bwp@ 48 - Juni 2025

Berufliche/betriebliche Weiterbildung

Hrsg.: Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Ina Krause & Lars Windelband

Digitale Weiterbildungsnachweise – Potenziale, Bewertungen und Anschlussfragen für die berufliche Weiterbildung

Beitrag von Jörg Neumann, Jana Riedel & Lydia Stark
Schlüsselwörter: Digitale Nachweise, ESCO, Verifiable Credentials, Digitale Identitäten

Der vorliegende Beitrag beschreibt, inwiefern digitale Weiterbildungsnachweise die Dokumentation und Beurteilung von Lernergebnissen verändern können. Neben der theoretischen Einordnung der Bedeutung von Weiterbildungsnachweisen wird dargestellt, welche technischen und inhaltlichen Merkmale bei digitalen Weiterbildungsnachweisen umgesetzt werden können. Anschließend werden die Perspektiven der unterschiedlichen Nutzenden solcher Nachweise – Lernende, Bildungseinrichtungen und Arbeitgebende – anhand empirischer Daten dargelegt. Auf dieser Grundlage wird abschließend reflektiert, welche Potenziale digitale Nachweise für das Weiterbildungssystem und die jeweiligen Akteur:innen haben und welche Fragestellungen sich daraus für die Weiterbildungsforschung ergeben.

Digital certificates for vocational education and training – potentials, evaluations and follow-up questions for vocational education and training

English Abstract

This article describes the extent to which digital certificates for vocational education and training (VET) can change the documentation and assessment of learning outcomes. In addition to a theoretical assessment of the significance of VET certificates, the technical and content-related features that can be implemented in digital certificates are presented. The perspectives of the different users of such certificates – learners, educational institutions and employers – are then presented on the basis of empirical data. Finally, on this assumption, the potential of digital certificates for the VET system and the respective actors will be reflected upon and the resulting questions for VET research will be discussed.

1 Einleitung

Die digitale und grüne Transformation sowie die demografischen Entwicklungen sind nur drei der Mega-Trends die einen Umbruch im sich stetig wandelnden Arbeitsmarkt markieren. Auf diese Veränderungen muss das Weiterbildungssystem reagieren: mit curricularen Erweiterungen zur Vermittlung neuer Kompetenzen, mit strukturellen Anpassungen zur Flexibilität, Dauer und Verfügbarkeit von Angeboten (Stichwort Micro Credentials) und mit organisatorischen Veränderungen, die die Dokumentation und Vergleichbarkeit von Lernergebnissen betreffen. Für den letztgenannten Punkt bietet die Standardisierung und Digitalisierung von Weiterbildungsnachweisen zahlreiche Potenziale, die über die Nutzung eines neuen Ausgabeformates hinausgehen und sich auf das gesamte Weiterbildungssystem erstrecken. Die Potenziale sollen im Folgenden anhand von Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt MyEduLife (https://myedulife.de/projekt/) dargelegt und daraus resultierende Perspektiven und Fragestellungen für die Weiterbildungsforschung diskutiert werden. Dies erfolgt vor dem Hintergrund theoretischer Ansätze und auf Basis von empirischen Erhebungen bei den Zielgruppen.

Die folgenden Fragen sollen für den vorliegenden Beitrag leitend sein:

  • Welche Bedeutung haben Weiterbildungsnachweise?
  • Wie können diese standardisiert, maschinenlesbar und fälschungssicher ausgestellt werden?
  • Welche Potenziale und Anforderungen bestehen aus Perspektive der verschiedenen Anspruchsgruppen?
  • Welche Veränderungsmöglichkeiten und Fragestellungen ergeben sich für das System der beruflichen Weiterbildung und die Weiterbildungsforschung?

2 Bedeutung von Weiterbildungsnachweisen

Weiterbildungsnachweise sind in Deutschland als Nachweis über berufliche Kompetenzen und erreichte Lernergebnisse recht verbreitet. Mehr als 80 Prozent der Arbeitnehmenden besaßen im Jahr 2016 solche Nachweise (Wittig & Neumann, 2016). Der überwiegende Teil besitzt dabei bis zu zehn, während jeweils ca. zehn Prozent über bis zu 20 bzw. über mehr als 20 Weiterbildungsnachweise verfügen (Wittig & Neumann, 2016). Allerdings haben im Jahr 2020 auch 40 Prozent der Weiterbildungsteilnehmenden keinen Nachweis oder Teilnahmebescheinigung für ihre Weiterbildungsaktivität erhalten (BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2022).

Der Nutzen und die Bedeutung von Nachweisen in der beruflichen Weiterbildung kann sowohl aus einer andragogischen als auch aus einer ökonomischen und arbeitsmarktsoziologischen Perspektive beurteilt werden. Während in der Erwachsenenbildung die Bedeutung des lebenslangen Lernens aus Sicht von Lernenden betont wird, fokussieren Theorien aus der Ökonomie die Perspektive von Arbeitgebenden und die Bedeutung der Nachweise für den wirtschaftlichen Fortschritt von Unternehmen.

Um eine andragogisch motivierte Einordnung von Zertifizierungen in der Erwachsenenbildung bemühte sich Käpplinger (2007), der sich hierfür auf Arbeiten von Schulenberg (Schulenberg, 1968, 1973) beruft. Die Funktion der Erwachsenenbildung sehen beide in einer lebenslangen und selbstbestimmten Weiterbildung emanzipierter Erwachsener mit dem Ziel der persönlichen Entfaltung und Selbstbestimmung (Schulenberg, 1973, S. 67; nach Käpplinger, 2007, S. 57), ohne jedoch den Kontext des gesellschaftlichen Verwertungsprozesses als Arbeitskraft außer Acht zu lassen (Käpplinger, 2007, S. 58f.). Zertifikatssysteme sollen demnach anpassungsfähig, erweiterbar und anschlussfähig sein, eine zeitlich und räumlich unabhängige Akkumulation von Teilqualifikationen zulassen, Eigenverantwortung ermöglichen und Akzeptanz bei Nachfragenden im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt gewährleisten (Käpplinger, 2007). Auf Grundlage einer Programmanalyse schlussfolgert Käpplinger (2007), dass Zertifikate und Abschlüsse ein wichtiger Bestandteil des lebenslangen Lernens sind, da sie „eine bessere Durchlässigkeit des Bildungssystems befördern […], in dem verschiedene Qualifikationen transparent eingeordnet und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dies würde für alle Beteiligten (Lernende, Arbeitgeber, Bildungseinrichtungen, etc.) die Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit erhöhen.“ (Käpplinger, 2007, S. 220).

Auf dieser Grundlage trägt Käpplinger (2007) mit Kell (1982) neun Funktionen von Zertifikaten für die Weiterbildung zusammen, die die Sicht von Zertifizierten (Lernenden), Zertifizierenden (Bildungseinrichtungen) und Nachfragenden (Arbeitgebenden) repräsentieren. Darunter (1) die Lernanreiz- und (2) die Disziplinierungsfunktion für Lernende, (3) die Allokations- und (4) die Selektionsfunktion für Nachfragende wie Arbeitgebende sowie (5) die Options- und (6) die Monopolisierungsfunktion für Zertifizierende. Hinzu kommen (7) die Beurteilungs-, (8) die Informations- und (9) die Herrschaftsfunktion. Zudem verweist Käpplinger (2007) auf den Prognosewert von Zertifikaten, der gleichzeitig kritisch bewertet wird. So reduzierten Zertifikate zwar Unsicherheiten in Bezug auf die Beurteilung von Kompetenzen und Motivationen von Personen, verschlössen aber gleichzeitig den Blick auf das Erfahrungswissen und begründeten somit ggf. unlegitimierte Selektionsprozesse.

Die Bedeutung von Bildungsnachweisen – insbesondere formaler (universitärer) Abschlüsse – im Kontext gesellschaftlicher Verwertungsprozesse wird auf Grundlage verschiedener ökonomischer und soziologischer Theorien erklärt. Insbesondere drei Theorien wurden bisher in empirischen Untersuchungen der Arbeitgebenden-Perspektive in den Blick genommen (u. a. Brown & Souto-Otero, 2020; Di Stasio & van de Werfhorst, 2016). Die Theorien unterscheiden sich in Bezug darauf, welche Bedeutung den Bildungsnachweisen für die Beurteilung der Eignung von Personen für eine berufliche Position beigemessen wird. Die Humankapital-Theorie (human capital theory; Becker, 1993) skizziert Bildungsabschlüsse als Nachweis für erworbene Fähigkeiten, die in einer späteren Tätigkeit eingesetzt werden können und zu Produktivität führen. Diese Theorie scheint insbesondere in Ländern relevant zu sein, in denen das Berufsbildungssystem standardisiert, differenziert und berufsspezifisch ist – eine Charakterisierung die bspw. auf Deutschland und die Niederlande zutrifft (Di Stasio & van de Werfhorst, 2016). Eine zweite Theorie wird als Warteschlangen-Theorie (queuing theory; Stiglitz, 1975; Thurow, 1975) bezeichnet und versteht Bildung als Signalgeber für die Lernfähigkeit und Trainierbarkeit von Individuen, die ihre berufsspezifischen Fähigkeiten erst in der Ausübung der konkreten beruflichen Tätigkeit erwerben. Diese Theorie besitzt in Bildungssystemen, die wenig standardisiert sind und einen generalistischen Ausbildungsanspruch haben – wie die anglo-amerikanischen Systeme – eine stärkere Relevanz (Di Stasio & van de Werfhorst, 2016). Als dritte Theorie können die verschiedenen Zweige der Sozialen Annäherung (theories of social closure) beschrieben werden, wobei Bildung als Zugangsvoraussetzung verstanden wird. Unterschieden wird der Zugang aufgrund eines bestimmten Studienabschlusses (social closure by degree; Bol & Weeden, 2015) oder der Aktivität und Ausbildung bei herausragenden Institutionen und Netzwerken (social closure by network; Miller & Rosenbaum, 1997). Es lassen sich hierbei Ähnlichkeiten in Bezug auf die Handlungslogiken zwischen der Humankapital-Theorie und der Abschluss-fokussierten Zuordnungstheorie sowie zwischen der Warteschlangen-Theorie und der Netzwerk-fokussierten Zuordnungstheorie finden (Di Stasio & van de Werfhorst, 2016).

Brown und Souto-Otero (2020) fordern einen neuen Umgang mit Nachweisen, der sich weg von einem bloßen Nachweis eines (akademischen) Abschlusses hin zu einem Nachweis für Job-Readiness auf Basis vielfältiger Faktoren wie Berufserfahrungen, Spezialkenntnissen oder (sozialen bzw. technischen) Kompetenzen und Fähigkeiten beschreiben lässt. Diese Forderung liegt in den Ergebnissen ihrer Studie auf dem britischen Arbeitsmarkt begründet, welche auf Basis der Analyse von Stellenanzeigen zeigt, dass die oben skizzierten Theorien an Bedeutung verlieren (Brown & Souto-Otero, 2020). So spielten formale Abschlüsse in der untersuchten Stichprobe des britischen Arbeitsmarktes nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wurden in den Stellenanzeigen vielfältige Anforderungen auf Basis von Fähigkeiten formuliert, die sich als äußerst divers darstellten.

Die folgende Argumentation bezieht sich auf die Begründungslogik der Humankapital-Theorie, die für die Charakteristika des deutschen Bildungssystems eine spezifische Relevanz besitzt. Weiterbildungsnachweise sollen in diesem Kontext die Funktion erfüllen, die in der jeweiligen Weiterbildung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten auszuweisen, damit Arbeitgebende auf dieser Grundlage entscheiden können, ob die Arbeitnehmenden mit dem gegebenen Set an Fähigkeiten in der relevanten Position zur Produktivität beitragen. Gleichzeitig stützt sich die nachfolgende Argumentation auf die andragogische Forderung nach einem selbstbestimmten, transparenten und vergleichbaren Erwerb von Teilqualifikationen im Rahmen des lebenslangen Lernens. Aus diesem Grund wird in der folgenden Diskussion der Darstellung der Kenntnisse und Fähigkeiten auf den Digitalen Nachweisen ein besonderer Stellenwert beigemessen. In den empirischen Untersuchungen sollen hierbei die Perspektiven aller Beteiligten des Weiterbildungsprozesses (Lernende, Bildungseinrichtungen, Arbeitgebende) auf die Bewertung der Digitalen Nachweise berücksichtigt werden.

3 Umsetzung standardisierter, maschinenlesbarer und fälschungssicherer Weiterbildungsnachweise

3.1 Technische Umsetzung als Verifiable Credential

Die Digitalisierung von Weiterbildungsnachweisen befindet sich aktuell in einem frühen Entwicklungsstadium. Eine häufig gewählte Form der digitalen Nachweiserstellung und ‑versendung ist die Nutzung von PDF-Dokumenten, die meist nur ein Scan oder ein Export der Zeugnisdatei (oft Word) sind. Die darin enthaltenen Daten sind unstrukturiert und damit nicht maschinenlesbar. Zudem verfügen die Dokumente oftmals über keine Sicherheitsmerkmale, die eine Veränderung unterbinden bzw. einen Echtheitsnachweis ermöglichen. Eine Möglichkeit des Echtheitsnachweises für PDF-Dokumente ist die Verwendung von digitalen Signaturen oder Siegeln, diese verursachen auf Seite der Ausstellenden jedoch hohe Kosten und Prüfende benötigen zur Verifizierung ein entsprechendes Prüfprogramm (Federal Office for Information Security, 2023).

Eine technische Alternative zu diesem Vorgehen bieten digitale Zertifikate auf Basis von Verifiable Credentials (VC). VCs haben sich als internationaler technischer Standard der W3C-Organisation etabliert, um physische (identitätsbezogene) Dokumente in die digitale Welt zu überführen und deren Authentizität, Integrität anhand kryptografischer Methoden sicherzustellen und elektronisch überprüfbar zu machen (Sedlmeir et al., 2021). Hierbei kann es sich auch um Ausweise, Führerscheine, Berechtigungsnachweise, Bestätigungen oder eben Zeugnisse und Bildungsnachweise handeln. Ein VC enthält zunächst Behauptungen (z. B. das Alter oder erreichte Lernziele) über eine Person (holder) deren Wahrheit durch eine verifizierende Stelle (issuer) bestätigt wird. Außerdem kann das VC Metainformationen, wie ein Ablaufdatum, einen Nachweistyp oder Gültigkeitsbereiche enthalten. Über eine digitale Signatur des VCs wird sichergestellt, dass der Aussteller (issuer) des VCs berechtigt ist, ein entsprechendes VC zu erstellen, es eindeutig einem Nutzenden (holder) zugeordnet werden kann und der Inhalt des VCs unverändert ist. Zur Identifikation von issuern und holdern werden sogenannte Decentralized Identifiers (DIDs) verwendet. Der Ausstellungsprozess von VCs ist hierbei dem Konzept der Self Sovereign Identities (SSI) zuzuordnen. VCs werden von den Nutzenden in einer Wallet verwaltet und können darüber selbstbestimmt für Dritte (z. B. Arbeitgebende) freigegeben werden, damit diese eine Berechtigung oder Befähigung überprüfen können (verifier).

Auch für die Verwendung von VCs im Bildungskontext wurden – getrieben durch die Europäische Kommission – bereits Standards entwickelt, um Bildungsinformationen strukturiert und maschinenlesbar in einem VC darzustellen. Europaweit steht hierfür das European Learning Model (ELM v3.0) zur Verfügung, welches mit dem europäischen Kompetenzportfolio – dem Europass – kompatibel ist und Interoperabilität zwischen verschiedenen (nationalen) Systemen ermöglichen soll. Ein weiteres europäisches Instrument zur Standardisierung und damit Erhöhung der Durchlässigkeit und Mobilität auf dem europäischen Arbeitsmarkt ist die Europäische Klassifizierung für Fähigkeiten, Kompetenzen und Berufe (ESCO), welche ebenfalls mit dem ELM und dem Europass kompatibel ist (siehe dazu den folgenden Abschnitt 3.2).

Prototypisch wurde der Prozess des Ausstellens und Empfangens von VCs in Form von Weiterbildungsnachweisen mit Angaben zu erreichten Lernergebnissen nach dem ESCO-Standard im Projekt MyEduLife umgesetzt. Beteiligte Erprobungseinrichtungen konnten über eine Webanwendung digitale Nachweise in Form von VCs erzeugen und an die Teilnehmenden versenden (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Screenshot des Issuer Control Center zur Ausstellung von VCsAbbildung 1: Screenshot des Issuer Control Center zur Ausstellung von VCs

Auf Basis der Open-Source-Anwendung walt.id wurde gleichzeitig eine Wallet bereitgestellt, in der die Weiterbildungsteilnehmenden ihre VCs empfangen konnten (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Screenshot der Wallet Walt.ID inkl. Darstellung zweier ZertifikateAbbildung 2: Screenshot der Wallet Walt.ID inkl. Darstellung zweier Zertifikate

3.2 Standardisierte Beschreibung von Lernergebnissen mit ESCO

Der Begriff der Standardisierung ist in der Bildungsforschung nicht unumstritten. Er wird vor allem in Bezug auf die Formulierung von als Mindeststandards formulierten Bildungszielen kritisch betrachtet (für eine Zusammenfassung z. B. Tenorth, 2003). So werden Bildungsstandards häufig als Zielvorgaben verstanden, die Bildungseinrichtungen erfüllen müssen. Diese Zielvorgaben können mit Tenorth (2003) auf zwei Ebenen kritisiert werden: Einerseits geht es um die Vorgaben als Mindeststandards als solche und deren mögliche Folgen, die in drei Gruppen zusammengefasst werden können: (1) Reduzierung auf Triviales und Messbares, (2) Vereinheitlichung und Nivellierung auf ein Mindestniveau ohne individuelle Schwerpunktsetzungen und Förderung von Spitzenleistungen sowie (3) politische Abhängigkeit der Umsetzung und Durchsetzung der Standards. Andererseits geht es um die Schwierigkeit, Ziele zu formulieren, die individuelles, chancengerechtes, zukunftsorientiertes sowie auf unbestimmte und von pluralen Erwartungen geprägte Handlungssituationen vorbereitendes Lernen ermöglichen sollen, ohne dabei in utopische Entwürfe abzugleiten.

Das Ziel der Standardisierung in Bezug auf Bildungsnachweise liegt jedoch nicht in der Formulierung von Zielvorgaben oder Mindeststandards, sondern in der Verwendung einer einheitlichen Struktur und Sprache zur Gestaltung der Nachweise (als VCs). Diese Standardisierung auf der Ebene der Beschreibung von Lernergebnissen wird vor allem unter dem Begriff der Taxonomien als wünschenswert und „vielversprechend“ (Rentzsch et al., 2020, S. 24) erachtet, um Vergleichbarkeit, Systematik und zukünftig auch digitale Auswertbarkeit zu erreichen (Anderka & Clement, 2008; Rentzsch et al., 2020). Standardisierungsbemühungen gehen in diesem Kontext auch von arbeitsmarktpolitischen Bestrebungen aus und finden ihren Ausdruck in landesspezifischen Taxonomien wie der Klassifikation der Berufe (KLDB) oder den Dokumentationskennziffern (DKZ) der Bundesagentur für Arbeit (seit 2021: Digitales Klassifizierungszentrum) und in internationalen Klassifizierungen wie bspw. dem Occupation Network (O*Net, USA). Im europäischen Raum wurde im Auftrag der EU-Kommission die ESCO-Klassifikation als Fortführung der „New Skills for new Jobs“-Initiative im Rahmen der „Europa 2020“-Strategie entwickelt (Mottweiler, 2020). Damit sollen Arbeitsmarkt und Bildungsbereich verknüpft und Kompetenzen und Qualifikationen europaweit vergleichbar gemacht werden (ESCO, 2020).

Der ESCO stellt Beschreibungen von aktuell (Stand 2025) 3.039 Berufen und 13.939 mit diesen Berufen verbundenen Fähigkeiten, übersetzt in 28 Sprachen, bereit. Diese sind sowohl über eine Stichwortsuche als auch über eine API direkt zugänglich und können im letzteren Falle direkt von anderen Anwendungen (z. B. zur KI gestützten standardisierten Beschreibung von Lernangeboten) verwendet werden. Die nachträgliche Beschreibung von Weiterbildungs- oder Stellenangeboten kann je nach Umfang eine enorme Herausforderung darstellen (Riedel, Stark, et al., 2023). Schlagwortbasiert eine Aufstiegsqualifizierung im Handwerk mit den passenden ESCO-Konzepten zu annotieren, kann dabei mehrere Arbeitstage in Anspruch nehmen. Eine Unterstützung können KI-basierte Werkzeuge leisten, die auf Basis der Lernziele eines Qualifizierungsangebotes Vorschläge für passende Konzepte liefern, die im Weiteren „nur“ auf ihre Passgenauigkeit hin geprüft werden müssen (Zagler & Riedel, in press). Im Projekt MyEduLife wurde die ESCO-Taxonomie verwendet, um in Weiterbildungsnachweisen erworbene Fähigkeiten standardisiert zu beschreiben und mit VCs zu dokumentieren.

4 Anforderungen an digitale Weiterbildungsnachweise verschiedener Anspruchsgruppen

Die in Kapitel 3 beschriebene technische und inhaltliche Umsetzung von standardisierten Weiterbildungsnachweisen adressiert andragogische und ökonomische Forderungen nach einer Vergleichbarkeit und Transparenz von Weiterbildungsinhalten. Neben die Frage der Realisierbarkeit der Forderungen treten jedoch auch Fragen nach der Akzeptanz und Bewertung der Umsetzungen durch die relevanten Stakeholder (Lernende, Bildungseinrichtungen, Arbeitgebende). Hierzu wurden verschiedene Anspruchsgruppen mit unterschiedlichen Methoden befragt, um u. a. zu erheben, wie Weiterbildungsnachweise aktuell verwendet und bewertet werden und welche Einstellungen gegenüber digitalen Nachweisen bestehen. Daraus sollte abgeleitet werden, welche Nutzungsbereitschaft besteht und welchen Funktionsumfang eine Wallet haben sollte.

4.1 Methodik

Im Rahmen von MyEduLife wurden empirische Erhebungen mit Weiterbildungsteilnehmenden (Online-Befragung, N=385), Bildungsanbietenden (Online-Befragung, N=18 und Interviews, N=3) und Personalverantwortlichen (Interviews, N=8) durchgeführt, um die unterschiedlichen Interessensschwerpunkte, Potenziale und Erwartungen der Anspruchsgruppen zu beschreiben (Neumann & Stark, 2023, 2024). Für die Befragung von Weiterbildungsteilnehmenden wurden mehr als 13.000 Teilnehmende der HWK Dresden und IHK Dresden angeschrieben und um ihre Teilnahme gebeten. Zusätzlich wurde das Angebot zur Onlinebefragung noch über weitere Online-Kanäle der Projektbeteiligten gestreut. Für die Befragung der Bildungsanbietenden wurden neben den drei im Projekt beteiligten Einrichtungen mehr als 50 Bildungsanbieter und Verbände angeschrieben mit der Bitte um Beantwortung und Verbreitung des Online-Fragebogens. Für die Personalverantwortlichen wurde eine Zufallsstichprobe unter Unternehmen durchgeführt, die Mittelständische Unternehmen im Bereich Handwerk, Elektro und Handel repräsentieren und damit umfangreiche Erfahrungen u. a. in Einstellungsprozessen vorweisen.

Limitierend ist für das gewählte Vorgehen festzuhalten, dass neben einer regionalen Beschränkung (auf Sachsen) für die Befragung der Weiterbildungsteilnehmenden und Personalverantwortlichen auch von einer Verdichtung auf die in der IHK vertretenen Branchen auszugehen ist, da der hier überwiegend genutzte personalisierte Distributionskanal bereitgestellt wurde. Zudem ist für Weiterbildungsteilnehmende als auch Bildungsanbietende von einer Selbstselektivität auszugehen, die sich zB. am eigenen Interesse am Thema ausrichtet. Dies bedeutet, dass die folgenden Ergebnisse nicht zwangsläufig repräsentativ für die Grundgesamtheit sind, auch wenn die Teilergebnisse mit amtlichen Statistiken konform gehen.

4.2 Bewertung digitaler Nachweise durch Weiterbildungsteilnehmende

Die Online-Befragung von Weiterbildungsteilnehmenden hat das Weiterbildungsverhalten der letzten drei Jahre erfasst. Dabei haben nur acht Prozent der Befragten an keiner Weiterbildung teilgenommen, 72 Prozent an 1-3 Weiterbildungen, 14 Prozent an 4-6 Weiterbildungen, drei Prozent an 7-9 Weiterbildungen und vier Prozent an mehr als 9 Weiterbildungen. Die große Mehrheit von 92,5 Prozent der Teilnehmenden haben ihren Nachweis in Papierform, 31,2 Prozent einen Nachweis (teils zusätzlich) digital als PDF bekommen (Mehrfachnennungen waren möglich).

Die hauptsächlichen Gründe für Weiterbildungen sind in der folgenden Abbildung dargestellt.

Abbildung 3: Prozentuale Häufigkeiten der Nutzung von Nachweisen; Mehrfachnennungen möglich (n = 385)Abbildung 3: Prozentuale Häufigkeiten der Nutzung von Nachweisen; Mehrfachnennungen möglich (n = 385)

69 Prozent der Befragten können sich vorstellen, künftig eine digitale Anwendung für den Erhalt und die Aufbewahrung von Nachweisen zu nutzen. Die Aufbewahrung von Weiterbildungsnachweisen erfolgt aktuell sehr unterschiedlich, nur ca. 18 Prozent der Befragten legten bereits alle Nachweise ausschließlich digital ab.

Die Wichtigkeit von Funktionen für eine Anwendung zur digitalen Aufbewahrung von Weiterbildungsnachweisen bewerteten die Befragten wie in der folgenden Abbildung dargestellt.

 Abbildung 4: Wichtigkeit von Funktionen der Anwendung (n = 274) Abbildung 4: Wichtigkeit von Funktionen der Anwendung (n = 274)

4.3 Bewertung digitaler Nachweise durch Bildungsanbietende

Aus den Interviews mit den beteiligten Weiterbildungseinrichtungen wurde deutlich, dass die Ausstellung von VCs sowie die standardisierte Beschreibung von erlangten Fähigkeiten oder Kompetenzen für die Bildungsanbietenden meist noch Neuland darstellen und der Mehrwert sich auch nicht immer direkt erschließt. Die gedruckten Nachweise enthalten aktuell zudem eher allgemeine Angaben: „der Herr Sowieso, geboren dann und dann, hat in der Zeit von bis an dem und dem Seminar mit dem und dem Stundenumfang teilgenommen. Und dann auf der Rückseite sind dann die Inhalte der Weiterbildung, des Kurses, vermerkt.“ (Interview 2, 29:11). „Was wir momentan noch nicht machen, diese Kompetenzdarstellung. Das man da also eben nicht nur Inhalte von Weiterbildungen, sondern mehr das auf die Kompetenz-Schiene zieht ‚Was habe ich dadurch, welche Kompetenzen habe ich mir dadurch angeeignet und Kompetenzaufbau auch betrieben?‘“ (Interview 2, 43:05). Bisher gab es auch seitens der Auftraggeber:innen (Unternehmen) keine konkrete Nachfrage nach der Vermittlung bestimmter Kompetenzen: „Der wird auch nie sagen ‚Bringen Sie mal meinen Mitarbeitern folgende Kompetenzen bei‘.“ (Interview 1, 41:00). Dennoch scheint das Thema Kompetenzen eine zunehmend wichtigere Rolle zu spielen, denn: „je länger ich auch selber drüber nachdenke, desto sinnvoller erscheint es auch, zum Beispiel beim Abiturientenmodell unseren Nachweis, [...] nicht in Form von Zeugnissen, sondern in Form von Kompetenznachweisen auszustellen.“ (Interview 1, 50:36). Bei den 18 auf Bundesebene befragten Bildungsanbietenden ist die Kompetenzorientierung teilweise und in verschiedenen Phasen des Lebenszyklus eines Angebotes verankert, wie die folgende Abbildung zeigt.

Abbildung 5: Kompetenzorientierung in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen (n = 18, absolute Angaben)Abbildung 5: Kompetenzorientierung in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen (n = 18, absolute Angaben)

Dabei kommen bereits Standards wie der KLDB (in fünf Fällen) oder der DQR (in acht Fällen zum Einsatz). Die ESCO-Taxonomie wurde von keiner der befragten Bildungseinrichtungen bereits genutzt.

Potenzial für digitale Nachweise wird im Bereich der Archivierung gesehen, denn: „Wo wir überhaupt nicht digitalisiert sind, ist der Bereich der Archivierung. Da sind wir NULL digitalisiert, das ist alles in Papier.“ (Interview 1, 19:19). Insgesamt sehen die Bildungsanbietenden in digitalen Nachweisen eine Vereinfachung und Verkürzung der Verwaltungsprozesse. Wichtig ist für sie zudem die Vertrauenswürdigkeit der Nachweise, da es immer wieder zu Fälschungsversuchen kommt.

Sollten Daten aus standardisierten Bildungsnachweisen aggregiert und für eine statistische Auswertung zugänglich gemacht werden (siehe Abschnitt 5), sehen die Bildungsanbietenden einen Vorteil vor allem in der möglichen Personalisierung bzw. Regionalisierung ihrer Weiterbildungsangebote. Auch Tätigkeitsfelder wie die Bildungsberatung könnten von der Verfügbarkeit standardisierter Daten in digitalen Nachweisen profitieren und den Prozess für Anbietende vereinfachen. Dies setzt wiederum Anwendungen voraus, die die umfangreichen Daten analysieren und ggf. visuell aufbereiten.

4.4 Bewertung digitaler Nachweise durch Arbeitgebende

Auch die in Interviews befragten Personalverantwortlichen in Unternehmen erkennen in der Nutzung digitaler Nachweise Potenziale, die insbesondere in Bezug auf den ohnehin laufenden digitalen Transformationsprozess wirksam werden. Dies betrifft insbesondere Personalverwaltungsprozesse aber auch Bewerbungsprozesse.

Drei der befragten Unternehmen sind im Bereich der digitalen Personalakte fortgeschritten und würden digitale Nachweise befürworten, um ohne Medienbrüche arbeiten zu können. Zudem gibt es Anlässe, bei denen spezifische Befähigungsnachweise (Schaltbefähigung) zeitnah nachgewiesen werden müssen – eine digitale Verteilung würde aus Unternehmenssicht diese Prozesse deutlich beschleunigen. In der digitalen Umsetzung von Nachweisen wird zudem der Vorteil gesehen, dass der Arbeitgeber direkt im Anschluss an eine Weiterbildung eine Meldung über die erfolgreiche Teilnahme erhält, da VCs auch gleichzeitig an eine Unternehmens-Wallet geschickt werden könnten. Eine individuelle und ggf. verzögerte oder fehleranfällige Weitergabe der Nachweise von den Beschäftigten an das Unternehmen wäre dann nicht mehr nötig.

In Bewerbungsprozessen ist der Nachweis von erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen besonders relevant. Zu diesen Schlüssen kommt auch eine Online-Befragung von Weiterbildungsteilnehmenden aus dem Jahr 2016 (Wittig & Neumann, 2016). Demnach werden Weiterbildungsnachweise von allen Befragten als wichtiger Bestandteil von Bewerbungsunterlagen angesehen. Fast die Hälfte der befragten Arbeitnehmenden treffen dabei eine Auswahl, während nur neun Prozent sich entscheiden gar keine Weiterbildungsnachweise beizulegen (Wittig & Neumann, 2016). Um die Aussagekraft und den Nutzen von Weiterbildungsnachweisen in Bewerbungsprozessen zu erhöhen, wäre eine Darstellung in Form eines Kompetenzprofils, anstelle einer „unübersichtlichen Vielzahl von Zertifikaten“ (Wittig & Neumann, 2016, S.27) denkbar. So könnten Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen von Arbeitnehmenden inhaltlich verknüpft und besonders an beruflichen Übergängen besser sichtbar gemacht werden.

Abbildung 6: Sunburst Visualisierung (Ausschnitt) der Fähigkeiten einer AufstiegsfortbildungAbbildung 6: Sunburst Visualisierung (Ausschnitt) der Fähigkeiten einer Aufstiegsfortbildung

Abbildung 6 stellt eine Visualisierungsmöglichkeit für in einer Aufstiegsfortbildung erworbene Fähigkeiten anhand der ESCO-Taxonomie und der damit verbundenen Hierarchisierung von beruflichen Fähigkeiten vor. Für die befragten Personen im Personalwesen war diese Visualisierung hilfreich, für die meisten Befragten jedoch zu detailliert (die vierte Ebene könnte entfallen). Besondere Vorteile werden bei der Verwendung der ESCO-Taxonomie u. a. in der Beurteilung von ausländischen Abschlüssen gesehen: „der Abschluss oder die Abschlüsse, die er hat, wie ist das jetzt nun eigentlich in Deutschland zu sehen?“ (Interview 4, 16:40). Aktuell können hier nur eigene aufwendige Recherchen betrieben werden, die über eine Verifizierung des Bildungsortes kaum hinausgehen und oftmals an Sprachbarrieren scheitern.

Eine automatisierte Überprüfung der Echtheit eines Nachweises wird von den Befragten grundsätzlich befürwortet, auch wenn die aktuelle Praxis diesen Schluss noch nicht nahelegt: So erfolgt im Einstellungsprozess aktuell nur eine Sichtprüfung des Originals: „Und da ist es eben auch so, dass wir natürlich die Dokumente dann im Original [...] sehen wollen.“ (Interview 4, 09:22). Grundsätzlich gibt es ein großes Vertrauen gegenüber den Bewerber:innen: „[...] es wird natürlich in keinster Form irgendwie überprüft, ob das jetzt wirklich echt ist oder nicht.“ (Interview 8, 04:14). „Da geht natürlich das Unternehmen auch rein und sagt: merk ich ja dann spätestens in der täglichen Arbeit, ob derjenige das Know-how hat, das Wissen, oder [...] eben nicht.“ (Interview 8, 04:20).

5 Veränderungsmöglichkeiten und Fragestellungen für die berufliche Weiterbildung

Digitale Weiterbildungsnachweise als VCs bieten aufgrund ihrer inhärenten technischen Charakteristika zunächst Vorteile in Bezug auf eine automatisierte Echtheitsprüfung und den Schutz vor Verlust oder Zerstörung. Die standardisierte Darstellung erworbener beruflicher Fähigkeiten ermöglicht einen maschinenlesbaren Vergleich von Kompetenzprofilen verschiedener Bewerber:innen untereinander oder mit einem (ebenfalls anhand von ESCO annotierten) Anforderungs- oder Stellenprofil. Darüber hinaus wird durch die Verwendung einer europäischen Taxonomie Vergleichbarkeit und Mobilität auf dem europäischen Arbeitsmarkt begünstigt. Im Mobilitätsfall kann ein Arbeitgeber in Spanien die standardisierten Beschreibungen der in Deutschland erworbenen Fähigkeiten eines Bewerbenden in seiner Landessprache einsehen und fortfolgend das Portfolio mit dem von weiteren Bewerbenden vergleichen. Die Nutzung der ESCO-Taxonomie kann auch zur Beschreibung der Weiterbildungsangebote genutzt werden und sorgt dabei für eine bessere Vergleichbarkeit der Angebote und einer höheren Durchlässigkeit des Weiterbildungsmarktes. Gleichzeitig unterstützt die Ausstellung von VCs den Digitalisierungsprozess in den Einrichtungen und kann einen Beitrag zur Optimierung von Archivierungs- und Nachweisausstellungsprozessen leisten.

Darüber hinaus eröffnet die Maschinenlesbarkeit der Daten neue Möglichkeiten für eine pseudonyme Aggregation und Auswertung der Daten (Riedel, Neumann, et al., 2023; Riedel & Neumann, in press). Diese Datenbasis birgt Potenziale für verschiedene Interessensgruppen und weitere Anwendungsfelder, die im Folgenden zusammengefasst werden:

Aus Perspektive der Teilnehmenden können Lernende auf Basis ihres standardisiert beschriebenen Kompetenzprofils und im Vergleich mit weiteren Daten gezielte Empfehlungen erhalten. Sie können bspw. ihr individuelles Ist-Profil mit Soll-Profilen, die ihren beruflichen Zielen entsprechen, vergleichen und so Lücken (skill gaps) identifizieren, die sie anhand passender Weiterbildungsangebote schließen können. Oder sie können Empfehlungen erhalten, welche neuen beruflichen Entwicklungsperspektiven sich beim Erwerb weiterer beruflicher Fähigkeiten in einem Weiterbildungsangebot für sie eröffnen würden. Die transparente und vergleichbare Darstellung der eigenen Fähigkeiten kann hierbei eine Reflexion der eigenen Entwicklungspotenziale und selbstbestimmte Weiterbildungsentscheidungen unterstützen. Auf diese Weise ergeben sich neue Impulse für das lebenslange Lernen in der beruflichen Weiterbildung.

Bildungsanbietende können die Datenbasis nutzen, um ihr Angebotsportfolio auf aktuelle und/oder regionale Bedarfe abzustimmen, indem zusätzliche Angebote für nachgefragte Fähigkeiten geschaffen werden. Programm- und Angebotsplanung kann somit bedarfsgerechter erfolgen. Im Kontext der Weiterbildungsberatung liefern die standardisierten Kompetenzprofile der Teilnehmenden (und deren Abgleich mit Stellenprofilen, Weiterbildungsangeboten oder anderen Lernendenprofilen) Informationen für Empfehlungen zu beruflichen Perspektiven und der hierfür notwendigen Kompetenzentwicklung.

Die standardisierte, strukturierte und maschinenlesbare Darstellung beruflicher Fähigkeiten erleichtert Arbeitgebenden Prozesse der Stellenbesetzung und Personalentwicklung. Sowohl der Vergleich verschiedener Bewerber:innen (ggf. auch mit ausländischen Bildungsabschlüssen und/oder Berufserfahrungen) als auch die Passung zu spezifischen Stellenprofilen können maschinell unterstützt und damit beschleunigt werden.

Die aggregierten Daten bieten darüber hinaus eine einzigartige Grundlage für die Arbeitsmarkt- und Weiterbildungsforschung. Sowohl das skills monitoring als auch die Analyse von Weiterbildungsverhalten können anhand dieses non-reaktiv erhobenen Datensatzes kontinuierlich und stets aktuell erfolgen (Riedel, Neumann, et al., 2023).

Aus diesen Potenzialen ergeben sich weiterführende Fragestellungen für die berufliche Weiterbildung, die folgende Aspekte betreffen:

  • Möglichkeiten einer standardisierten Kompetenzbeschreibung unter Berücksichtigung der Individualität von Kompetenzentwicklungsprozessen und der Komplexität von beruflicher Handlungskompetenz
  • Vergleichbarkeit von beruflichen Fähigkeiten und Weiterbildungsabschlüssen
  • Auswirkungen auf die Durchlässigkeit des Weiterbildungssystems
  • Auswirkungen auf die bedarfsgerechte, arbeitsmarkorientierte und individualisierte Angebotsentwicklung
  • Veränderungen von Prozessen bei Arbeitgebenden und Bildungseinrichtungen durch Digitalisierung
  • Erschließung neuer Datenressourcen für die Forschung unter den Gesichtspunkten der Zugänglichkeit, Qualität und Interoperabilität
  • Beurteilung ethischer Dimensionen in Bezug auf die Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung (siehe auch Riedel & Neumann in press).
  • Nutzungsbereitschaft und Akzeptanz von VCs verbunden mit der anonymisierten Bereitstellung von Daten
  • Anwendungsmöglichkeiten, Akzeptanz und Verbreitung der ESCO-Nutzung

6 Zusammenfassung und Ausblick

Der vorliegende Beitrag zeigt die Möglichkeiten und potenziellen Auswirkungen der Nutzung von digitalen Weiterbildungsnachweisen in Form von VCs auf und verweist neben Prozessoptimierungen aufgrund der Digitalisierung auf das Potenzial der Erschließung neuer Daten für die berufliche Weiterbildung. Durch die standardisierte Beschreibung von erlangten Fähigkeiten mittels der mehrsprachigen ESCO-Taxonomie werden unterschiedliche Anspruchsgruppen in die Lage versetzt, vielfältige Fragestellungen rund um berufliche Weiterbildung präziser zu beantworten. Teilnehmende können ihre individuellen skill gaps eindeutig identifizieren, oder im Rahmen einer Bildungsberatung identifizieren lassen. Damit können sie aktiv Karriereplanung betreiben bzw. grundsätzlich ihre weiteren Weiterbildungsentscheidungen planen. Durch die digitale Verfügbarkeit der Informationen zu den eigenen beruflichen Fähigkeiten an einem Ort (der Wallet) wird zudem die eigene Bildungsbiografie transparent und sichtbar. Für Bildungsanbietende entstehen neue Möglichkeiten der Individualisierung und Bedarfsorientierung von Bildungsangeboten. Die Analyse von Teilnehmendendaten z. B. in einem regional begrenzten Raum und mit Blick auf die vorhandenen Wirtschaftszweige unterstützt eine begründete Angebotsgestaltung und lässt zudem Weiterbildungsverhalten transparent werden. Die Vorteile digitaler Nachweise mit Blick auf Fälschungssicherheit und Archivierung ergänzen die Potenziale. Für Unternehmen sind digitale Nachweise der nächste logische Schritt, wenn es um die digitale Personalakte, den Zugriff auf die Qualifikationen der Mitarbeitenden oder die Teilautomatisierung von Bewerbungsprozessen geht. Insbesondere in letzteren Fällen bieten sich mit dem Einsatz des ESCO und der standardisierten Beschreibung von Fähigkeiten neue transparenzfördernde Möglichkeiten, Bewerbende miteinander zu vergleichen, unabhängig auch vom Land des Erwerbs bestimmter Qualifikationen.

Auch wenn viele der dargestellten Möglichkeiten im Konjunktiv formuliert sind, so sind erste digitale Abiturzeugnisse bereits in der Erprobung (Ministerium für Infrastruktur und Digitales des Landes Sachsen-Anhalt, 2025) und die rechtlichen Grundlagen mit der eIDAS 2.0 Verordnung (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union, 2024) bereits im März 2024 geschaffen. Demnach soll ab 2026 allen europäischen Bürger:innen eine digitale Wallet zur Verfügung stehen.

Literatur

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Zitieren des Beitrags

Neumann, J., Riedel, J. & Stark, L. (2025). Digitale Weiterbildungsnachweise – Potenziale, Bewertungen und Anschlussfragen für die berufliche Weiterbildung. bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, 48, 1–17. https://www.bwpat.de/ausgabe48/neumann_etal_bwpat48.pdf

Veröffentlicht am 23. Juni 2025