bwp@ 26 - Juni 2014

Berufliche Bildung aus der Perspektive des lernenden Subjekts

Hrsg.: Tade Tramm, Martin Fischer & Nicole Naeve-Stoß

Kongruenzen und Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb: Die Perspektive von Auszubildenden in der schweizerischen Berufsbildung

Beitrag von Carmela Aprea & Viviana Sappa
bwp@-Format: Forschungsbeiträge

Die effektive Koordinierung des Lernens in den Lernorten „Schule“ und „Betrieb“ mit ihren je spezifischen Merkmalen ist ein Kernproblem jedes Dualen Berufsbildungssystems und zugleich einer der zentralen Gegenstände der Berufsbildungsforschung. Dabei lassen sich in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zwei einander prinzipiell zwar nicht ausschließende, jedoch schwerpunktmäßig anders gelagerte Argumentationslinien identifizieren, nämlich zum einen Ansätze, die durch die entsprechende Gestaltung von Curricula und Lernumgebungen auf eine bestmögliche Angleichung der Lernorte setzen, und zum anderen solche, die demgegenüber gerade die Besonderheiten und Unterschiede der beiden Lernorte als wichtige Lerngelegenheit und damit als integralen Bestandteil beruflicher Lern- und Entwicklungsprozesse hervorheben. Im Spannungsfeld dieser beiden Argumentationslinien ist der vorliegende Beitrag angesiedelt, bei dem es vor dem Hintergrund einer sozio-kulturellen Theoriefolie darum geht, im Rahmen einer explorativen Studie die Sichtweisen von Auszubildenden auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Lernens in Schule und Betrieb zu rekonstruieren. Insbesondere soll eruiert werden, (1) welche Kongruenzen und Divergenzen von Auszubildenden im Hinblick auf das Lernen in der Schule und im Betrieb wahrgenommen werden, (2) welche Interpretationsmodelle von ihnen zur Erklärung der Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb herangezogen werden, und (3) welche Maßnahmen sie als förderlich ansehen, um das Lernen in Schule und Betrieb trotz Divergenzen miteinander verknüpfen zu können. Zur Beantwortung dieser Fragen wurden halb-strukturierte Interviews mit acht Auszubildenden aus kaufmännischen und gewerblich-technischen Berufen im schweizerischen Kanton Tessin durchgeführt und mittels inhaltsanalytischer Verfahren ausgewertet.

Congruencies and divergences of learning at school and in a company: The perspective of trainees in vocational education and training in Switzerland

English Abstract

The effective co-ordination of learning in the learning venues of “school” and “company”, with their respective characteristics, is a core problem of each dual system of vocational education and training and, at the same time, one of the main subjects of research into vocational education and training. In the current academic discussion two separate, not exactly mutually exclusive in principle, but with rather different areas of focus, lines of argumentation can be identified. These are, namely, on the one hand, approaches which promote an alignment of the learning venues through the corresponding design of curricula and learning environments and, on the other, those which emphasise precisely the particular features and differences of the two learning venues as a significant learning opportunity and therefore an integral component of vocational processes of learning and development. This paper is located in the tension between these two lines of argumentation. Against the background of socio-cultural theory, it aims to reconstruct, in the context of an exploratory study, the perspectives of trainees on the commonalities and differences of learning at school and in a company. In particular, the paper aims to explore, (1) which congruencies and divergences with regard to learning at school and in a company are perceived by the trainees, (2) which models of interpretation are used by them to explain the divergences of learning at school and in a company, and (3) which measures they view as desirable in order to connect school and company with each other, despite the divergences. In order to answer these questions semi-structured interviews were carried out with eight trainees in commercial and technical occupations in the Swiss canton of Tessin. These interviews were analysed using content analysis procedures.

1 Einleitung

Die effektive Koordinierung des Lernens und Lehrens in den Lernorten „Schule“ und „Betrieb“ mit ihren je spezifischen Merkmalen ist ein Kernproblem jedes Dualen Berufsbildungssystems und steht als solches im Fokus von Reformmaßnahmen der Berufsbildungspolitik. So ist beispielsweise das Berufsbildungssystem der Schweiz, auf das in diesem Beitrag rekurriert wird, seit der Revision des 2004 in Kraft getretenen Berufsbildungsgesetzes (BBG) durch eine starke Zentralisierung gekennzeichnet. Für jeden Ausbildungsberuf wurden auf Bundesebene übergreifende Curricula erstellt, welche die am jeweiligen Lernort zu erreichenden Ziele und Inhalte der beruflichen Grundbildung festlegen. Die mit der Revision eingeleitete Kompetenzorientierung der beruflichen Lehrpläne stellt ebenso einen Schritt in Richtung einer besseren Lernortverknüpfung dar (vgl. hierzu zusammenfassend auch OECD 2008).

Die Integration der Lernorte ist auch ein zentraler Gegenstand der Berufsbildungsforschung. Während ältere, vorwiegend auf das Duale System in Deutschland orientierte Forschungsarbeiten sich unter dem Stichwort der Lernortkooperation in erster Linie mit der Frage nach der institutionellen bzw. organisationalen Verankerung dieser Integration befassen (vgl. hierzu zusammenfassend Euler 2004), wird der Fokus in jüngster Zeit im internationalen Kontext verstärkt auch auf die Ebene der Lehr-Lernprozesse und deren Gestaltung gerichtet. Dabei lassen sich in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zwei einander prinzipiell zwar nicht ausschließende, jedoch schwerpunktmäßig anders gelagerte Argumentationslinien identifizieren, nämlich zum einen Ansätze, die durch die entsprechende Gestaltung von Curricula und Lernumgebungen auf eine bestmögliche Angleichung der Lernorte setzen, und zum anderen solche, die demgegenüber gerade die Besonderheiten und Unterschiede der Lernorte als wichtige Lerngelegenheiten und damit als integralen Bestandteil beruflicher Lern- und Entwicklungsprozesse hervorheben. Im Spannungsfeld dieser beiden Argumentationslinien ist die im vorliegenden Beitrag zu präsentierende Studie angesiedelt, deren Ziel es ist, die Sichtweisen von Auszubildenden auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Lernens in Schule und Betrieb zu rekonstruieren. Der Charakter der Studie ist explorativ in dem Sinne, dass es an dieser Stelle des Forschungsprozesses noch nicht darum geht, repräsentative Ergebnisse zu erlangen, sondern dass zunächst das Spektrum möglicher Sichtweisen eruiert werden sollte. Die Studie ist zugleich Teil einer umfassenderen, international eingebundenen Untersuchung zur Integration des Lernens und Lehrens an verschiedenen Lernorten („Connectivity“) (siehe hierzu auch das EU-LLP Leonardo Da Vinci Projekt „ConVET“ http://www.projectconvet.eu). Ausgehend von einem sozio-kulturellen Theorie- und Forschungsansatz liegt dieser Untersuchung die Annahme zugrunde, dass der Erfolg des lernortintegrierten Lernens und Lehrens ebenso wie jener der entsprechenden bildungspolitischen Reformmaßnahmen auch davon abhängt, inwieweit es den involvierten Akteuren (d. h. den Auszubildenden und den Berufsbildungsverantwortlichen in den Schulen und den Betrieben) gelingt, geteilte und mit den Neuerungen kompatible Vorstellungen zu den Zielen und Inhalten der beruflichen Bildung sowie zu den ihnen jeweils zugeordneten Aufgaben und Rollen in Bezug auf den beruflichen Kompetenzaufbau zu entwickeln. Um die Vorstellungen der Akteure zu erheben, wurden im italienischsprachigen Schweizer Kanton Tessin insgesamt 26 halbstrukturierte Interviews mit einer heterogenen Gruppe von Berufslernenden, Berufsfachschullehrkräften [1] sowie betrieblichen Ausbildnerinnen und Ausbildnern aus dem kaufmännischen und dem gewerblich-technischen Bereich durchgeführt. In diesen Interviews wurden die Befragten aufgefordert, ihre Gedanken zum Lernen und Lehren an den verschiedenen Lernorten zu externalisieren. Dabei sollten sie nicht nur ihre tatsächlich gemachten Erfahrungen darlegen, sondern auch eine ihrer Meinung nach ideale Situation beschreiben. Mit der Untersuchung sollten zum einen erste Erkenntnisse in Bezug auf verschiedene Typen von Vorstellungen der Akteure zu den Aufgaben und Rollen der Lernorte gewonnen werden (Sappa/Aprea 2014). Zum anderen dienten die Interviews als Vorbereitung für eine quantitativ ausgerichtete Fragebogenerhebung, welche sich derzeit in der Pilotierungsphase befindet.

Der Beitrag, welcher sich auf die Interviews mit den Auszubildenden bezieht, ist wie folgt aufgebaut: Im Abschnitt 2 werden der theoretische Rahmen und die Fragestellungen der Studie erörtert, während im Abschnitt 3 das forschungsmethodische Vorgehen expliziert wird. Abschnitt 4 ist dann der Darstellung der Ergebnisse gewidmet. Im Abschnitt 5 werden diese Ergebnisse diskutiert, und es wird ein Ausblick auf weitere Forschungserfordernisse gegeben.

2 Theoretischer Rahmen und Fragestellungen der Studie

2.1 Die Verknüpfung des Lernens in Schule und Betrieb als Transferproblem

Im Kontext beruflicher Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen ist die Frage der Verknüpfung des Lernens in Schule und Betrieb eng mit dem Thema des Transfers von Kenntnissen und Fähigkeiten aus einem Kontext in einen anderen verbunden, denn das maßgebliche Ziel dieser Maßnahmen ist es ja gerade, auf die langfristige Bewältigung von Anforderungen im Arbeitskontext vorzubereiten. Entsprechend seiner hohen Bedeutsamkeit wird das Thema des Lerntransfers in der Forschungsliteratur umfassend und kontrovers diskutiert (z.B. Marton 2006; Bransford/Schwartz 1999; Middleton/Baartman 2013; Toumi-Gröhn/Engeström 2003). Ungeachtet von Unterschieden in Detailfragen lässt sich festhalten, dass sich die Überlegungen innerhalb dieser Forschungsrichtung zunächst auf die Herstellung von Kongruenzen zwischen den verschiedenen Kontexten konzentrierten. Dabei wurde grundsätzlich davon ausgegangen, dass der Transfer umso besser gelingt, je stärker sich die Lernsituation und die Anwendungssituation ähneln. Vor dem Hintergrund dieser Annahme wurde von vielen Lehr-Lernforscherinnen und -forschern das stark dekontextualisierte und abstrakte sowie von den Anforderungsbedingungen realer Lebenskontexte abgehobene schulische Lernen kritisiert, denn dieses lässt die erforderliche Ähnlichkeit gerade nicht erkennen und trägt damit maßgeblich zur Erschwernis der Übertragung von Lerninhalten bei (z.B. Resnick 1987). Umgekehrt wurde ebenso in Zweifel gezogen, dass ein rein erfahrungsbasiertes, informelles betriebliches Lernen zu den gewünschten Lerneffekten führe, was eine gewisse Formalisierung dieser Lernform – und damit wiederum eine Angleichung der Lernkontexte – unabdingbar mache (z.B. Guile/Griffith 2001; Tynjälä/Virtanen 2005).

2.2 Aus Divergenzen lernen: Vom Transfer zum Boundary Crossing

Während die zuvor dargestellten Erwägungen auf der bildungspolitischen Ebene – wie eingangs am Beispiel der Schweiz skizziert – eine Reihe von Bemühungen zur Reduzierung des Abstandes zwischen den Lernorten angeregt haben, wird auf der Ebene der Forschung zwischenzeitlich erneut die Frage nach den Mechanismen gestellt, welche die Anwendung von Kenntnissen und Fähigkeiten ermöglichen, die man sich in einem Kontext angeeignet hat, um Probleme in einem anderen zu lösen (z.B. Marton 2006; Bransford/Schwartz 1999). In diesem Zusammenhang wurde vor allem die einseitige Fixierung auf Ähnlichkeiten kritisiert. Dieser Sichtweise wird eine Auffassung gegenübergestellt, in der gerade die Unterschiede zwischen den Lernkontexten als wichtige Quellen für ein effektives Lernen angesehen werden (Bransford/Schwartz 1999; Griffiths/Guile 2004; Marton 2006; Toumi-Gröhn/Engeström 2003). In diese Perspektive reihen sich beispielsweise die „contrastive cases“ (Bransford/Schwartz 1999) ein sowie das „expansive learning“, das als Lernen durch aktive Beteiligung in verschiedenen, praxisbezogenen Arbeitsgemeinschaften definiert ist (Fuller/Unwin 2003; Toumi-Gröhn/Engeström 2003). Der sozio-kulturelle Ansatz, welcher den theoretischen Rahmen der in diesem Beitrag darzustellenden Studie bildet, nimmt vor dem Hintergrund dieser Überlegungen die Kongruenzen und Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb umfassend in den Blick, indem ergänzend zum Begriff des Transfers das Konstrukt des Boundary Crossing eingeführt wird (Akkerman/Bakker 2011; Griffiths/Guile 2004; Middleton/Baartman 2013;Toumi-Gröhn/Engeström 2003). Der Aufbau und die Anwendung von Wissen und Fähigkeiten in Schule und Betrieb werden hier als ein Überschreitungsprozess zwischen den Grenzen dieser beiden Kontexte interpretiert, die sich aufgrund ihrer Normen und Zielstellungen sowie ihrer internen Arbeitsorganisation unterscheiden. Ein derartiger Überschreitungsprozess ist nicht durch eine mechanische Übertragung von Wissen und Fähigkeiten von einem Kontext in einen anderen zu bewältigen, sondern macht vielmehr deren Rekontextualisierung bzw. Umwandlung erforderlich (Griffiths/Guile 2004; Toumi-Gröhn/Engeström 2003). Der Fokus der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen liegt dementsprechend nicht so sehr darauf, die Lernkontexte einander anzugleichen, sondern vielmehr darin, sich die den verschiedenen Kontexten inhärenten Unterschiede für die Kompetenzentwicklung der Lernenden zunutze zu machen.

2.3 Kongruenzen und Divergenzen zwischen Schule und Betrieb: Wahrnehmungen des Lernpotentials durch die Auszubildenden und Förderungsmöglichkeiten

Wie etwa Bransford und Schwartz (1999) betonen, ist das bloße Vorliegen von Divergenzen zwischen Aufgaben, Kontexten und Erfahrungen nicht ausreichend, um ein effektives Lernen zu gewährleisten. Zentral ist vielmehr, inwiefern diese Divergenzen ebenso wie die Grenzübergänge und die Gemeinsamkeiten von den Lernenden als lernförderlich wahrgenommen und miteinander in Verbindung gebracht werden. Virtanen et al. (2012) liefern empirische Belege dafür, dass das Lernen in Schule und Betrieb begünstigt wird, wenn die Auszubildenden eine Verbindung zwischen dem Erlernten aus beiden Kontexten erkennen. Wie sich in dieser Untersuchung auch zeigte, kann diese Verbindung durch den Einsatz geeigneter Förderungsmöglichkeiten unterstützt werden. In diesem Zusammenhang werden in der einschlägigen Literatur (z.B. Stenström & Tynjälä 2009; Tynjälä 2008) eine Reihe von Möglichkeiten diskutiert, die neben exemplifizierenden und erklärenden Maßnahmen vor allem Vergleiche der Lernkontexte hervorheben. Eine aktuelle Studie über die Wahrnehmung von Kontinuität und Diskontinuität im schulischen und betrieblichen Kontext (Sappa et al. 2013) hat außerdem gezeigt, wie die Wahrnehmung einer solchen Kontinuität nicht nur von den äußeren Bedingungen der tatsächlichen vorliegenden Kontinuität abhängt, sondern auch von den Erwartungen der Auszubildenden hinsichtlich einer solchen Kontinuität sowie deren Vorstellungen darüber, wie die Entwicklung und der Transfer von Wissen und Fähigkeiten zwischen den verschiedenen Kontexten erfolgen sollten. Basierend auf diesen Befunden gehen wir davon aus, dass die Effektivität des Lernens in verschiedenen Kontexten auch davon abhängt, auf welche Art und Weise die Kongruenzen und Divergenzen von den Beteiligten interpretiert und inwiefern angebotene Förderungsmöglichkeiten von ihnen wahrgenommen werden.

2.4 Fragestellungen

Vor dem Hintergrund der zuvor skizzierten Überlegungen sollten mit der Studie drei Fragestellungen beantwortet werden:

  1. Welche Kongruenzen und Divergenzen werden von Auszubildenden im Hinblick auf das Lernen in der Schule und im Betrieb wahrgenommen?
  2. Welche Interpretationsmodelle werden von Auszubildenden zur Erklärung der Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb herangezogen?
  3. Welche Maßnahmen werden von den Auszubildenden als förderlich angesehen, um das Lernen in Schule und Betrieb trotz Divergenzen miteinander verknüpfen zu können?

Zur Beantwortung dieser Fragen wurde das im Folgenden näher zu beschreibende forschungsmethodische Vorgehen umgesetzt.

3 Forschungsmethodisches Vorgehen

3.1 Sample

Die Untersuchung, welche als multiples Fallstudiendesign angelegt war, wurde – wie eingangs erwähnt – im schweizerischen Kanton Tessin durchgeführt, und es nahmen vier weibliche und vier männliche Auszubildende in der beruflichen Grundbildung teil (siehe Tabelle 1). Die Interviews, welche im Durchschnitt 45 Minuten dauerten, wurden zwischen Januar und Mai 2012 in den jeweiligen Ausbildungsbetrieben der Lernenden durchgeführt; die Teilnahme erfolgte auf freiwilliger Basis (es handelte sich um Auszubildende jener Lehrkräfte bzw. betrieblichen Ausbildner/innen, die an der Gesamtuntersuchung teilnahmen). Das Alter der Teilnehmenden lag zwischen 16 und 20 Jahren; vier von ihnen sind im kaufmännischen Bereich und vier im gewerblich-technischen Bereich tätig. Zwei der Kauffrauen und die beiden Polymechaniker absolvieren ihre Ausbildung im gleichen Großunternehmen. Die verbleibenden Teilnehmenden sind in mittelständischen Unternehmen tätig.

Tabelle 1:     Synoptische Darstellung des Samples

Kennname*

Allgemeine Angaben

Ausbildungsberuf

Ausbildungsbetrieb

Chiara

19 Jahre
2. Ausbildungsjahr

kaufmännische Angestellte

Großunternehmen

Valeria

16 Jahre
2. Ausbildungsjahr

kaufmännische Angestellte

Elisa

16 Jahre
2. Ausbildungsjahr

kaufmännische Angestellte

Mittelständisches Unternehmen

Christa

17 Jahre
2. Ausbildungsjahr

kaufmännische Angestellte

Silvio

19 Jahre
4. Ausbildungsjahr

Polymechaniker

Großunternehmen

Marco

20 Jahre
4. Ausbildungsjahr

Polymechaniker

Franco

19 Jahre
1. Ausbildungsjahr

Automobil-Mechatroniker

Mittelständisches Unternehmen

Paolo

20 Jahre
4. Ausbildungsjahr

Automobil-Mechatroniker

*Zur Wahrung der Anonymität wurden alle hier angegebenen Namen abgeändert.

3.2 Fokus der Datenanalyse

Für den vorliegenden Beitrag wurden aus den transkribierten Gesamtinterviews, welche im Durchschnitt etwa eine Stunde dauerten, schwerpunktmäßig die Antworten der Auszubildenden zu den folgenden Teilfragen des Interviewleitfadens herangezogen:

  1. Welche Unterschiede in Bezug auf das Lernen in Schule und Betrieb stellen Sie als Auszubildende/r fest? Welches sind verbindende Elemente der beiden Lernorte?
  2. Warum gibt es Ihrer Meinung nach solche Unterschiede?
  3. Was hilft Ihnen dabei, trotz der genannten Unterschiede eine Verbindung zwischen dem Lernen in Schule und Betrieb herzustellen?

Unter Nutzung der Software NVivo wurden diese Daten wie folgt ausgewertet: Zur Bestimmung der wahrgenommenen Konvergenzen und Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb (Forschungsfrage 1) sowie zur Identifikation der von den Auszubildenden als förderlich angesehenen Maßnahmen (Forschungsfrage 3) wurde eine qualitative Inhaltsanalyse mit vorwiegend induktiver Kategorienentwicklung (Krippendorff 2013) durchgeführt. Zur Rekonstruktion der Interpretationsmodelle (Forschungsfrage 2) wurde eine ebenso den qualitativen Methoden zuzuordnende thematische Analyse (Braun/Clarke 2006) vorgenommen, welche insbesondere die folgenden, iterativ durchgeführten Schritte umfasste: (a) Selektion der für die Fragestellung (Interpretationsmodelle) relevanten Interviewauszüge; (b) Extraktion erster thematischer Schwerpunkte/Gemeinsamkeiten; (c) Zuweisung vorläufiger Modellbezeichnungen; (d) Überarbeitung und diskursive Absicherung der Modellzuweisungen.

4 Ergebnisse

4.1 Übersicht der Ergebnisse

Tabelle 2 gibt die Ergebnisse der acht Fallbeispiele in Bezug auf die drei Forschungsfragen zusammenfassend wieder.

Tabelle 2:     Zusammenfassende Übersicht zu den Ergebnissen der Fallbeispiele

Kauffrauen

Mechatroniker

Polymechaniker

Chiara

Elisa

Christa

Valeria

Franco

Paolo

Silvio

Marco

Wahrgenommene Kongruenzen und Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb

Übergeordnete Zielstellung

Erlernen eines Berufes

Spezifische Lernziele

Erwerb fächerorientierter Kenntnisse vs.
praktischer Vollzug

Erwerb von Standardwissen vs.
Lösen von Problemen im spezifischen Kontext

Inhaltliche und zeitliche Passung der Lerninhalte

Partielle Kongruenz

Umfassende Kongruenz

Synchronität

-

Interpretationsmodelle zur Erklärung der Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb

Dichotom-disparat
(nicht-integrierbar)

Dichotom-kompatibel
(integrierbar)

Integrativ-komplementär

Wahrgenommene Maßnahmen zur Förderung der Verknüpfung des Lernens in Schule und Betrieb

Fallbsp.

--

--

Fallbsp.

Fallbsp.

--

--

Fallbsp

--

Boundary crossing facilitators

Boundary crossing facilitators

Boundary crossing facilitators

--

--

Boundary crossing facilitators

--

--

--

Explikation

Explikation

--

--

--

Explikation

--

--

--

Vergleiche

Vergleiche

Vergleiche

Vergleiche

Vergleiche

                     

4.2 Wahrgenommene Kongruenzen und Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb

Die von den Auszubildenden in den Interviews geäußerten Kongruenzen und Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb lassen sich den Kategorien „übergeordnete Zielstellung“, „spezifische Lernziele“ und „inhaltliche und zeitliche Passung der Lerninhalte“ zuordnen.

4.2.1 Übergeordnete Zielstellung und spezifische Lernziele

Als Gemeinsamkeit des Lernens in Schule und Betrieb nehmen die Auszubildenden wahr, dass die beiden Lernorte zwei Bestandteile eines einheitlichen Ausbildungssystems bilden, welches auf eine gemeinsame übergeordnete Zielstellung, nämlich das Erlernen eines Berufs, orientiert ist. Diese Kongruenz spiegelt sich in den Berichten der Befragen durch allgemeine Beschreibungen wider, wie etwa: „die Schule und der Betrieb sind beide für das Lernen mehrerer Dinge im kaufmännischen Bereich nützlich“ oder „sowohl in der Schule als auch im Betrieb lernt man wichtige Dinge für den Beruf, den man später einmal ausüben wird“.

Demgegenüber heben alle Auszubildenden in den Interviews Unterschiede der Lernorte in Bezug auf die spezifischen Lernziele hervor, wobei sie der Schule die Absicht zuschreiben, die Theorie und dem Betrieb die Praxis lehren zu wollen. Dabei zeigen sich in den Aussagen der Befragten zwei unterschiedliche Auffassungen davon, was unter Theorie und Praxis jeweils zu verstehen sei.

Die erste, von den vier Auszubildenden im kaufmännischen Bereich vertretene Auffassung stellt dem Erwerb von fächerorientierten Kenntnissen in der Schule den praktischen Vollzug im Betrieb gegenüber.

In der Schule werden verschiedene Fächer unterrichtet […] und am Arbeitsplatz wird praktisch nur das unterrichtet, was dann in die Praxis umgesetzt wird, nämlich nur handwerkliche Dinge, d.h. ohne etwas direkt lernen zu müssen, Dinge, die man immer umsetzt.“ (Christa)

Es gibt immer die Theorie und die Praxis […] in der Schule hat man Fächer wie Rechnungswesen, Wirtschaftslehre und solche Dinge, am Arbeitsplatz hingegen lernt man zu arbeiten, was nichts mit der Schule zu tun hat, man lernt aber, wie eine Arbeit getan werden sollte […]“ (Chiara)

Die zweite, im gewerblich-technischen Bereich vertretene Auffassung definiert „Theorie“ als in der Schule stattfindenden Erwerb von Standardwissen (z.B. „die Funktionsweise eines Motors verstehen lernen“, „die Komponenten und die Materialien kennenlernen“, „alle Arbeitspraktiken, die für den Beruf erforderlich sind, kennenlernen“),welchesim Betrieb beim Lösen von Problemen eingesetzt und transformiert (z.B. „lernen ein Problem zu analysieren, wie es dir ein Kunde präsentiert“) bzw. in die dort vorherrschenden Bedingungen eingebunden wird (z.B. „lernen pünktlich zu sein, lernen alles immer gleich richtig zu machen“).

Die Schule bietet dir die Theorie, alles was du zur praktischen Anwendung benötigst […] der Betrieb gibt dir …wie könnte man es ausdrücken? Man lernt die Tricks, bestimmtes Werkzeug auf verschiedene Arten zu benutzen… zum Beispiel einen Schraubenzieher kann man auch als Hebel benutzen…und das lernt man in der Praxis und nicht in der Schule“ (Paolo)

Die Arbeit vermittelt dir das Maß der Zeit… d.h. dass man alles gut und schnell erledigen muss. Man muss schnell verstehen, was zu tun ist und es erledigen, während ich in der Schule erst Übungen mache, ein Schema erhalte, das ich dann eine halbe Stunde lang, oder die Zeit, die ich benötige, anschauen kann.“ (Silvio)

4.2.2 Inhaltliche und zeitliche Passung der Lerninhalte in Schule und Betrieb

Hinsichtlich dieser Kategorie zeigte sich in den Interviewdaten das folgende Bild: In den Wahrnehmungen der befragten angehenden Kauffrauen sind die Lerninhalte an den beiden Lernorten auf wenige gemeinsame Themenbereiche wie z.B. die Verwendung von Terminologien in den Fremdsprachen, die Geschäftskorrespondenz sowie die EDV beschränkt (partielle Kongruenz). Chiara erzählt etwa, dass ihr eine Übereinstimmung zwischen den in der Schule gelernten Inhalten und den am Arbeitsplatz verlangten Fähigkeiten aufgefallen ist, als sie ein formales Kündigungsschreiben für einen Mitarbeiter des Unternehmens verfassen musste. Valeria führt als Beispiel an, dass sie im Betrieb ein Problem mit dem Word-Programm dank ihrer Kenntnisse aus der Schule lösen konnte. Christa bestätigt, dass die deutschen Begriffe, die sie in der Schule gelernt hat, den im Betrieb verwendeten Begriffe gleichen. Indes scheint ein Zusammenhang zwischen den Lerninhalten in Schule und Betrieb für die Auszubildenden im gewerblich-technischen Bereich deutlicher erkennbar zu sein und sich auf die Mehrheit der Themenbereiche zu beziehen (umfassende Kongruenz). Alle vier Befragten beschreiben das, was sie am jeweiligen Lernort gelernt haben, als „stark miteinander zusammenhängend“ Silvio erklärt wie folgt: „In der Regel sieht man das, was einem in der Schule beigebracht wurde, später auch am Arbeitsplatz oder das, was man am Arbeitsplatz lernt, findet man in der Schule wieder.“ Ähnlich bestätigt Marco: „Alles ist miteinander verbunden… alles steht miteinander in einem perfekten Zusammenhang.“ Schließlich betonen Franco und Paolo ein weiteres Kongruenzmerkmal, nämlich die Synchronität der Lerninhalte: „Jetzt sind die Lerninhalte fast alle synchron, weil man das, was man in der Schule sieht, auch am Arbeitsplatz sieht. Deshalb gibt es keine Distanz.“ (Paolo). Eine solche Synchronität wird von den Lernenden im kaufmännischen Bereich nicht wahrgenommen. Befragt nach ihrer Einschätzung der zeitlichen Abfolge der Lerninhalte äußern diese Auszubildenden, dass verwandte Themen in Schule und Betrieb zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten behandelt werden.

4.3 Interpretationsmodelle zur Erklärung der Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb

Die thematische Analyse der von den Auszubildenden vorgebrachten Erklärung der wahrgenommenen Divergenzen förderte drei Interpretationsmodelle zutage, welche im Folgenden beschrieben werden sollen.

4.3.1 Dichotom-disparates Interpretationsmodell

Im ersten Modell werden die wahrgenommenen Unterschiede auf das je spezifische Wesen des Lernens in Schule und Betrieb attribuiert. Die Lernprozesse in den beiden Lernorten werden hier als zwei völlig unterschiedliche, getrennt verlaufende und prinzipiell miteinander unvereinbare Vorgänge beschrieben: Das schulische Lernen bezieht sich auf den Lehrplan, auf die darin festgelegten Ziele und auf die Tradition, mit der die Fächer seit jeher in der Schule (Ordnungsrahmen) unterrichtet werden. Das Lernen im Betrieb passt sich demgegenüber der Funktionalität der betrieblichen Aufgaben und Abläufe an (funktionaler Rahmen).

Wenn ich im Betrieb Tätigkeiten durchführe, werden mir diese von meiner Ausbilderin erklärt. Sie erklärt mir, wie die Arbeit erledigt werden muss, während es in der Schule auf eine andere Weise getan wird. Setzt man diese Vorgehensweise dann am Arbeitsplatz praktisch um, ist es falsch, d.h. es stimmt nicht mit den anderen Aufgaben überein, die erledigt werden müssen.“

Und warum denken Sie, werden die Dinge in der Schule anders unterrichtet als am Arbeitsplatz?

Meiner Meinung nach liegt das daran, dass man hier am Arbeitsplatz immer diese Methoden angewandt hat und weil sie funktionieren, wäre es nicht sinnvoll, sie zu ändern. Stattdessen zieht man es in der Schule aufgrund der vielen vorgegebenen Ziele, die am Ende des Schuljahres von den Lehrern erreicht werden müssen, vor, die Dinge auf eine andere Art zu erledigen […] und außerdem ziehen die Lehrer in der Schule ihr Programm durch, sie müssen es einhalten.“ (Christa)

Der dichotome Charakter einer solchen Auslegung wird auch von der unterschiedlichen Art untermauert, mit der die Auszubildenden das Lernen in Schule und Betrieb beschreiben. Elisa beschreibt beide Orte als Kontexte, an denen zwei „verschiedene Mentalitäten“ vorliegen. Christa bestätigt, dass sie je nachdem, ob eine Aufgabe für die Schule oder für den Betrieb gelöst werden muss, die gleiche Aufgabe auf zwei verschiedene Arten bewältige, wobei sie versuche, beides „nicht miteinander zu verwechseln“. Chiara und Elisa bringen die dem dichotom-disparaten Interpretationsmodell zugrunde liegende Sichtweise am entschiedensten zum Ausdruck. Für sie sind Schule und Betrieb aufgrund ihrer Charakteristika zwei völlig unterschiedliche Kontexte, bei denen eine Kongruenz einfach nicht zu erwarten ist.

Für mich ist das okay, weil ich wirklich nicht weiß, wie ich einen Zusammenhang zwischen ihnen herstellen könnte... für mich sind das ganz verschiedene Dinge… deshalb ist das okay.“ (Chiara)

4.3.2 Dichotom-kompatibles Interpretationsmodell

Eine etwas andere Spielart des dichotomen Interpretationsmodells findet sich bei Christa und Valeria, deren Argumentationsweise weniger determiniert zu sein scheint. Beide legen dar, dass die Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb zwar eine zu beobachtende Tatsache seien, dass sie es aber als sinnvoll und wünschenswert erachten, einen Zusammenhang zwischen der in der Schule erlernten Theorie und den im Betrieb durchgeführten Aktivitäten herzustellen. Außerdem werden die Divergenzen nicht auf einen prinzipiellen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis zurückgeführt, sondern auf die Heterogenität der bestehenden Verfahren, mit der die gleiche Aufgabe angegangen werden kann.

Ich würde es vorziehen, die Buchhaltung wie hier am Arbeitsplatz zu lernen und nicht wie es in der Schule unterrichtet wird… es wäre einfacher… es gibt jedoch verschiedene Verfahren und jedes Unternehmen hat sein eigenes, deshalb kann die Schule sie nicht alle unterrichten.“ (Christa)

Im Gegensatz zur ersten Variante des dichotomen Interpretationsmodells, in dem das Lernen an den beiden Lernorten als nicht miteinander integrierbar wahrgenommen wird, ist hier eine Integration also prinzipiell möglich.

4.3.3 Integrativ-komplementäres Interpretationsmodell

In diesem Modell werden die Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb vor dem Hintergrund eines Referenzrahmens interpretiert, welcher die einzelnen schulischen und betrieblichen Ziele und Inhalte umspannt und innerhalb dessen sie als entwicklungsförderlicher Bestandteil der Berufsausbildung wahrgenommen werden. Eine solche Integration wird in den Interviews durch Diktionen wie „theoretischer Aspekt“ und praktische Seite des beruflichen Lernens“ oder „der Betrieb ist auf das Praktische fokussiert, während die Schule sich auf die Theorie des Berufs konzentriert“ belegt. Solche Ausdrucksweisen lenken die Aufmerksamkeit auf die Komplementarität zweier Aspekte eines einheitlichen Sachverhalts. Aus dieser Perspektive werden die Divergenzen einerseits als unausweichlich beschrieben, da sie mit unvorhersehbaren Arbeitssituationen verbunden sind. Zugleich sind sie aber auch funktional, weil sie dabei helfen, die bei diesen Unvorhersehbarkeiten erforderliche Flexibilität im Handeln zu erwerben.

Wenn wir zum Beispiel Probleme mit der Lenkung haben, … kann es sein, dass sie vielleicht verklemmt ist, und da wir kurz vorher die Theorie durchgenommen haben, haben wir gesehen, dass eine Flüssigkeit unter Druck steht und dass es mehrere Ventile gibt, die sich öffnen. Das weiß ich dank der Theorie… und deshalb… kann ich, wenn die Lenkung verklemmt ist, davon ausgehen, dass vielleicht ein Ventil oder ein anderes Teil nicht richtig funktioniert… Deshalb kann ich nur bestätigen: Ja, die Theorie ist notwendig…“ (Paolo)

Die Divergenzen zwischen Schule und Betrieb sind ferner Ausdruck davon, dass das berufliche Lernen verschiedene Formen und Phasen haben muss, wovon einige besser in der Schule, andere einfacher im Betrieb entfaltet werden können. Während die Schule wissensbasierte Ressourcen zur Interpretation eines Problems und zur Definition potentieller Lösungen liefert, bietet der Betrieb einen Erfahrungsraum, um diese Möglichkeiten im konkreten Rahmen verschiedener Anforderungssituationen zu erproben.

Wenn man zum Beispiel schruppen und dann die Feinverarbeitung eines Werkstücks durchführen muss… wechselt man normalerweise das Werkzeug… Es gibt ein spezielles Werkzeug für das Schruppen und eines für die Feinverarbeitung… und ich muss oft… da ich [im Betrieb] nicht das Notwendige habe, um diese Verarbeitung durchzuführen, immer das gleiche Werkzeug benutzen… während man in der Schule gesagt bekommt, es zu wechseln… Und mit den Lehrern diskutieren wir auch über diesen Unterschied… tatsächlich… stimmt die Theorie nie mit der Praxis überein… Ich habe also in diesen vier Jahren verstanden, dass das, was einem schließlich beigebracht wird, nicht immer das Gleiche ist, was man dann praktisch umsetzt… d.h. es gibt bestimmte Probleme, die es vorher nicht gegeben hat und die man auch nicht in der Schule lösen musste. Aber es hilft dabei, selbst eine Lösung zu finden… die einem logisch erscheint.“ (Marco).

Das Lernen in Schule und Betrieb ist in diesem Sinne als komplementär zu verstehen.

4.4 Wahrgenommene Maßnahmen zur Förderung der Verknüpfung des Lernens in Schule und Betrieb

Schließlich ließen sich in den Interviews vier verschiedene Maßnahmen identifizieren, die aus Sicht der Auszubildenden als hilfreich erscheinen, um schulisches und betriebliches Lernen miteinander zu verknüpfen. Diese Maßnahmen sind: Fallbeispiele, Boundary Crossing Facilitators, Explikation und Erfahrungsvergleiche.

4.4.1 Fallbeispiele

Der Einsatz von betrieblichen Fallbeispielen in der Schule wird von fast allen Befragten als lernförderlich angesehen. In der Wahrnehmung der Auszubildenden helfen diese Beispiele dabei, sich eine konkrete Vorstellung von der praktischen Umsetzung zu machen, und sie unterstützen das Verständnis der zu erlernenden Inhalte im Vergleich zu einem reinen Auswendiglernen.

Wenn sie uns Beispiele gezeigt hätten, wäre es für mich einfacher gewesen,… weil ich es eben gesehen hätte. Wenn ich aber keine Beispiele sehe, muss ich alles lernen oder auswendig lernen und vielleicht wäre es etwas schwieriger, weil ich alles Schritt für Schritt lernen müsste.“ (Valeria)

Innerhalb der Fallbeispiele kommt konkreten Objekten, die im Betrieb genutzt werden, eine zentrale Bedeutung zu. Diese werden entweder als Anschauungsmaterial von den Lehrkräften in den Unterricht eingebracht, oder sie werden von den Auszubildenden selbst zur Verfügung gestellt, wie etwa im Fall vony Chiara, die ihre betriebliche Gehaltsabrechnungen in die Schule mitnimmt, um sie gemeinsam zu analysieren oder in Marcos Fall, dessen Lehrer immer von ihm wissen will, welche Utensilien und Materialien sie im Betrieb gesehen und benutzt haben, um „die Praxis auf die Theorie anwenden zu können, die in der Schule unterrichtet wurde“, wie uns Marco berichtet.

4.4.2 Boundary Crossing Facilitators

In engem Zusammenhang mit der Verwendung von Fallbeispielen erachten es viele der Befragten als wichtig für ihr Lernen, dass sie in Schule und Betrieb auf Lehrpersonen stoßen, die Erfahrungen in beiden Lernkontexten (Schule und Betrieb) gemacht haben. Da diese Personen an der Grenze zwischen beiden Bereichen agieren, bezeichnen wir sie als „Boundary Crossing Facilitators“. Manche Auszubildende beziehen sich hier auf schulische Lehrpersonen, die noch im Betrieb tätig sind oder waren. Solche Lehrpersonen erleichtern den Auszubildenden das Lernen, da sie die betriebliche Sprache teilen („wenn du ihnen eine Frage stellst, antworten sie mit den spezifischen Fachbegriffen, die wir kennen“). Ebenso sind sie sich der zwischen den Lernorten bestehenden Kongruenzen und Divergenzen bewusst („sie wissen, dass es in der Praxis nicht immer wie in der Theorie ist, und dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, eine Sache zu erledigen… und wenn man ihnen eine andere Vorgehensweise vorschlägt, die zur gleichen Lösung führt, sagt er[der Lehrer]: ‚Dann habe ich etwas neues hinzugelernt.“). Ferner handelt es sich um Personen, mit denen sich die Auszubildenden identifizieren („sie können uns erzählen, wie sie es gelöst hätten“). Andere Berufslernende erwähnen betriebliche Ausbilderinnen und Ausbilder, die in engem Kontakt mit der Schule zusammenarbeiten oder wenige Jahre zuvor ihren Abschluss gemacht haben. So berichtet beispielsweise Christa: „Wenn es notwendig ist, lasse ich mich von meiner Ausbilderin beraten und sie erklärt mir in Ruhe die Dinge und wir betrachten dann die Unterschiede zwischen den Dingen in der Schule und denen hier am Arbeitsplatz.“

4.4.3 Explikation

Ein weiterer Faktor, den die Auszubildenden als lernförderlich erachten, ist die Explikation jener Prozesse, die den betrieblichen Praktiken zugrunde liegen. Es handelt sich insbesondere um solche Situationen, in denen die Auszubildenden dazu angeregt wurden, „zu erklären, was im Betrieb gemacht wurde“, verschiedene betriebliche Verfahren und deren Funktionsweise zu beschreiben sowie diese mit der Theorie in Verbindung zu bringen. Diese Explikationen helfen den Auszubildenden nach eigenem Bekunden nicht nur dabei, die Prozesse besser zu verstehen, sondern sie finden es auch motivierend, den Mitschülerinnen und Mitschülern aus ihrem betrieblichen Alltag zu berichten.

4.4.4 Vergleiche der eigenen Erfahrungen

In engem Zusammenhang mit der zuvor genannten Maßnahme besteht schließlich nach Auffassung der Auszubildenden eine weitere Möglichkeit zur Verknüpfung des Lernens in Schule und Betrieb darin, die Divergenzen, denen sie im Betrieb begegnen, mit denen von anderen Auszubildenden zu vergleichen. Dieser Vergleich wird von einigen als eher informeller Austausch beschrieben, während er bei anderen als explizites Lernarrangement in Schule oder Betrieb installiert ist, welches die Funktion hat, unterschiedliche Vorgehensweisen und Situationen kennenzulernen („du siehst die Unterschiede und redest darüber“), die jeweiligen Unterschiede besser zu verstehen („es kann passieren, dass wir dem Lehrer die verschiedenen Möglichkeiten, wie wir dieses Verfahren durchführen, beschreiben… und wir setzen uns damit auseinander… und wir helfen uns gegenseitig….“) sowie sich gegenseitig Rückmeldung zu geben und auf allfällige Fehler hinzuweisen („diskutieren, wo etwas falsch gelaufen ist oder besser gemacht werden kann“).

5 Diskussion und Ausblick

Das Ziel der in diesem Beitrag vorgestellten Studie war es, in einem ersten explorativen Zugang die Sichtweisen von Auszubildenden auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Lernens in Schule und Betrieb zu rekonstruieren. Dabei sollten drei Fragen beantwortet werden, nämlich: (1) Welche Kongruenzen und Divergenzen von Auszubildenden im Hinblick auf das Lernen in der Schule und im Betrieb wahrgenommen werden, (2) Welche Interpretationsmodelle von ihnen zur Erklärung der Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb herangezogen werden, und (3) welche Maßnahmen sie als förderlich ansehen, um das Lernens in Schule und Betrieb trotz Divergenzen miteinander verknüpfen zu können.

In den Ergebnissen der Studie zeigt sich, dass die Auszubildenden zwar einheitlich die Berufsorientierung als gemeinsame Zielstellung des Lernens in Schule und Betrieb wahrnehmen, dass es aber aus ihrer Perspektive gleichwohl zahlreiche Unterschiede in Bezug auf die spezifischen Ziele und Inhalte des Lernens an beiden Lernorte ebenso wie im Hinblick auf die von ihnen wahrgenommenen Förderungsmaßnahmen gibt. Dieser Befund tritt am deutlichsten bei den Berufslernenden im kaufmännischen Bereich zutage. Dabei sind bei diesen Lernenden weniger die Divergenzen an sich auffällig – diese finden sich, wenn auch in etwas schwächerer Form, ebenso bei ihren Kollegen im gewerblich-technischen Bereich wieder –, sondern vor allem der Sachverhalt, dass sie zur Erklärung der Divergenzen ein dichotomes Interpretationsmodell heranziehen. Demgegenüber findet sich bei den Auszubildenden des gewerblich-technischen Sektors eine Auffassung, welche die integrative Kompetenzentwicklung und die Komplementarität der Lernorte betont.

Aufgrund des explorativen Charakters der Studie lassen diese Befunde noch keine definitiven Schlussfolgerungen zu. Gleichwohl erlauben sie die Generierung erster Hypothesen, die für die Gestaltung und weitere Erforschung des lernortintegrativen Lernen und Lehrens von Relevanz sind:

  1. Zunächst untermauern die Ergebnisse der Studie die Bedeutung der Ausgangsproblematik, denn wie es scheint, stellt die Realisierung des lernortintegrativen Lernens und Lehrens trotz der Vorteile Dualer Berufsbildungssysteme sowie zahlreicher Reformbemühungen, wie sie etwa in der Schweiz durchgeführt wurden, nach wie vor eine erhebliche Herausforderung dar (Akkermann/Bakker 2012; Hardy/Parent 2003; Fuller/Unwin 2011). Geht man davon aus, dass der dichotome Referenzrahmen bei den angehenden Kauffrauen nicht auf eine mangelhafte Umsetzung der in der Einleitung dieses Beitrags erwähnten Reformmaßnahmen zur besseren Integration der Lernorte zurückzuführen ist, so können die Ergebnisse als Indiz dafür gewertet werden, dass Optimierungen der curricularen Rahmenbedingungen – also Interventionen auf der Meso-Ebene, wie sie im Schweizer Berufsbildungssystem implementiert wurden – noch keineswegs eine Garantie dafür sind, dass die intendierte Wirkung auch in den Köpfen der beteiligten Personen ankommt. Diese Deutung wird unseres Erachtens auch durch die Aussagen der Auszubildenden zu den als hilfreich wahrgenommenen Förderungsmaßnahmen untermauert, welche mehrheitlich auf der Mikro-Ebenen des schulischen Unterrichts bzw. der betrieblichen Unterweisung angesiedelt sind.
  2. Übereinstimmend mit empirischen Befunden aus anderen Untersuchungen der Berufsbildungsforschung (z.B. Sappa et al. 2013) bzw. der Lehr-Lernforschung (z.B. Paakkari et al. 2011) deuten die Befunde des Weiteren darauf hin, dass den Interpretationsmodellen eine wichtige Filterfunktion im Hinblick auf die subjektiv perzipierten Lerngelegenheiten zuzukommen scheint. Vergleicht man etwa Chiara und Valeria, die ihre Ausbildung exakt unter denselben objektiven Lernbedingungen (dasselbe Ausbildungsunternehmen, dieselbe Berufsschule, dieselben Lehrpersonen bzw. Ausbilder/-innen) absolvieren, so fällt auf, dass letztere nicht nur ein flexibleres Interpretationsmodell figuriert, sondern innerhalb der objektiven Lernumgebung auch deutlich mehr Unterstützungsgelegenheiten wahrnimmt. Die Frage nach der Richtung des Zusammenhanges zwischen Interpretationsmodellen und perzipierten Lerngelegenheiten bzw. nach der zugrunde liegenden Kausalität kann freilich mit dem hier umgesetzten Fallstudiendesign nicht beantwortet werden.
  3. Ebenso wie Untersuchungen aus anderen Ländern (z.B. Virtanen et al. 2012) lassen die Ergebnisse unserer Studie schließlich das Vorhandensein von bereichsspezifischen Besonderheiten vermuten. Während im kaufmännischen Bereich eine Auffassung vorzuherrschen scheint, welche eher einer traditionellen Vorstellung des Lerntransfers (siehe Abschnitt 2.1) entspricht, nehmen die Auszubildenden im gewerblich-technischen Bereich nicht nur mehr Kongruenzen und – zumindest bei den Mechatronikern – eine höhere Synchronität zwischen dem Lernen in Schule und Betrieb wahr, sondern diese Wahrnehmungen fügen sich zudem in ein Referenzmodell ein, welches weniger nach einem perfekten Einklang zwischen den Lernorten und einer mechanischen Übertragung von Kenntnissen und Fähigkeiten strebt, sondern Divergenzen als den Lernorten immanente Lerngelegenheiten ansieht (Griffiths/Guile 2004; Toumi-Gröhn/Engeström 2003; Akkerman/Bakker 2011). Beide Lernorte scheinen dabei in komplementärer Form auf die Entwicklung von als Ressourcen verstandenen Kompetenzen zur Lösung von realen Aufgabenstellungen orientiert zu sein.

Wie in der Einleitung des Beitrags erwähnt, war die hier vorgestellte Studie Teil einer breiter angelegten qualitativen Untersuchung, welche unter anderem zur Vorbereitung einer quantitativen Fragebogenerhebung diente. Im Rahmen dieser Erhebung soll nun eruiert werden, inwieweit sich die oben skizzierten Vermutungen bei einer repräsentativen Stichprobe sowie unter Berücksichtigung von ausgewählten Kontrollvariablen (z.B. Umfang, in dem Reformmaßnahmen umgesetzt wurden oder weitere lernendenbezogene Variablen wie etwa Vorwissen und Motivation) erhärten lassen. Im Kontext des weiteren Forschungsvorhabens zur Integration des Lernens und Lehrens an verschiedenen Lernorten sollen außerdem die Gründe für die unterschiedlichen Wahrnehmungen in den verschiedenen Berufsfeldern erforscht werden. Ebenso soll der Frage nach dem Zusammenhang zwischen den individuellen Wahrnehmungen und der Kompetenzentwicklung der Auszubildenden nachgegangen werden.

Literatur

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[1] Die Berufsfachschulen der Schweiz entsprechen den deutschen Berufsschulen.

Zitieren des Beitrags

Aprea, C./Sappa, V. (2014): Kongruenzen und Divergenzen des Lernens in Schule und Betrieb: Die Perspektive von Auszubildenden in der schweizerischen Berufsbildung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 26, 1-17. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe26/aprea_sappa_bwpat26.pdf (13-10-2014).