinnver­mittelnden bzw. orientierenden Funktionen, die jeweils wiederum entwicklungs­hemmend oder -fördernd wirken können.

Symptomatisch ist – und dies gilt für beide Extrempositionen – deren technisch-deterministi­sche Implikation, d.h. die Entwicklung der IKT und die sukzessive Veralltäglichung des Inter­nets werden als immanente Folgen eines eigendynamisch verlaufenden Entwicklungs­pro­zesses gedeutet - mit jeweils unterschiedlichem Ausgang. Vergessen wird dabei zuweilen, dass der Computer, das Internet im Grunde völlig trivial sind, sie selber haben weder Wissen noch sind sie eine Welt für sich. „Sie bestehen nur aus Daten, die wir uns erst zu Informa­tionen gestalten“ (Koring 2000, 144). Die hohe Relevanz dieses Mediums ist eine durch und durch sozial konstituierte – eine banale und alte Feststellung, die aber dazu auffordert, technische Instrumente in ihrer Historizität und sozialen Gestaltbarkeit zu begreifen.

Die Frage, die sich aber dann hieraus ergibt ist, was bedeutet Gestaltung von Technik in die­sem Zusammenhang genau? Wie ist die Gestaltbarkeit von Computer und Internet vorstell­bar? Bezieht sich diese lediglich auf die unterschiedlichen Formen der Nutzung, die vom einfachen Datenabruf bis hin zur Interaktion und Zusammen­arbeit via Internet reichen kön­nen? Anders gefragt: Welche Möglichkeiten der IuK-Technik­gestaltung haben Berufs- und Wirtschaftspädagogen, Lehrer, Studierende, Schüler beispiels­weise? Wo liegen Anknü­p­fungs­punkte, welches sind Grenzen und Bedingungen?

2.2 Vereinbarkeit ökonomischer und pädagogischer Maxime

Darüber, dass der Einsatz multimedialer und telekommunikativer Medien in Lehr-Lern­prozessen, zumal betrieblichen, ökonomischer Rationalisierungslogik folgt, besteht in der Literatur kaum Dissens. Mediengestütztes Lernen könne hervorragend selbstorganisiert verlaufen, direkte und indirekte Kosten für Weiterbildungsseminare und der damit verbun­dene Arbeitsausfall könnten eingespart werden, weniger produktive Phasen während der Arbeit könnten zu Lernzwecken genutzt werden: da „Leerzeiten“ zu „Lehrzeiten“ (vgl. Euler in dieser Ausgabe) werden, die Verteilung von Wissen könne viel rascher erfolgen als mit traditionellen Mitteln, Lernen könnte viel bedarfsgerechter statt finden. Vor allem drängen elektronische Medien, so resümiert Euler (in dieser Ausgabe), „auf den Bildungs­markt, wenn sie einen ökonomischen Erfolg versprechen“, und: „Ein ökonomischer Erfolg ist dann zu erwarten, wenn die neuen Produkte [...] einen Mehrwert gegenüber den vorhandenen bieten“. Gleichzeitig – und hiermit wird eine vermeintliche Konvergenz ökonomischer und pädagogischer Rationalität beim Einsatz Neuer Medien unterstrichen – werden den neuen Medien didaktische Potenziale nachgesagt, die es zu nutzen gelte.

Dass aber zur Herstellung von einer Konvergenz ökonomischer und pädagogischer Ratio­nalität didaktische Kreativität alleine nicht ausreicht, sondern über die Prozesse auf der unmittelbaren Ebene der Gestaltung und Durchführung von Lehr-/Lernprozessen eine Reihe weiterer Fragen wie die nach Einstellung, Erfahrung und Motivation der Lernenden (Klau­ser/Kim/Born in dieser Ausgabe), nach den Fähigkeiten der E-Lehrenden (Euler in dieser Ausgabe), der tutoriellen Betreuung (Tenberg in dieser Ausgabe), der beratenden Dienstleistungen (Ludwig in diesem Band) und des supports durch andere kooperierende regionale Berufsbildungsein­richtungen (Wilbers in dieser Ausgabe) zu klären sind, ist hier deutlich geworden.

Die Wahrung pädagogischer Standards, die also nicht allein mit einer Didaktisierung des unmit­tel­baren Lehr-Lernprozesses erledigt ist, sondern zu denen nicht zuletzt die gleiche Vertei­lung von Wissen bzw. den Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten, die Dokumentation der berufsbiographischen Verwertbarkeit des Gelernten gehören sollten, die also eine Reihe materi­eller, institutioneller, personeller und zeitlicher Ressourcen und Kapazitäten voraus­setzt, erfordert aber einen Aufwand, der dem ökonomischen Interesse an einer raschen und mög­lichst kostengünstigen Mitarbeiteranpassung zuwiderlaufen kann. Hier stellt sich die Frage nach der Sicherung pädagogischer Standards. Theoretisch könnten Quali­tätskriterien eine Möglichkeit sein, pädagogische Ansprüche an E-Learning-Prozesse fest­zu­schreiben. Darüber, inwieweit und in welcher Relation ökonomische und pädagogische Maxime beim E-Learning tatsächlich realisiert werden, könnten Evaluationen des E-Lear­nings Aufschluss geben (vgl. Severing et al. 2001, 142f). In der Praxis erweist sich die Evaluierbarkeit von online-Lehr-Lernprozessen jedoch als äußerst schwierig (Kraft 1999, 176). Auseinander­setzungen mit „Möglichkeiten und Grenzen der Evaluation multimedialer und telekommuni­kativer Lehr-Lernarragements“ (Euler 1999) stehen nach wie vor am Anfang.

2.3  „Bildungswert“ des Internets

Im Kontext der Frage nach den pädagogischen Maximen stellt sich auch die Frage nach dem „Bildungswert des Internets“ (Marotzki/Meister/Sander 2000), die ihrerseits unmit­telbar zu der Frage führt, was ein „Bildungswert“ ist und damit, was Bildung ist. Nach tradi­tioneller und (noch gültiger) bildungstheoretischer Auffassung entspricht der gebildete Mensch „dem moralisch Richtigen und Gerechten nicht bloß im Gehorsam gegenüber den Konventionen, sondern nach selbständiger Prüfung der Ansprüche und Entscheidungssitua­tionen. Auf die objektiven Bedingungen der Welt bezieht er sich nicht mit einer subjektiven Meinung, er verfügt über reflektierte, gut mit Bezug auf den Wahrheitsanspruch begründete Urteile. Er ist nicht abhängig von Moden, sondern vermag sicher seine Geschmacksurteile zu treffen“ (Gruschka 1998, 99). Nicht nur aufgrund der Elastizität dieser Definition, son­dern auch aufgrund der Schwierigkeit bei der Einschätzung von Wirkungen und der Kontu­rierung des gesamten Mediums Internet und seiner pädagogischen Substanz lässt sich schwer messen, ob eine so verstandene Bildung bzw. ein entsprechender „Bildungswert“ dem Inter­net innewohnt oder nicht. Bei der Frage nach dem Bildungswert des Internet finden sich an den jeweiligen Enden eines Kontinuums von unterschiedlichen Einschätzungen polare Deutungen, von denen die eine jeglichen Bildungswert des Internets verneint, da es nur um eine unverzügliche Anpassung an technisch determinierte Anforderungen gehe, die keine Zeit für intensive Auseinandersetzungen und Reflexionen der Welt, der Gesellschaft und des Selbst mehr übrig lasse, gefragt sei der schnelle Anwender, der Reagierende, und schließlich verkomme die Frage nach dem Bildungswert ohnehin zunehmend; die andere betont – mit Hinweis auf die vielfältigen technischen Gestaltungsspielräume - die prinzipiellen Möglich­keiten zur Bildung – und zwar eher Sinne eines anything goes: „Der anarchistische Ansatz des Internets, nämlich ohne staatliche Reglementierung auszukommen, bildet ein Milieu, in dem man ein freies Verhältnis zur medial vermittelten Welt über den Weg des entdeckenden Lernens entwickeln kann. Die Computertechnologie ermöglicht im Feature Internet eine chaotische Lernumgebung von höchster Aktualität, sie ermöglicht aber auch das bewusste Arrangement von Lernumgebungen“ (Meder 2000, 38; Herv. i.O.).

Letztendlich ist es müßig, die Frage, ob das Internet einen Bildungswert hat oder nicht, beant­worten zu wollen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Computer, das Internet sui generis keinen Bildungswert haben, und dass ein suggerierter in seinen Gehalten und Aus­maßen sozial konstruiert ist.

Bei der Analyse des Bildungswertes von Internet sind abgesehen von der pädagogischen Qualität von Lernumgebungen, -formen und -supports eine Reihe unterschiedlicher Aspekte zu berücksichtigen, von denen hier zunächst nur zwei genannt werden sollen: Hierzu gehört der Aspekt der Virtualität: Marotzki (2000) spricht von einer „Virtualitätsverlagerung“ und meint mit diesem Begriff, „dass Menschen offline ein Leben in sozialen Räumen organi­sieren und viabel gestalten und dass sie parallel dazu beginnen, ein Leben online in digitalen Welten zu gestalten“ (245; Herv. i.O.). Der Befürchtung, dem häufigen Aufenthalt in digita­len Welten stehe eine Vernachlässigung der realen Lebenswelt gegenüber, entgegnet Marotzki mit dem Hinweis darauf, dass die Virtualitätslagerung durchaus zu einer „Poly­perspektivität“ und vieldimensionaler Reflexivität beitragen könnte. Aber: „Die pädagogische Nutzung des Internets – sei es in lern- oder bildungstheoretischer Hinsicht – setzt eine Ab­schät­zung der Reichweite dieses neuen öffentlichen Raums voraus. Eine Sondierung hinsicht­lich der Einschätzung, ob es sich um einen herrschaftsfreien Raum handelt oder wie er kolo­niali­siert wird, ist vonnöten“ (254).

Der Bildungswert des Internets misst sich – wie bei traditionellen Medien auch – daran, in­wie­­weit komplexe Sachverhalte von den Lernenden tatsächlich entschlüsselt, zur Lösung von Problemen herausgefordert und metakognitive Reflexionen gefördert werden – anstatt  flüch­tiges Wissen einfach nur abrufen und sammeln zu lassen. Ferner korreliert der Bildungs­wert des Internets mit den in den Informationen enthaltenen Implikationen, wie Gesell­schafts- und Menschenbilder, ebenso wie mit der Art und Weise, wie Informationen didak­tisch aufbereitet und präsentiert werden.

Zentral für die Frage nach dem Bildungswert ist zudem nicht nur, zu wissen, wie, womit und wodurch gelernt wird, sondern vor allem auch was gelernt wird.

2.4 Die Inhaltsfrage

Während die Frage nach den geeigneten Lernumgebungen und -formen in der erziehungs­wissenschaftlichen bzw. berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskussion um E-Learning eine relativ bedeutende Rolle spielt, bleibt die Frage nach den konkreten Inhalten weitgehend unterbelichtet. Eine Abstrahierung von der Inhaltsfrage, genauer: von der Auswahl, Begrün­dung und Anordnung von Lerninhalten in Lehr-Lernprozessen zeigt sich im übrigen auch in der sich spätestens seit den 70er Jahren stärker auf die Methodenfrage kon­zentrierenden berufs- und wirtschaftspädagogischen Curriculumforschung und –diskus­sion. Ursache oder Folge hiervon ist ein sich Voneinanderwegbewegen von Qualifikations- und Curriculum­forschung – oder wie Huisinga (2002) formuliert, eine „Diskontinuität und Segmentation des Zusammenhangs von Qualifikations- und Curriculumforschung“.

Inhalte spielten bei der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen eine entscheidende Rolle, auch oder gerade im Zusammenhang mit der Frage nach Möglichkeiten der Entwicklung von extra­funktionalen Kompetenzen. Aus der Bildungstheorie ist bekannt, dass „(berufliche) Bildung [...] nicht nur formale Bildung, und zwar auch dort nicht [ist], wo es sich um die Heraus­bildung von Sozial- und Selbstkompetenz, also um ‚Subjektbildung’ handelt. Selbst­ständig­keit, kritische Distanz, Autonomie und Handlungskompetenz erschöpfen sich nicht in den Lernformen, sondern setzen die inhaltliche Auseinandersetzung mit den bereits bekann­ten Gegenständen voraus, die Begrenzungen, Vereinseitigungen, neue Risiken und neue Hierar­chisierungen hervorrufen“ (Rützel 1998, 47). Folglich können sich Auseinander­setzungen mit der Frage nach den Kompetenzen für und durch E-Learning nicht nur auf Methoden­kompetenzen, etwa auf das Handling der Technik und den Umgang mit der Vielfalt an Informationen im Internet – deren bzw. dessen Relevanz für einen souveränen Umgang mit dem Computer keinesfalls relativiert werden soll – konzentrieren. Auch wenn es heißt, extra­funktionale Kompetenzen, zumal Problemlösungswissen, seien mittlerweile mindestens genauso bedeutsam wie Faktenwissen, bleibt letzteres eine zentrale Basis für kompetentes und souveränes Handeln.

Allein aus den oben genannten Gründen ergibt sich u.E. die Notwendigkeit, die Frage nach dem Umgang mit der konkreten, fachbezogenen Inhaltlichkeit bei Auseinandersetzungen mit E-Learning innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu präzisieren.

2.5 Berufs- und wirtschaftspädagogische Verortung

Als letzte möchten wir die Frage nach dem Stellenwert der Debatte um E-Learning innerhalb der berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskussion aufwerfen. Zwar lässt sich in den letzten Jahren eine zunehmende Hinwendung zu dieser Thematik feststellen, gleichzeitig haben diese Auseinandersetzungen innerhalb der Disziplin eher noch punktuellen bzw. Segmentcharakter. Um eine Verbreitung der Beschäftigung mit E-Learning innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik voranzutreiben, wäre zunächst eine Systematisierung relevanter Forschungsfragen im Bereich des E-Learnings hilfreich, um Zuordnungen wie etwa zur Institutionen-, Professionalisierungs-, Curriculum-, Lehr-Lern-Forschung usw. vor­nehmen zu können. Auch würde sich in diesem Zusammenhang die Frage der multi­diszipli­nären Ausrichtung von Diskussionen und Forschungsvorhaben stellen. In ihrer „Berichterstattung über Berufsbildungsforschung“ differenzieren van Buer/Kell (2000) zwischen wissen­schaftsbezogenen und bereichsbezogenen Verflechtungen in der Berufsbildungsforschung. Fragen des Internets, seiner gesellschaftlichen Bedeutungen und Voraussetzungen, können und werden einmal in den die Berufsbildungsforschung bzw. Berufs- und Wirtschaftspäda­go­gik betreffenden unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen behandelt (wie in der Arbeits­wissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Psychologie, der Anthropologie), und gleichzeitig in den unterschiedli­chen benachbarten Forschungsbereichen (wie in der Biographie-, Berufs-, Arbeits­markt-, Hochschul-, Frauen-, Jugend-, Erwachsenenbildungs- und Bildungsforschung) thematisiert. In den unterschiedlichen Disziplinen und Forschungsbereichen werden Fragen gestellt, Per­spek­tiven entwickelt und Untersuchungen durchgeführt, die auch für die Weiterent­wicklung der berufs- und wirtschaftspädagogischen Auseinandersetzung mit Lernen in Netzen ertragreich bzw. inspirierend sein können.

3 Schluss

Das Thema „Lernen in Netzen“ – das haben unsere Erfahrungen gezeigt – wirft in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik umso mehr Fragen auf, je intensiver die Diskussionen darum ge­führt werden. Einige haben wir nur angerissen. Darüber, welche Theorien konstruiert, welche Konzeptionen entwickelt, welche Untersuchungen mit welchen Fragestellungen und metho­dischen Zugängen in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik bzw. in den für sie relevanten Nachbarbereichen durchgeführt werden, gibt es derzeit keinen Überblick – etwa in Form einer Datenbank. Eine solche Systematisierung könnte aber beispielsweise nicht nur dem Aus­tausch dienen, sondern auch eine Grundlage dafür sein, das Forschungsfeld aus der Sicht der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu konturieren und zu vermessen, um so Fragen zu prä­zisieren, Forschungsbedarfe zu definieren und Reformvorschläge zu formulieren.

Wir haben mit Hinweis auf die anderen Beiträge in dieser Ausgabe darauf aufmerksam ge­macht, dass sich die Diskussion um E-Learning nicht allein auf Lehr-Lernprozesse reduzieren sollte, sondern neben den subjektiven Voraussetzungen, den vorhandenen Ressourcen und Kapazitäten auch die kontextuellen Bezüge in Schule und Betrieb zu berücksichtigen sind. Darüber hinaus spielt dann auch das, was Wilbers (in dieser Ausgabe) als „zweite Stoß­richtung“ bezeichnet hat, eine Rolle, nämlich das „Lernen in sozialen und institutionellen Netzen“. Mit einer ähnlichen Überlegung hatten wir eingangs von einer Kohärenz von inter­institutionellem, organisationalem und informations- und kommunikationstechnischem Lernen gesprochen.

Literatur

Buer, J. v./ Kell, A. (2000): Wesentliche Ergebnisse des Projektes „Berichterstattung über Berufsbildungsforschung“ – Thematische, institutionelle und methodologische Analysen und Kritik. In: Kaiser, F.-J. (Hrsg.): Berufliche Bildung in Deutschland für das 21. Jahrhundert. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. BeitrAB 238. Nürnberg, 47-74.

BMBF - Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.) (2000): Lernende Regio­nen – Förderung von Netzwerken. Bonn.

Euler, D. (1999): Möglichkeiten und Grenzen der Evaluation multimedialer und telekom­mu­ni­kativer Lehr-Lernarrangements. In: Arnold, R./Gieseke, W. (Hrsg.): Die Weiter­bil­dungsgesellschaft. Bd 1: Bildungstheoretische Grundlagen und Analysen. Neuwied, 205-220.

Gramlinger, F. (2002): Nutzung des Internets in der Lehre: Konzeptionelle Vorarbeiten und erste Erprobungen, um neben der Informationskomponente verstärkt Kommunikation
und Kooperation im Sinne des "collaborative learning" einzusetzen. In: REINISCH H./ BADER R./STRAKA G.A. (Hrsg.): Modernisierung der Berufsbildung in Europa. Neue Befunde der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung. Opladen, 73-86.

Gruschka, A. (1998): Funktionalisierung von Mündigkeit. In: Rützel, J./Sesink, W.  (Hrsg.): a.a.O., 99-116.

Hanft, A. (1997): Personalentwicklung zwischen Weiterbildung und „organisationalem Lernen“. München/Mering.

Hohenstein, A./wilbers, K. (hrsg.) (2002): Handbuch E-Learning. Köln

Huber, J. (1988): Technikbilder, Weltanschauliche Weichenstellungen der Technolgie- und Umweltpolitik. Lengerich.

Huisinga, R. (2002): Zur Diskontinuität und Segmentation des Zusammenhangs von Qualifikations- und Curriculumforschung aus dem Blickwinkel der Bildungsforschung. Manuskript. Diskussionspapier. Universität Gesamthochschule Siegen.

Koring, B. (2000): Probleme internetbasierter Bildung. Untersuchungen über den Zusam­men­hang zwischen Bewusstsein, Lernen, Information, Bildung und Internet. In: Marotzki, W. u.a.(Hrsg.): a.a.O., S. 137-158.

Kraft, S. (1999): „Lernen mit dem Computer?“ Ergebnisse einer Mitarbeiterbefragung zur Nutzung betrieblicher Selbstlernzentren und zur Beurteilung computerunterstützten Lernens. In: Sloane, P./Bader, R./Straka, G.A. (Hrsg.): Lehren und Lernen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Opladen, 175-184.

Marotzki, W. (2000): Zukunftsdimensionen von Bildung im öffentlichen Raum. In: Marotzki, W. u.a.(Hrsg.): a.a.O., 233-258.

Marotzki, W./Meister, D.M./Sander, U. (Hrsg.) (2000): Zum Bildungswert des Internet. Opladen.

Meder, N. (2000): Wissen und Bildung im Internet – in der Tiefe des semantischen Raumes. In: Marotzki, W./Meister, D.M./Sander, U. (Hrsg.): a. a. O., S. 33 - 58

Rützel, J. (1998): Integration und Ausgrenzung durch neue Formen der Arbeit. In: ders./Sesink, W. (Hrsg.): a.a.O., 27–50.

Rützel, J./Sesink, W. (1998) (Hrsg.): Bildung nach dem Zeitalter der großen Industrie. Jahrbuch für Pädagogik. Frankfurt a.M. u.a.

Sesink, W. (1998): Bildung für die „Informationsgesellschaft“. In: Rützel, J./ders. (Hrsg.): a.a.O., 81-97.

Severing, E./ Keller, C./ Reglin, T./ Spies, J. (2001): Betriebliche Bildung via Internet. Konzeption, Umsetzung und Bewertung. Eine Einführung für Praktiker. Bern.