Über bwp@
bwp@ ... ist das Online-Fachjournal für alle an der Berufs- und Wirtschaftspädagogik Interessierten, die schnell, problemlos und kostenlos auf reviewte Inhalte und Diskussionen der Scientific Community zugreifen wollen.
Newsletter
bwp@ 48 - Juni 2025
Berufliche/betriebliche Weiterbildung
Hrsg.:
, , &Potenziale der Strukturationstheorie für die berufs- und wirtschaftspädagogische Analyse der Weiterbildung(spolitik)
In der Berufs- und Wirtschaftspädagogik wird mitunter ein Theoriedefizit konstatiert. Mit dem Aufsatz soll einen Beitrag geleistet werden, dem zu begegnen, indem ein Vorschlag vorgelegt wird, mit Hilfe der Strukturationstheorie zu einer stärkeren analytischen Durchdringung spezifischer Forschungsgegenstände gelangen zu können. Exemplifiziert wird dies anhand der Nationalen Weiterbildungsstrategie (NWS), die sich durch ihre Adressierung sowohl struktureller Aspekte als auch individueller Handlungen hierfür in besonderer Weise anbietet. Die strukturationstheoretische Betrachtung bietet einen Ordnungsrahmen und bringt Erkenntnisse über Schwerpunkte und Leerstellen der Strategie. Im Ausblick werden weitere Schritte für eine noch differenziertere Analyse sowie Potenziale der Verwendung des theoretischen Ansatzes aufgezeigt.
The potential of structuration theory for analysing continuing education policy from the perspective of vocational and continuing education
In vocational and business education there is sometimes a lack of theory. This article is intended to adress this by presenting a proposal for using structuration theory to achieve a stronger analytical perspective of specific research subjects. This is exemplified by the National Continuing Education Strategy (NWS), which is particularly suitable for this purpose as it addresses both structural aspects and individual actions. The structuration-theoretical approach provides a framework and offers insights into the strategy's focal points and gaps. In the outlook, further steps for an even more differentiated analysis as well as potentials for the use of the theoretical approach are shown.
- Details
1 Einleitung
Die Berufsbildungsforschung steht vor der Aufgabe, politische Maßnahmen und Entwicklungen zur Förderung der beruflich-betrieblichen Weiterbildung und deren Resultate wissenschaftlich zu analysieren. Gleichzeitig ist jedoch nach wie vor das Fehlen eines geeigneten Theorierahmens für eine solche berufs- und wirtschaftspädagogische Durchdringung zu konstatieren (Meyer & Elsholz, 2009; Büchter, 2010). Vor diesem Hintergrund wird im Beitrag ein Theorieangebot in Form der Strukturationstheorie ausgeführt. Dessen Fruchtbarkeit wird im Hinblick auf die Analyse der Weiterbildungspolitik anhand der Nationalen Weiterbildungsstrategie (BMAS & BMBF, 2019) exploriert, auf dessen Fortführung sich die neue Bundesregierung verständigt hat (CDU/CSU & SPD, 2025, S. 74). Die Strukturationstheorie von Giddens (1997) hat den Anspruch, sowohl das Handeln der beteiligten Akteure als auch gleichermaßen strukturelle Bedingungen reflektieren zu können. Die Nationale Weiterbildungsstrategie (NWS) ist ein gutes Beispiel für die – hier explizit intendierte – Wechselwirkung zwischen institutionellen Strukturen und individuellen Handlungen und bietet sich daher für eine entsprechende Betrachtung an. Eine strukturationstheoretische Perspektive schützt hier vor einer Verkürzung auf entweder individualistische oder rein strukturelle Erklärungsmuster.
Der Beitrag führt Essentials der Strukturationstheorie ein und zeigt Potenziale, aber auch Limitationen einer entsprechenden Betrachtung für eine berufs- und wirtschaftspädagogische Analyse der Weiterbildungspolitik. Dazu wird zunächst in Kapitel 2 die Nationale Weiterbildungsstrategie als der zu analysierende Gegenstand kurz eingeführt. Im Kapitel 3 erfolgt dann eine Darstellung der Grundzüge der Strukturationstheorie, wobei bereits Bezüge zur Nationalen Weiterbildungsstrategie hergestellt werden. Schließlich wird in Kapitel 4 eine strukturationstheoretisch informierte Systematisierung der Inhalte der NWS vorgenommen und am Beispiel der Transparenz weiterbildungspolitischer Maßnahmen die Funktionalität der Theorie skizziert. Abschließend wird ein Ausblick auf weitere Optionen gegeben und der Ansatz der Strukturationstheorie im Hinblick auf seinen Nutzen für Analyse von Weiterbildungspolitik aus einer berufs- und wirtschaftspädagogischen Perspektive reflektiert.
2 Die Nationale Weiterbildungsstrategie
Als relevantes Anwendungsbeispiel für eine strukturationstheoretische Analyse im Feld der Berufs- und Wirtschaftspädagogik soll die Nationale Weiterbildungsstrategie dienen, die nachfolgend skizziert wird. Einer der Hintergründe für die Entwicklung einer solchen Strategie ist die Tatsache, dass das Feld der Weiterbildung in Deutschland im Vergleich zur Ausbildung mit seinem insbesondere durch das BBiG detailliert beschriebenen Ordnungsrahmen nur wenig geordnet und systematisiert ist. Konzeptionelle und bildungspolitische Ansätze, wie Sie beispielsweise mit dem Strukturplan für das Deutsche Bildungswesen in den 1970er Jahren einmal vorlagen, sind nicht umgesetzt (Leschinsky, 2005).
Eine der Folgen dieser mangelnden Systematisierung besteht darin, dass die Chance auf eine Teilnahme an Weiterbildung sehr ungleich verteilt ist. Weiterbildung reproduziert damit gesellschaftliche Ungleichheit, anstatt ihr entgegenzuwirken. Der Befund ist bereits recht alt (u. a. Faulstich, 1981), gilt aber seither weitgehend unverändert (Gillen, Elsholz & Meyer, 2010; Yendell, 2017; BMBF, 2024). Daran hat auch eine deutliche Ausweitung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats Ende der 1990er Jahre nichts geändert. Und auch tarifliche Vereinbarungen oder gar eigene Weiterbildungstarifverträge haben die in sie gesetzten Hoffnungen nur bedingt erfüllt (Bahnmüller & Fischbach, 2006; Bahnmüller, 2015). Die Gewerkschaften haben über viele Jahre ein Weiterbildungsgesetz gefordert, das wohl der stärkeren Systematisierung und Transparenz als auch der Erhöhung der Weiterbildungsteilnahme dienen sollte (ver.di, GEW & IG Metall, 2017). Dies hätte – strukturationstheoretisch betrachtet – auf der Strukturebene zu Veränderungen geführt, die wiederum individuelles Handeln beeinflussen. Politisch war dieses Ansinnen jedoch nicht durchsetzbar, da die geringe Regulierungsdichte von anderen bildungspolitischen Akteuren und insbesondere der Arbeitgeberseite durchaus positiv gesehen wurde und wird.
Die Weiterbildungsteilnahme in Deutschland bleibt trotz einer tendenziellen Zunahme in den letzten Jahrzehnten hinter den Erwartungen zurück. Insbesondere die persistente niedrige Beteiligungsquote Geringqualifizierter und anderer benachteiligter Gruppen ist sowohl mannigfaltig belegt als auch eine zwischen allen bildungspolitischen Akteuren gesehene Herausforderung. Vor diesem Hintergrund hat bereits die letzte Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Angela Merkel in ihrem Koalitionsvertag von 2018 die Entwicklung einer Nationalen Weiterbildungsstrategie verabredet:
„Mit dem Ziel, breiten Bevölkerungsteilen einen beruflichen Aufstieg zu erleichtern, die Fachkräftebasis zu stärken und die Beschäftigungsfähigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt nachhaltig zu fördern, wollen wir gemeinsam mit den Sozialpartnern und in enger Abstimmung mit den Ländern (und allen anderen Akteuren) eine Nationale Weiterbildungsstrategie entwickeln. Ein Ziel ist, alle Weiterbildungsprogramme des Bundes und der Länder zu bündeln, sie entlang der Bedarfe der Beschäftigten und der Unternehmen auszurichten und eine neue Weiterbildungskultur zu etablieren. Über die Bundesagentur für Arbeit erhalten alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Recht auf Weiterbildungsberatung“ (CDU, CSU & SPD, 2018, S. 50).
Hier werden bereits sowohl prozessuale Ziele („Bündelung“), spezifische Inhalte („Weiterbildungsberatung“) als auch prozedurale Aspekte hinsichtlich der Beteiligung weiterer Akteure angesprochen. Dieses Zusammenführen von Inhalten und Prozessen war eine der Ausgangsüberlegungen, warum die NWS geeignet erschien als Exempel für die nachfolgende strukturationstheoretische Durchdringung.
In der 2019 vorgestellten NWS spiegeln sich diese inhaltlichen und prozessualen Aspekte wider. Dort werden eine hohe Zahl an Beteiligten ausgewiesen, die unter gemeinsamer Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) an der Erstellung mitgewirkt haben. Beteiligt waren eine Vielzahl weiterer Akteure wie das Bundeswirtschaftsministerium, drei Fachministerkonferenzen der Länder (Arbeits- und Sozialministerkonferenz, Kultusministerkonferenz und Wirtschaftsministerkonferenz) sowie Sozialpartner und Wirtschaftsorganisationen sowie die Bundesagentur für Arbeit (BA) und darüber hinaus bildungspolitische Akteure der Sozialpartner (DGB und BDA) und die wichtigsten Branchenverbände (IG Metall und Gesamtmetall, BAVC und IG BCE). Insgesamt sind 17 beteiligte Institutionen aufgeführt, die z. T. – wie die Fachministerkonferenzen – noch eine Vielzahl weiterer beteiligter bildungspolitisch relevanter Akteure umfassen. Als Ziele der Nationalen Weiterbildungsstrategie wurden insgesamt zehn Handlungsfelder benannt (BMAS & BMBF, 2019):
- Die Transparenz von Weiterbildungsmöglichkeiten und -angeboten unterstützen.
- Förderlücken schließen, neue Anreize setzen, bestehende Fördersysteme anpassen.
- Lebensbegleitende Weiterbildungsberatung flächendeckend vernetzen und Qualifizierungsberatung insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen stärken.
- Die Verantwortung der Sozialpartner stärken.
- Die Qualität und Qualitätsbewertung von Weiterbildungsangeboten prüfen und stärken.
- Erworbene Kompetenzen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der beruflichen Bildung sichtbar machen und anerkennen.
- Fortbildungsabschlüsse und Weiterbildungsangebote entwickeln.
- Bildungseinrichtungen als Kompetenzzentren für berufliche Weiterbildung strategisch weiterentwickeln.
- Das Personal in der Weiterbildung stärken und für den digitalen Wandel qualifizieren.
- Die strategische Vorausschau stärken und die Weiterbildungsstatistik optimieren.
Schon bei erster Durchsicht der ausgeführten Ziele wird deutlich, dass diese auf ganz verschiedenen Ebenen angesiedelt sind und auch unterschiedliche Adressaten und Akteure ansprechen. Schwerpunkte der Weiterbildungsstrategie können in einem starken Fokus auf Geringqualifizierte gesehen werden. Auch Fragen der Weiterbildungsberatung werden adressiert, allerdings aus fachlicher Sicht durchaus unzureichend (Schiersmann, 2022).
Die Ampel-Koalition hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag 2021 auf eine Fortführung und Weiterentwicklung der NWS verständigt (SPD/Bündnis 90-Die Grünen & FDP, 2021). Einen entsprechender Umsetzungsbericht wurde im September 2022 veröffentlicht. Im Herbst 2023 fand auch eine sog. „Erste Nationale Weiterbildungskonferenz“ in Berlin statt. Derzeit ist eine weitere Konferenz für den Herbst 2025 angekündigt (BMAS, 2025).
Ein Spezifikum der Nationalen Weiterbildungsstrategie ist die Verbindung inhaltlicher Ansatzpunkte zur Steigerung von Weiterbildungsaktivitäten mit prozessualen Elementen. Daher sind neben den Handlungszielen auch die weitere Umsetzung und Gestaltung als eigener Abschnitt in der NWS ausgewiesen. Körfer et al. (2024) zeichnen auch den bildungspolitischen Prozess nach im Zuge der Umsetzung der NWS. Hier sind Arbeitsgruppen eingesetzt zu den Themen der Zukunfts- und Schlüsselkompetenzen, der Alphabetisierung und Grundkompetenzen, zu Qualifizierungskonzepten in der technologischen und ökologischen Transformation, zu Fragen der Zugänge, Beratung und Kompetenzerfassung für unterrepräsentierte Gruppen sowie schließlich im Hinblick auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Weiterbildungspersonals. Deren Berichte und Ergebnisse sind im jüngsten Umsetzungsbericht dokumentiert (BMAS & BMBF, 2025).
Die prozessualen Aspekte werden im jüngsten Umsetzungsbericht zur NWS erneut sehr prominent ausgewiesen: „Der vorliegende zweite Umsetzungsbericht dokumentiert die engagierte und produktive Arbeit der weiterbildungspolitischen Akteure. Er skizziert mit Blick auf die Ergebnisse und Empfehlungen der fünf Arbeitsgruppen auch Ansatzpunkte für eine Fortführung des weiteren Austausch- und Beratungsprozesses der NWS-Akteure in den nächsten Jahren. Die inhaltlichen Empfehlungen sind dabei erneut mit der Vereinbarung von eigenen Beiträgen (Commitments) und Selbstverpflichtungen der NWS-Partner unterlegt.“ (BMAS & BMBF, 2025, S. 2)
Die Einbindung einer Vielzahl von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren sowohl in die Entwicklung als auch in die Umsetzung und den weiteren Prozess in Form von Arbeitsgruppen kann als Spezifikum gelten, das zwar für das korporatistisch geprägte Feld der Aus- und Weiterbildung nicht gänzlich neu ist; so merken auch langjährige Beobachter des Feldes an, dass der Neuigkeitswert durchaus geringer ist als dies in den Verlautbarungen hierzu erscheint (Schiersmann, 2022). Dennoch besteht in der Anlage der NWS ein relevanter Unterschied etwa zum Erlass eines Gesetzes oder dem Abschluss eines Tarifvertrags durch die Sozialpartner.
3 Grundzüge der Strukturationstheorie und erste Anknüpfungspunkte
Zum besseren Verständnis des in Kapitel 4 vorgenommenen Zugriffs auf die NWS werden nachfolgend einige Essentials der Strukturationstheorie eingeführt und auch hier einige Bezüge hergestellt. Die Theorie der Strukturierung wurde in den 1970er und 1980er Jahren vom britischen Soziologen Anthony Giddens entwickelt. Der Ansatz findet vor allem in solchen wissenschaftlichen Disziplinen Beachtung, die sich mit der Analyse sozialer Prozesse beschäftigen. Hierzu gehören unter anderem die Soziologie (Reckwitz, 2020), die Organisations- und Managementforschung (Ortmann & Sydow, 2001; Walgenbach, 2006) sowie die Organisationssoziologie (Wilz, 2020). Auch in der Erziehungswissenschaft (z. B. Kuper, 2000) sowie der Berufs- und Wirtschaftspädagogik (Dehnbostel, 2015; Molzberger, 2007; Hiestand, 2017) finden sich Arbeiten, die sich entsprechend verorten. Die Theorie der Strukturierung gilt als sozialtheoretischer, mittlerweile auch als praxistheoretischer Zugang auf Metaebene, der für vielfältige Forschungsfragen herangezogen werden kann. Mit seinem Ansatz rückt Giddens sowohl von deterministischen Positionen ab, die davon ausgehen, dass Strukturen Individuen dominieren und unabhängig von diesen existieren, als auch von voluntaristischen Ansätzen, bei denen Handeln als frei und unabhängig von Strukturen betrachtet wird (Giddens 1997, S. 34). Er will diesen Dualismus vielmehr überwinden, indem er das Verhältnis von Handlung und Struktur neu definiert. Die Theorie der Strukturierung stellt in sich geschlossenes Theoriegebäude dar, sondern besteht, wie im Weiteren noch ausgeführt wird, aus mehreren Komponenten, die durch das Kerntheorem der Theorie der Strukturierung miteinander verbunden sind: der Dualität von Struktur.
3.1 Dualität von Struktur und soziale Praktiken
Mit „Dualität von Struktur“ ist gemeint, dass die sozialen Akteure in ihren und durch ihre Handlungen die Bedingungen (Strukturen) produzieren und reproduzieren, und, dass Strukturen sowohl das Medium als auch das Ergebnis sozialen Handelns sind (Walgenbach 2006, S. 406). In Abbildung 1 wird dieser Zusammenhang verdeutlicht.
Abbildung 1: Die Dualität von Struktur und Handeln (Bamberger & Wrona, 2006, S. 81)
Für eine Analyse der Nationalen Weiterbildungsstrategie bedeutet dies, dass Strukturen und Handeln zwar aus methodologischen Gründen getrennt voneinander betrachtet werden können, tatsächlich aber wechselseitig aufeinander bezogen sind. Die Strukturen selbst existieren nicht als eigenständige Phänomene, sondern immer nur in Form von Handlungen oder sozialen Praktiken der Akteure (Kießling, 1988, S. 290). Diese wiederum lassen sich daran erkennen, dass „das Verhalten von mehreren Akteuren aufeinander Bezug nimmt oder voneinander abhängig ist und auf diese Weise soziale Beziehungen entstehen lässt“ (Cappallo, 2008, S. 111). Im Ausüben dieser Praktiken drückt sich zudem das Wissen über Regeln und Ressourcen des sozialen Systems aus.
Entsprechende Beziehungen gelten auch im Rahmen der NWS, denn sie veranlasst Eingriffe in laufende Interaktionen und Handlungen vieler Beteiligter. Sie zielt mit ihren Maßnahmen auf eine Zunahme der Weiterbildungsbeteiligung und damit auf eine Veränderung sozialer Praktiken. Die angesprochene Zielgruppe ihrerseits bezieht sich auf die neu etablierten Strukturen und handelt nach eigenem Ermessen mit entsprechenden Auswirkungen auf die Weiterbildungsteilnahme – und dieser Kreislauf setzt sich entsprechend fort. Sowohl die NWS als auch die Weiterbildungsbeteiligten sind damit an der Reproduktion des sozialen Systems beteiligt, was grundsätzlich sowohl Stillstand als auch Veränderung bedeuten kann. Die bisherige Persistenz der ungleichen Weiterbildungsteilnahme ist daher auch dadurch begründet, dass die Akteure durch ihr Handeln – und auch die Nicht-Teilnahme ist ja ein Handeln – auf die bisherigen Strukturen Bezug nehmen und diese damit reproduzieren.
3.2 Dimensionen der Dualität von Struktur
Mit seinem Modell der „Dimensionen der Dualität von Struktur“ vertieft Giddens seine Überlegungen zur Rekursivität von Struktur und Handlung. In Abbildung 2 sind in Erweiterung der Abbildung 1 nun drei Ebenen zu sehen: zunächst die Strukturebene – dann die (gestrichelte) Ebene der Modalitäten – und schließlich die Handlungsebene. Die Grafik veranschaulicht zudem, dass nicht nur die unterschiedlichen Ebenen, sondern auch die Dimensionen rekursiv aufeinander bezogen sind. Auf der Strukturebene werden drei grundlegende Strukturdimensionen genannt: die Signifikation und die Legitimation, die als Regeln des sozialen Systems zu verstehen sind, sowie die Herrschaft, die sich über ihre Machtmittel in Form von Ressourcen definieren lässt.
Abbildung 2: Dimensionen der Dualität von Struktur (in Anlehnung an Giddens, 1997, S. 81)
Auf der Strukturebene ist mit Signifikation die Konstitution von Sinn (von Objekten, Handlungen, Situationen und Sachverhalten) gemeint. Signifikation ist insofern in Verbindung mit Legitimation zu betrachten, als Sinnvorstellungen auch dazu dienen können, die eigenen Handlungen zu erklären und/oder normativ zu rechtfertigen. Ebenso ist es wichtig Signifikationsstrukturen in Verbindung mit Herrschaft zu sehen, weil Macht als integraler Bestandteil menschlichen Handelns zu begreifen ist (Giddens, 1997, S. 85). Die Signifikation ist auch für die Öffentlichkeitsarbeit der NWS von Bedeutung: Die Stiftung von Sinn kann sich hier zum Beispiel auf Ziele der Strategie, auf die Bedeutung der Weiterbildungsberatung, eines neuen Gesetzes oder auch den Einsatz eines neuen Weiterbildungsportals beziehen.
Die Dimension Herrschaft umfasst allokative Ressourcen (z. B. finanzielle Mittel, Material und Zeitbudgets) sowie autoritative Ressourcen (z. B. Weisungsbefugnis, Personaleinsatz). Diese Ressourcen stellen die Grundlage für das Handlungsvermögen der Akteure dar und gelten „als Routineelement der Realisierung von Verhalten“ (Giddens, 1997, S. 67). Ohne diese Machtmittel (Fazilitäten) wären die Ziele der NWS kaum zu verwirklichen, denn sie sind gleichzeitig auch eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass soziale Regeln von den Akteuren auch angewendet und durchgesetzt werden können. Die Strukturationstheorie betont jedoch, dass, selbst wenn Macht ungleichmäßig verteilt ist, alle Akteure im Alltag stets gewisse Handlungsspielräume haben. Wenn beispielsweise gering qualifizierte Personen kein Interesse an Weiterbildung zeigen, bleibt ihnen der Handlungsspielraum, sich den Zielen der NWS zu entziehen und weiterhin nicht an Weiterbildung teilzunehmen.
Die Dimension Legitimation umfasst die Prinzipien angemessenen sozialen Handelns in Form von Normen. Normen sind den Akteuren in ihrem alltäglichen Handeln bewusst, und indem sie sich hierauf beziehen, werden diese reproduziert. Ausformulierte bürokratische Regelungen oder auch Gesetze betrachtet Giddens eher als „kodifizierte Interpretationsregeln, denn Regeln als solche“ (Giddens, 1997, S. 73). Das Nichteinhalten von Regeln kann – und hier ist erneut der Machtaspekt erkennbar – auf der Handlungsebene sanktioniert werden.
Zwischen der Struktur- und der Handlungsebene fügt Giddens die Ebene der Modalitäten ein. Diese sind als Speichermedien oder auch Erinnerungsspuren zu verstehen, auf die die Akteure in ihren Handlungen zurückgreifen. „Damit Strukturen praktisch wirklich werden können, müssen sie durch das Nadelöhr des Bewußtseins oder der Wahrnehmung der handelnden Individuen hindurch. Die Strukturen gewinnen zunächst Existenz in der Form von Elementen des Alltagswissen der Subjekte“ (Kießling, 1988, S. 290). Mittels Interpretativer Schemata ermitteln die Akteure den Sinn, den sie beispielsweise mit Weiterbildungsberatung in Verbindung bringen. Sie kennen die im Rahmen des sozialen Systems verfügbaren Machtmittel und haben Wissen und Erfahrungen in Bezug auf die in einer Gesellschaft geschriebenen und ungeschriebenen Normen. „Die Individuen erfinden ihre sozialen Praktiken schließlich nicht aus dem Nichts, sondern greifen auch im Denken auf Vorgefundenes zurück – nicht nur, wenn sie routinemäßig den Konventionen ihres Alltags folgen“ (Lamla, 2002, S. 50). Dies alles wirkt sich auf der Handlungsebene in der Kommunikation mit anderen Akteuren aus, ebenso auf den Einsatz von Macht und auch auf den Umgang mit Normen, inklusive möglicher Sanktionen. So betrachtet mobilisieren Akteure in Interaktionsprozessen die situativen Modalitäten ihres Handelns (Binder-Tietz, 2022, S. 25). Alle sozialen Handlungen, auch die in einem Staat, einer Organisation oder in der Familie, lassen sich grundsätzlich entlang dieser Dimensionen analysieren. Im Rahmen einer strukturationstheoretischen Analyse sollten jedoch immer alle Dimensionen beachtet werden. Für ein besseres Verständnis der Handlungssteuerung wird nachfolgend der Zusammenhang von Wissen, Können und Handeln in wesentlichen Zügen umrissen.
3.3 Zusammenhang von Wissen und Handeln
Zu den zentralen Annahmen der Strukturationstheorie gehört, dass Akteure bewusst, aktiv und mit Folgen in laufendes Geschehen eingreifen können (Giddens, 1997, S. 60). Giddens unterscheidet hierbei verschiedene Formen der Handlungssteuerung, die auf jeweils unterschiedlichen Wissens- respektive Bewusstseinsformen basieren. Es handelt sich hierbei um die eingangs erwähnten zusätzlichen Komponenten der Theorie, die, weil ihre Zusammenhänge auch für die Weiterbildungsteilnahme relevant sind, nachfolgend in ihrer Wechselwirkung erläutert werden.
Die reflexive Handlungssteuerung bezieht sich auf das Alltagshandeln. Akteure beobachten und steuern fortlaufend ihre eigenen Aktivitäten sowie die Kontexte ihres Handelns und erwarten dies auch von anderen Akteuren (Giddens, 1997, S. 55). Das hierzu notwendige implizite Routinewissen kann über das handlungspraktische Bewusstsein abgerufen werden. Es ermöglicht alltägliche Abläufe, lässt sich aber zunächst nicht in Worte fassen. Giddens legt den Schwerpunkt auf dieses handlungspraktische Bewusstsein. Er bezeichnet es als fundamental für die Theorie der Strukturierung, weil es alles umfasst, was die Handelnden im täglichen Leben wissen müssen.
Bei der Handlungsrationalisierung ist das notwendige Wissen im diskursiven, zugänglichen Bewusstsein gespeichert und versetzt Akteure in die Lage, das eigene Handeln, zum Beispiel in Problemlagen oder bei Rückfragen, erklären (rationalisieren) zu können. Angenommen wird zudem, dass das handlungspraktische Wissen (zum Beispiel durch Reflexion) in das diskursive Wissen überführt werden kann. Diese Fähigkeit, implizites Wissen verfügbar machen und in Worte fassen zu können, ist beispielsweise im Rahmen der Kompetenzfeststellung von Bedeutung.
Die Handlungsmotivation schließlich bezieht sich auf Bedürfnisse, die möglicherweise wirksam werden, den Handelnden jedoch nicht bewusst und nicht direkt in das kontinuierliche Handeln einbezogen sind (Giddens, 1997, S. 57). Fragen der Motivation werden auch im Rahmen der NWS, insbesondere im Zusammenhang mit gering qualifizierten Personen thematisiert.
Den Bedingungsrahmen des Handelns können die Akteure sowohl auf handlungspraktischer als auch auf diskursiver Ebene erfassen – vollständig überblicken können sie den Kontext jedoch nicht. Dies kann dazu führen, dass Handlungen unter zum Teil unerkannten Handlungsbedingungen unbeabsichtigte Folgen haben können (Giddens, 1997, 56). Um auch hier ein Beispiel zu nennen, kann dies dann geschehen, wenn aufgrund mangelnder Kenntnis in Bezug auf Fördermöglichkeiten aus finanziellen Gründen auf eine Weiterbildungsmaßnahme verzichtet wird.
Die Eignung der Strukturationstheorie für eine Betrachtung der NWS wird an dieser Stelle bereits erkennbar, denn sie informiert über den Inhalt und das Zusammenwirken der wesentlichen Dimensionen sozialer Systeme. Sie trifft Aussagen zu Handlungsvermögen und Wissen der Akteure und der hiermit verbundenen Handlungssteuerung und kann, basierend auf der Grundannahme der Rekursivität von Struktur und Handlung, neben der Stabilität sozialer Systeme auch deren Wandel nachvollziehen.
4 Strukturationstheoretische Betrachtung der Nationalen Weiterbildungsstrategie
Die Nationale Weiterbildungsstrategie wird im Folgenden als bildungspolitische Vorgehensweise im Rahmen eines sozialen Systems beschrieben – die menschlichen Akteure gelten dabei aus strukturationstheoretischer Sicht als „ein kompetentes oder handlungsmächtiges Subjekt, das sich bewusst und in reflexiver Manier mit seiner materiellen und sozialen Umwelt auseinandersetzt und in diese eingreift“ (Kießling, 1988, S. 291). Mit Reflexivität ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass die Handelnden auf den fortlaufenden Prozess des gesellschaftlichen Lebens (mehr oder weniger bewusst) steuernden Einfluss nehmen (Giddens, 1997, S. 53). Auch für eine Betrachtung der NWS gilt im Folgenden die grundlegende strukturationstheoretische Annahme, dass Akteure durch ihre Handlungen die Bedingungen (Strukturen) reproduzieren, die ihr Handeln ermöglichen, und auch, dass Strukturen sowohl Medium als auch Ergebnis sozialen Handelns sind. Dies bedeutet unter anderem, dass die NWS im Hinblick auf die Weiterbildungsteilnahme nur in dem Umfang etwas bewirken kann, wie auch die potenziellen Weiterbildungsinteressierten und die weiteren Akteure sich in ihrem Handeln auf diese neuen Strukturen beziehen und ihre bisherigen Praktiken verändern.
Vor dem Hintergrund des Wandels in der Arbeitswelt werden von den Partnern der NWS seit 2019 strukturelle Änderungen eingeleitet, mit denen vor allem Diejenigen erreicht werden sollen, deren Weiterbildungsbeteiligung erhöht und deren Beschäftigungsfähigkeit hierdurch erhalten, respektive hergestellt werden soll.
Um für eine Analyse einen Überblick gewinnen zu können, bietet sich die Möglichkeit an, die aus den zehn Handlungsfeldern der NWS jeweils resultierenden Aufgaben (BMAS/BMBF, 2019, 2021) analytisch den oben ausgewiesenen Dimensionen Signifikation, Herrschaft und Legitimation zuzuordnen (vgl. Kapitel 2; Abbildung 2). Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass die Aufmerksamkeit sich schon bei Durchsicht der von der NWS veröffentlichten Dokumente in geordneter Weise auf die von der Strukturationstheorie als grundlegende Dimensionen sozialer Systeme ausgewiesenen Bereiche richten kann:
Im Bereich der Signifikation geht es unter anderem darum, wie die Ziele der NWS vermittelt werden, welche Bedeutung die beim Jobcenter angesiedelten Maßnahmen haben und welche Möglichkeiten die diversen Fördermaßnahmen beinhalten. Der Sinn, der hinter Positionen, Entscheidungen oder Maßnahmen der Akteure steht, hat immer mit Fragen der Legitimation und vor allem auch mit Macht zu tun. Wie also, so ist strukturationstheoretisch zu fragen, wird dieser Sinn vermittelt, wie und in welchem Umfang wird für Transparenz gesorgt, oder wie werden die Zielgruppen zum Beispiel in Unternehmen oder bei Jobcentern mit neuen Weiterbildungsangeboten erreicht und mit welchem Ergebnis?
Im Bereich der Macht (Herrschaftsordnung) sind sowohl materielle Ressourcen wie die finanzielle Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen, die Entwicklung von E-Learning Plattformen, von Weiterbildungsportalen, Infotelefonen oder auch personelle Aspekte wie die Macht der Ministerien (als federführende Partner), die Einsetzung von Ausschüssen und Experten, die Fortbildung von Dozenten oder der Einsatz von Weiterbildungsmentorinnen und -mentoren angesprochen. Auch hier ergeben sich viele mögliche Fragen, die wiederum in Verbindung mit Legitimation und Signifikation zu sehen sind.
Mit der dritten Dimension, der Legitimation, sind Rechte und Verpflichtungen gemeint, die im Rahmen der NWS auch mit Sanktionen verbunden sein können. Zum Bereich der Legitimation gehören zum Beispiel Gesetze, Betriebsvereinbarungen, tarifliche Regelungen, Fortbildungsordnungen, Zertifizierungsregelungen, Zulassungsverfahren für Weiterbildungsanbieter et cetera. Fragen können über diese Themenbereiche hinaus auch Regeln betreffen, die im Alltag in Form impliziten Wissens als Selbstverständlichkeiten reproduziert werden.
Durch Zuordnung der Maßnahmen der NWS zu den Strukturdimensionen ergibt sich ein Ordnungsrahmen, der Hinweise auf weitergehende Forschungsfragen enthält. Um ein Beispiel zu nennen, fällt im Bereich der Signifikation auf, dass die Partner der NWS selbst wiederholt auf mangelnde Transparenz und hieraus resultierende Informationsdefizite der potentiell Weiterbildungsinteressierten hinweisen. Bereits zu Beginn des ersten Umsetzungsberichtes wird darüber informiert, dass Weiterbildungsinteressierte noch zu häufig Schwierigkeiten haben, unter den bestehenden, zunehmend auch digitalen Angeboten passende Weiterbildungen zu identifizieren und Fördermöglichkeiten in Anspruch zu nehmen (BMAS & BMBF, 2021, S. 23). Im Umsetzungsbericht 2025 wird angekündigt, dass die Bekanntheit und Inanspruchnahme bestehender Förderinstrumente noch weiter in der Fläche gesteigert werden soll (BMAS & BMBF, 2025, S. 22) und die AG „Zugänge, Beratung und Kompetenzerfassung für unterrepräsentierte Gruppen“ betont, dass es erfolgsentscheidend ist, ob und wie der persönliche Zugang z. B. durch aufsuchende Beratung gelingen kann. Bestehende Angebote sollen daraufhin überprüft und erfolgreiche Angebote ausgebaut werden (BMAS & BMBF, 2025, S. 37).
Im Folgenden soll nun exploriert werden, inwieweit die Strukturationstheorie zu mehr Aufschluss im Hinblick auf die Transparenz der weiterbildungspolitischen Maßnahmen der NWS beitragen kann.
4.1 Die Strukturationstheorie als Analyserahmen
Die von der NWS thematisierte Transparenz verschiedener weiterbildungspolitischer Maßnahmen lässt sich in Giddens Grafik bezüglich der Dimensionen der Dualität von Struktur (vgl. Abbildung 2) grundsätzlich dem Bereich der Signifikation zuordnen, denn hier geht es um die Konstitution von Sinn und um Verständlichkeit. Transparenz ist in diesem Zusammenhang als Mittel und Ergebnis von Kommunikation zu begreifen.
Auf der Ebene der Modalitäten – dem Verbindungsstück zwischen Struktur und Handlung – ist das Wissen der Weiterbildungsinteressierten zum Beispiel bezüglich der zuvor genannten Themen sowie die Art und Weise, wie sie diese interpretieren, kognitiv gespeichert. Weiterbildung kann demnach sowohl als persönliche Chance gesehen werden, aber auch als Risiko und mit der Befürchtung verbunden sein, den Anforderungen möglicherweise nicht gerecht werden zu können. Es kann in Bezug auf die gesellschaftliche Ebene ein Verständnis von Weiterbildung als Beitrag zur Fachkräftesicherung und zum Erhalt von Arbeitsplätzen entstehen, oder auch um die Einordnung des Begriffs „Weiterbildungsrepublik“ gehen: die Adressaten der Weiterbildungspolitik greifen in ihrem Handeln jeweils auf ihre entsprechenden Wissensstrukturen und die hiermit verbundenen interpretativen Schemata zurück, wobei es sich hier in erster Linie um implizites Wissen handelt (vgl. Kapitel 3.3), das in der Regel nicht alle individuell relevanten Informationen zur Weiterbildung umfasst.
Auf der Handlungsebene schließlich zeigt sich, in welcher Weise die Akteure sich im Rahmen der Kommunikation auf vorhandenes Wissen und hiermit verbundene interpretative Muster beziehen, und inwieweit sie damit zur Re-produktion von Weiterbildungsstrukturen beitragen. Die Frage, ob die Dimension Kommunikation auf der Handlungsebene ein Aspekt von Interaktion ist, mit dieser gleichzusetzen ist, oder, ob Interaktion eine spezifische Form von Kommunikation ist, lässt Giddens hierbei offen (Wilz, 2020, S. 14).
Eine vollständige Analyse weiterbildungspolitischer Transparenz würde darüber hinaus auch die Dimensionen Herrschaft und Legitimation auf Struktur- Modalitäten- und Handlungsebene mit beachten, was an dieser Stelle jedoch nicht ausführlich umgesetzt werden soll. Um aber auch hier Beispiele zu nennen, könnte es im Rahmen der Dimension Herrschaftsordnung und deren Einfluss auf die Transparenz darum gehen, wie Beratungsaufgaben geplant und welche Ressourcen hierbei eingesetzt werden – und im Bereich der Legitimation zum Beispiel darum, inwiefern unklare, beziehungsweise widersprüchliche (gesetzliche) Regelungen zu eingeschränkter Transparenz beitragen können (vgl. Nixdorf, 2021).
Die Theorie zeigt an diesem Beispiel, dass sie als Rahmentheorie Grundlagen für die Untersuchung sozialer Praktiken in ganz unterschiedlichen Bereichen der NWS bereitstellen kann. Denkbar wäre neben vielen anderen möglichen Themen zum Beispiel auch die Frage nach interpretativen Schemata, Machtmitteln und Normen der Akteure im Rahmen eines Vergleiches der betrieblichen Weiterbildung mit einer von der Agentur für Arbeit angeregten Weiterbildungsmaßnahme.
4.2 Potenziale und Limitationen der Theorie
Das Potenzial der Strukturationstheorie ist hinsichtlich einer Betrachtung der NWS darin zu sehen, dass sie auch komplexe Sachverhalte und Vorgänge einordnen, hinsichtlich wesentlicher Gesichtspunkte analysieren und in ihrer Dynamik nachverfolgen kann. Aufgrund ihrer offenen wissenschaftstheoretischen Position sind zudem ausgewählte Theorien zur Vertiefung anschlussfähig. Limitationen bestehen insofern, als die Theorie auf einem metatheoretischen Niveau verbleibt, somit grundlegende Konzepte und deren Zusammenhänge im Detail offenlässt, und diese folglich immer wieder neu erörtert und begrifflich präzisiert werden müssen (Wilz 2022, S. 14).
Giddens selbst weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es ihm vor allem um die Entwicklung eines grundlegenden Konzeptes geht: „As I have remarked often before, its concepts should be regarded as sensitizing devices, to be used in a selective way in thinking about research questions or interpreting findings. . . . On the whole I like least those works in which authors have attempted to import structuration theory in toto (Hervorhebung durch Verf.) into their given area of study. The overall framework of structuration theory I hope, is relevant to anyone writing about very broad questions of social organization and transformation, as I tend myself to do“ (Giddens, 1991, S. 201).
5 Abschluss und Fazit
Die Berufsbildungspolitik gehört nach wie vor zu den theoretisch und empirisch kaum behandelten Themen in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik“ (Büchter & Eckelt, 2022, S. 107). Grundsätzlich kann sie von der Berufsbildungsforschung auf verschiedene Art und Weise adressiert werden: die Ansätze lassen sich von problemlösungsorientierten bis hin zu analytischen und theorieorientierten Zugängen unterscheiden (Klassen, Schmees & Steib, 2022, S. 74). So stehen bspw. die Vorschläge der Arbeitsgruppe 9 + 1 (2022) für einen eher problemlösungsorientierten Zugang, während für diesen Beitrag eine stärker analytische Betrachtungsweise gewählt wurde.
Inhaltlich ging es um einen strukturationstheoretischen Zugang zur Nationalen Weiterbildungsstrategie, die als zentrales Vorhaben der Weiterbildungspolitik in Deutschland gilt und sich durch hohe Komplexität auszeichnet. Um diese erste Analyse weiter zu vertiefen, sind im Sinne der Strukturationstheorie weitere empirische Erhebungen angezeigt. Diese bestünden zunächst in einer genaueren Dokumentenanalyse der Berichte, Unterlagen und Verlautbarungen der NWS, wie etwa dem jüngsten Umsetzungsbericht (BMAS & BMBF, 2025). Daran würde sich eine weitere Fundierung in Form von Befragungen der Akteure anschließen, um eine strategische Analyse im Sinne der Strukturationstheorie zu ermöglichen.
Ein häufigerer Einbezug dieses theoretischen Ansatzes würde der Berufs- und Wirtschaftspädagogik einen analytischen Blick auf diverse Themenbereiche, insbesondere im Feld der Berufsbildungs- und Weiterbildungspolitik eröffnen.
Literatur
Arbeitsgruppe 9 + 1 (2022). Zukunftsfähig bleiben! 9 + 1 Thesen für eine bessere Berufsbildung. https://www.bibb.de/dienst/publikationen/de/17769
Bahnmüller, R. (2015). Tarifvertragliche Weiterbildungsregulierung in Deutschland – Formen, Effekte und Perspektiven für überbetriebliche Weiterbildungsfonds. In K. Berger, R. Jaich, B. Mohr, D. Moraal, H. U. Nordhaus & S. Kretschmer (Hrsg.), Sozialpartnerschaftliches Handeln in der betrieblichen Weiterbildung (S. 61–78). W. Bertelsmann Verlag
Bahnmüller, R. & Fischbach, S. (2006). Qualifizierung und Tarifvertrag. Befunde aus der Metallindustrie Baden-Württembergs. VSA-Verlag.
Bamberger, I. & Wrona, T. (2006). Strategische Unternehmensführung. Strategien, Systeme, Methoden. Prozesse (1. Aufl.). Vahlen.
Binder-Tietz, S. (2022). Kommunikation von Aufsichtsratsvorsitzenden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37717-5_2
BMAS (2025). Weiterbildung mit Strategie. https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Aus-und-Weiterbildung/Berufliche-Weiterbildung/Nationale-Weiterbildungsstrategie/nationale-weiterbildungsstrategie.html
BMAS & BMBF (2019). Strategiepapier: Nationale Weiterbildungsstrategie. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Aus-Weiterbildung/strategiepapier-nationale-weiterbildungsstrategie.html
BMAS & BMBF (2021). Umsetzungsbericht: Nationale Weiterbildungsstrategie. https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Broschueren/a805-umsetzungsbericht-nationale-weiterbildungsstrategie.html
BMAS & BMBF (2022). Fortführung und Weiterentwicklung: Nationale Weiterbildungsstrategie. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Aus-Weiterbildung/nws-fortfuehrung-und-weiterentwicklung.html
BMAS & BMBF (2025). Umsetzungsbericht: Nationale Weiterbildungsstrategie. Berlin. https://www.bmbf.de/DE/Bildung/Weiterbildung/BeruflicheWeiterbildung/NationaleWeiterbildungsstrategie/nationaleweiterbildungsstrategie_node.html
BMBF (2024). Weiterbildungsverhalten in Deutschland 2022. https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/1/26667_AES-Trendbericht_2022.pdf
Büchter, K. (2010). Berufliche Weiterbildungsbeteiligung. Theoretische und historiographische Zugänge. bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, 19, 1–20, http://www.bwpat.de/ausgabe19/buechter_bwpat19.pdf.
Büchter, K. & Eckelt, M. (2022). Berufs- und Wirtschaftspädagogik und Berufsbildungspolitik – eine Verhältnisfrage. In Berufsbildung, Beruf und Arbeit im gesellschaftlichen Wandel (S. 107–125). Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37897-4_8
Cappallo, S. (2008). Strukturationstheorie als Grundlage der Strategischen Managementforschung. In Wrona, T. (Hrsg.) Strategische Managementforschung. Aktuelle Entwicklungen und internationale Perspektiven (S. 105–126). Gabler.
CDU, CSU & SPD (2018). Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Berlin
CDU, CSU & SPD (2025). Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 21. Legislaturperiode. www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag2025_bf.pdf
Dehnbostel, P. (2015). Betriebliche Bildungsarbeit. Kompetenzbasierte Aus- und Weiterbildung im Betrieb (2. Aufl.). Schneider Verlag Hohengehren.
Faulstich, P. (1981). Arbeitsorientierte Erwachsenenbildung. Diesterweg.
Giddens, A. (1997). Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung (3. Aufl.). Campus-Verl.
Giddens, A. (1991) Structuration Theory: past, present and future. In Bryant, C. G. A. & D: Jary (Hrsg.) Giddens’ Theory of Structuration: A Critical Appreciation (S. 201–221). Routledge.
Gillen, J., Elsholz, U. & Meyer, R. (2010). Soziale Ungleichheit in der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung – Stand der Forschung und Forschungsbedarf. Arbeitspapier 191 der Hans-Böckler-Stiftung. http://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_191.pdf
Hiestand, S. (2017). Wechselwirkungen individueller Kompetenz- und betrieblicher Organisationsentwicklung im Brauwesen und in der IT-Branche. bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, 32, 1–19. http://www.bwpat.de/ausgabe32/hiestand_bwpat32.pdf
Kießling, B. (1988). Die „Theorie der Strukturierung“. Ein Interview mit Anthony Giddens. Zeitschrift für Soziologie, 17(4), 286–295.
Kuper, H. (2000). Weiterbildung im sozialen System Betrieb. Gabler.
Klassen, J., Schmees, J. K. & Steib, C. (2022). Berufsbildungspolitik als Forschungsfeld: Gegenstände und Zugänge. In M. Eckelt, T. Ketschau, J. Klassen, J. Schauer, J. K. Schmees & C. Steib (Hrsg.), Berufsbildung, Arbeit und Innovation. Berufsbildungspolitik: Strukturen – Krise – Perspektiven. WBV Media. https://doi.org/10.3278/9783763972623
Körfer, A., Köster, F., Winkler, M. & Scheren, P. (2024). Die Nationale Weiterbildungsstrategie – Eine bildungspolitische Initiative zur Stärkung der Weiterbildung in Deutschland. In K. H. Gerholz, S. Annen, R. Braches-Chyrek, J. Hufnagl & A. Wagner (Hrsg.), bwp@ Spezial HT2023: Hochschultage Berufliche Bildung 2023, 1–21. https://www.bwpat.de/ht2023/koerfer_etal_ht2023.pdf
Lamla, J. (2002). Anthony Giddens. Campus.
Leschinsky, A. (2005). Vom Bildungsrat (nach) zu PISA. Eine zeitgeschichtliche Studie zur deutschen Bildungspolitik. Zeitschrift für Pädagogik, 51 (2005) 6, 818–839; DOI: 10.25656/01:4784
Meyer, R. & Elsholz, U. (2009). Berufliche und betriebliche Weiterbildung als Gegenstand der Berufs- und Wirtschaftspädagogik – Desiderata und neue Perspektiven für Theorie und Forschung. bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, 16, 1–15. www.bwpat.de/ausgabe16/meyer_elsholz_bwpat16.pdf.
Molzberger, G. (2007). Rahmungen informellen Lernens. Springer VS.
Nixdorf, C.P. (2021). Bringt das weiter? Zur Umsetzung der Nationalen Weiterbildungsstrategie im Jobcenter. SOZIALE SICHERHEIT, 11, 392–395.
Ortmann, G. & Sydow, J. (2001). Strukturationstheorie als Metatheorie des strategischen Managements – zur losen Integration der Paradigmenvielfalt. Strategie und Strukturation: Strategisches Management von Unternehmen, Netzwerken und Konzernen, 421–447.
Reckwitz, A. (2020). Anthony Giddens. In D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens. (6. Aufl., S. 311–337). Beck.
Schiersmann, C. (2022). Weiterbildungsberatung im Kontext der nationalen Weiterbildungsstrategie: Finanzielle und strukturelle Aspekte. Hessische Blätter für Volksbildung, 72(1), 43–53.
SPD, Bündnis 90/Die Grünen, & FDP (2021). Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021–2025. https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1989762/9069d8019dabe546c2449dda2d838453/2021-12-08-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1)">https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1989762/9069d8019dabe546c2449dda2d838453/2021-12-08-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1[1]
Walgenbach, P. (2006). Die Strukturationstheorie. In A. Kieser & M. Ebers (Hrsg.), Organisationstheorien (S. 403-426, 6. Aufl.). Kohlhammer
Wilz, M. (2020). Praxistheorie und Organisationsforschung. Anthony Giddens. In M. Apelt, I. Bode, R. Hasse, U. Meyer, V. V. Groddeck, M. Wilkesmann & A. Windeler (Hrsg.), Handbuch Organisationssoziologie. Springer Reference Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15953-5_13-1.
Ver.di, GEW & IG Metall (2017). Weiterbildung reformieren: Sechs Vorschläge die wirklich helfen. https://www.gew.de/fileadmin/media/publikationen/hv/Weiterbildung/Initiative_Bundesregelungen_Weiterbildung/2017-10_Weiterbildung-reformieren.pdf
Yendell, A. (2017). Soziale Ungleichheiten in der beruflichen Weiterbildung. Springer VS.
Zitieren des Beitrags
Ackerschott, M. & Elsholz, U. 2025). Potenziale der Strukturationstheorie für die berufs- und wirtschaftspädagogische Analyse der Weiterbildung(spolitik). bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, 48, 1–16. https://www.bwpat.de/ausgabe48/ackerschott_elsholz_bwpat48.pdf