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bwp@ 48 - Juni 2025
Berufliche/betriebliche Weiterbildung
Hrsg.:
, , &Strategien gegen den Fachkräftemangel in der IT-Branche: Die Rolle der Weiterbildung – Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie
Die Studie untersucht, wie IT-Unternehmen formale, non-formale und informell erworbene Kompetenzen, inkl. Herstellerzertifikaten, Bootcamps und Micro-Credentials, bewerten und in Rekrutierung/Weiterbildung übersetzen. Auf Basis von elf Expert:inneninterviews (strukturierende Inhaltsanalyse), gerahmt durch Signaling-/Filtertheorie, zeigen wir: Zertifikate sind notwendige, kontextabhängige Signale; ihr Wert steigt mit nachweisbarer Anwendung (Portfolios/Arbeitsproben) und klaren Prüfstandards. Herstellerspezifische Zertifikate wirken in standardgebundenen Umgebungen besonders stark; Bootcamps beschleunigen Übergänge, bleiben heterogen; Micro-Credentials gewinnen nur bei belastbarer Standardisierung. Informelle Kompetenzen werden anerkannt, wenn sie rollenbezogen evidenziert sind; KMU agieren oft pragmatischer als Großunternehmen. Quereinstiege fungieren als Prüffall und gelingen vor allem in klar umrissenen Rollen mit strukturierter Einarbeitung. Abgeleitet werden vier Hebel: frühe Berufsorientierung/digitale Grundbildung, gezielte Frauenförderung, entbürokratisierte Zuwanderung mit Sprach-/Sozialbegleitung und verstetigte, biografieorientierte Beratung.
Strategies to Address the IT Skills Shortage: The Role of Continuing Education – Findings from a Qualitative Interview Study
The study examines how IT firms assess and translate formal, non-formal and informally acquired competences—including vendor certificates, bootcamps and micro-credentials—into recruitment and training. Based on eleven expert interviews (structured content analysis) and framed by signalling/filtering theory, we find: certificates are necessary yet context-dependent signals; their value rises with demonstrable practice (portfolios/work samples) and clear assessment standards. Vendor certificates are especially effective in standard-bound environments; bootcamps accelerate transitions but remain heterogeneous; micro-credentials gain traction only with robust standardisation. Informal competences are recognised when evidenced for the role; SMEs often act more pragmatically than large firms. Lateral entry serves as a test case and succeeds mainly in well-defined roles with structured onboarding. We derive four levers: early career guidance/digital literacy, targeted support for women, streamlined migration with language/social support, and biography-oriented counselling.
- Details
1 Einleitung
Die Fachkräftesituation im IT-Bereich ist seit Jahren Gegenstand bildungspolitischer und wirtschaftlicher Debatten. Prognosen verweisen auf eine wachsende Lücke zwischen Angebot und Nachfrage und dies nicht nur im akademischen Segment, sondern besonders im mittleren Qualifikationsbereich (DQR 3–5) etwa in der Systemadministration oder der Netzwerktechnik (Peichl, 2025; MINT-Herbstreport, 2022; Winkler, 2024; BA, 2023). Zugleich durchlaufen Bildungswege einen Wandel: nicht-lineare Erwerbsbiografien, informelles Lernen, betriebliche Qualifizierung und Quereinstiege gewinnen an Gewicht. Politische Programme greifen diese Dynamik auf, doch bleibt offen, wie solche alternativen Pfade in der betrieblichen Praxis bewertet werden, insbesondere hinsichtlich Sichtbarkeit, Vergleichbarkeit und der Rolle von Zertifikaten.
Die Studie untersucht, wie Unternehmen formale, non-formale und informell erworbene Kompetenzen sowie zugehörige Nachweise wahrnehmen, einordnen und in Rekrutierung und Weiterbildung übersetzen. Geführt wird die Analyse von vier Leitfragen: Welche Beiträge leistet berufliche Weiterbildung zur Sicherung des IT-Fachkräftebedarfs – und welche weiteren Strategien gelten als zentral? Für welche Tätigkeiten sind formale bzw. non-formale Qualifikationen bedeutsam und wo kommen Seiten-/Quereinsteigende mit ausschließlich informell erworbenen Kompetenzen infrage? Wie werden marktnahe Formate (z. B. Herstellerzertifikate, Bootcamps, Micro-Credentials) bewertet und wie erfolgt der inhaltliche Abgleich zwischen Anbietern und Arbeitgebern? Und schließlich: Welche kurz-, mittel- und langfristigen Strategien werden als wirksam eingeschätzt?
2 Hintergrund & Rahmen
Zur Einordnung gliedern wir den Hintergrund in drei Bausteine, die direkt auf die Leitfragen zielen. Abschnitt 2.1 beschreibt die Landschaft der IT-Qualifizierung (formale, non-formale und informelle Pfade) und schafft damit die Basis, um Beiträge der Weiterbildung, Marktformate und Passungsfragen einzuordnen (Leitfragen 1–3). Abschnitt 2.2 fokussiert Quereinstiege als praktischen Prüffall: Hier zeigen sich besonders deutlich, wie unterschiedliche Nachweise in Rekrutierung und Einsatzpraxis gelesen werden (Leitfragen 2–3). Abschnitt 2.3 legt den analytischen Rahmen aus Signal- und Filterlogik zugrunde, mit dem wir die späteren Interviewbefunde systematisch deuten und daraus Ansatzpunkte für die Fachkräftesicherung ableiten (insb. Leitfrage 4). So verbindet der Hintergrund begriffliche Klarheit, einen relevanten Anwendungsfall und ein konsistentes Deutungsraster für die empirische Analyse.
2.1 Landschaft der IT-Qualifizierung
Die deutsche IT-Weiterbildungslandschaft ist institutionell wie inhaltlich stark diversifiziert. Neben formal verankerten Bildungswegen, etwa den dualen IT-Berufen, haben sich im Zuge technologischer und organisatorischer Veränderungen zahlreiche non-formale und informelle Qualifizierungsformen etabliert, die vielfach jenseits staatlicher Standardisierung operieren (BIBB, 2019; Schrader, 2011; Werquin, 2010). Ein zentrales Element politisch intendierter „formalisierter Weiterbildung“ bildet das IT-Weiterbildungssystem (IT-WBS), seit 2002 als arbeitsprozessorientierter, durchlässiger Rahmen mit Fortbildungsprofilen auf DQR-Stufen 5 bis 7 angelegt (Borch & Weißmann, 2002; Weißmann 2008; Schwarz, Czingon & Spöttl 2018). Trotz dieser flexibilisierenden, öffnenden Ausrichtung blieb die betriebliche Nachfrage hinter den Erwartungen zurück; Studien verweisen auf geringe Sichtbarkeit und begrenzte Anerkennung in Unternehmen (Schwarz et al., 2018; Winkler et al., 2021).
Demgegenüber weisen herstellergebundene Zertifikate (z. B. Cisco, Microsoft, SAP) hohe Anschlussfähigkeit an betriebliche Bedarfe auf, da sie international standardisierte Inhalte adressieren und unmittelbar auf produkt- bzw. systembezogene Anforderungen zielen (Madsen, 2024; Langemeyer, 2019). In ihrem Gefolge gewinnen unternehmensinterne Zertifikatsformate an Bedeutung, wo sie strategisch in Personalentwicklung eingebettet und mit externen Referenzrahmen verknüpft sind (Schimke, 2023). Parallel bleibt innerbetriebliche Qualifizierung ohne externe Standardisierung, wie Onboarding, Inhouse-Trainings, arbeitsplatznahe Schulungen, ein tragender Pfeiler des Kompetenzerwerbs, obgleich entsprechende Nachweise selten überbetriebliche Gültigkeit entfalten (Koschek & Ohly, 2020; Langemeyer, 2019).
Aus Forschungssicht adressieren Micro-Credentials die Nachfrage nach modularen, kurzformatigen Qualifizierungen; ihr Mehrwert entsteht jedoch erst, wenn Kompetenzstandards, Assessments und Dokumentation hinreichend präzise sind und eine Anbindung an Qualifikationsrahmen bzw. HR-Routinen besteht (CEDEFOP, 2022; OECD, 2023; Pouliou, 2024). Für arbeitsmarktbezogene Kontexte werden vor allem Funktionen wie Upskilling, Reskilling und zielrollenbezogene Spezialisierung diskutiert, zugleich verweisen Gutachten auf Grenzen hinsichtlich Vergleichbarkeit, Anerkennung und institutioneller Verankerung (Stolte & Spöttl, 2025). Für die weitere Analyse bedeutet das: Modularität ist notwendig, aber nicht hinreichend; entscheidend sind überprüfbare Lernergebnisse, klare Referenzsysteme und betriebliche Andockpunkte.
2.2 Quereinstiege in der IT-Branche
Quereinstiege haben sich, insbesondere im mittleren Qualifikationssegment, zu relevanten Zugangspfaden in IT-nahe Tätigkeiten entwickelt, etwa in Systemadministration, Software-Testing oder technischem Support (OECD, 2021; KOFA, 2023). Einstiege erfolgen über Umschulungen, non-formale Weiterbildungen, berufsbegleitende Programme oder informelles Lernen; häufig ist die nachgewiesene Handlungskompetenz für die betriebliche Passung entscheidender als die formale Herkunft der Qualifikation (BIBB, 2021; Langemeyer, 2019; Winkler et al., 2021). Das IT-WBS bietet hierfür einen strukturierten Rahmen unterhalb der Hochschulqualifikation, wird in der Praxis jedoch, wie oben schon erwähnt, u. a. wegen begrenzter Sichtbarkeit, unklarer Anschlussfähigkeit und schwacher Nachfrage, bislang nur selektiv genutzt (BIBB 2021; Schwarz et al., 2018).
Non-formale und informell erworbene Kompetenzen sind ohne standardisierte Nachweise schwer vergleichbar, was Unsicherheit in Rekrutierungsprozessen erzeugt (Werquin, 2010; CEDEFOP, 2022). In der Literatur ist aber auch zu erkennen, dass Rekrutierungsentscheidungen nach Unternehmensgröße, Tätigkeitsfeld und Personalstrategie variieren: Manche Unternehmen rekurrieren stärker auf formale Zertifikate, andere gewichten Problemlösefähigkeit, Teamarbeit und aktuelle Tool-Kompetenzen (Langemeyer, 2019; Winkler et al., 2021). Tarifliche Eingruppierungslogiken orientieren sich teils weiterhin an formalen Abschlüssen und können die Integration von Quereinsteiger:innen erschweren. Geschlechterspezifische Dynamiken – stereotype Zuschreibungen, fehlende Netzwerke – prägen den Zugang zusätzlich; diese werden im später folgenden Strategieteil aufgegriffen.
2.3 Theoretischer Bezugsrahmen: Signal- und Filtertheorie
Zur analytischen Erfassung betrieblicher Bewertungspraktiken kombinieren wir Signaling-Theorie (Spence, 1973) und Filtertheorie (Arrow, 1973). Beide Perspektiven unterstellen asymmetrische Information und beschreiben, wie Bildungsnachweise zugleich als Signale individueller Leistungsfähigkeit und als institutionelle Filter in Auswahlprozessen wirken. Für die IT-Praxis gilt: Als besonders aussagekräftig gelten Nachweise mit klaren Leistungsanforderungen, internationaler Vergleichbarkeit oder spezifischen technologischen Standards, etwa herstellergebundene Zertifikate (Winkler et al., 2021; Gauthier, 2020). Informelle Signale (Portfolios, GitHub-Profile, Community-Reputation) können diese Wirkung teilweise substituieren, bleiben aber kontextabhängig und schwer zu standardisieren; idealerweise erfolgt ein Validierungsschritt, der solche Signale in anerkannte, vergleichbare Formate überführt.
Operativ lassen sich Signale und Filter als Kosten-Nutzen-Relation lesen: Je trennschärfer ein Nachweis (Signal) und je passender das Auswahlschema (Filter), desto geringer fallen Such-, Vergleichs- und Fehlallokationskosten aus. In stark fragmentierten Märkten steigen dagegen die Risiken „falscher Positiv-/Negativentscheidungen“: Kandidat:innen mit formalem Nachweis ohne belastbare Anwendungserfahrung können überschätzt werden, während Personen mit nachweislicher Praxis, aber ohne etabliertes Label, unterschätzt werden. Herstellerspezifische Zertifikate reduzieren dieses Risiko dort, wo sie Standardnähe und Aktualität anzeigen; Portfolios machen informelles Lernen sichtbar, benötigen jedoch nachvollziehbare Bewertungsmaßstäbe. Micro-Credentials adressieren die Brücke zwischen Modularität und Vergleichbarkeit, wenn Lernergebnisse transparent definiert, Prüfverfahren verlässlich dokumentiert und institutionell verankert sind (CEDEFOP, 2022; OECD, 2023; Pouliou, 2024; Stolte & Spöttl, 2025). Ihre tatsächliche Signal- und Filterwirkung hängt zudem davon ab, inwieweit sie in HR-Routinen als verlässliche Selektionskriterien etabliert sind (Schimke, 2023).
Damit ergibt sich ein Gefüge aus formalen, non-formalen und informellen Pfaden, in dem die Lesbarkeit von Nachweisen zentral ist. Für die nachfolgende Analyse werden Nachweise daher nicht isoliert betrachtet, sondern in ihrer Interaktion mit konkreten Filterlogiken – also im Zusammenspiel mit Aufgabenprofilen, Sicherheitsanforderungen, Branchenstandards und Organisationstypen. Empirisch wird dies entlang typischer Rollenprofile und Rekrutierungssituationen entfaltet; Quereinstiege dienen dabei als Prüffall, weil sich an ihnen in den vorliegenden Interviews die Kopplung von Signalen (z. B. Zertifikate, Portfolios) und betrieblichen Filtern (Rollenanforderungen, Einarbeitungsroutinen) gut nachvollziehen lässt. Im Folgenden betrachten wir Nachweise daher stets im Zusammenspiel mit betrieblichen Filterlogiken.
3 Methodisches Vorgehen
Die Studie folgt einem explorativ-qualitativen Design, das betriebliche Bewertungslogiken und institutionelle Kontexte der IT-Fachkräftesicherung in ihrer Situiertheit erschließt (Flick 2016). Untersucht wurden elf leitfadengestützte Expert:inneninterviews mit Akteur:innen aus Wirtschaft (KMU und Großunternehmen), Berufs-/Weiterbildung, arbeitsmarktpolitischen Institutionen und intermediären Organisationen. Die fall- und fragestellungsgeleitete Auswahl orientierte sich am Prinzip maximaler struktureller Variation. Die Interviews dauerten jeweils etwa 60 Minuten, wurden zwischen Juni 2023 und Februar 2024 per Videokonferenz geführt und so lange fortgesetzt, bis in den leitfragenrelevanten Kernkategorien Sättigung erkennbar war. Nicht alle Teilthemen wurden in jedem Gespräch vertieft, da die Expertisen der Befragten unterschiedlich gelagert waren.
Der Leitfaden wurde entlang der Leitfragen und des theoretischen Rahmens entwickelt, pilotiert und bei Bedarf verfeinert (Helfferich, 2011). Alle Gespräche wurden nach informierter Einwilligung aufgezeichnet, vollständig transkribiert und pseudonymisiert; es kamen vereinfachte, inhaltsorientierte Transkriptionsregeln zur Anwendung (Dresing & Pehl, 2015).
Die Auswertung erfolgte in MAXQDA 24 mittels strukturierender Inhaltsanalyse (Kuckartz & Rädiker, 2022). Ausgangspunkt war ein aus Theorie und Leitfragen abgeleiteter Oberkatalog, der im Verlauf des Codierens induktiv weiter ausdifferenziert wurde. Zwei Auswerterinnen kodierten die Interviews unabhängig voneinander; Abweichungen wurden in einem Konsensverfahren geklärt. Memos und Fallzusammenfassungen unterstützten die fall- und themenübergreifende Verdichtung sowie die rückgebundene Interpretation im Lichte des theoretischen Bezugsrahmens (Mayring, 2015). Wo es sinnvoll erschien, wurden die Interviewbefunde punktuell durch frei zugängliche Programmdokumente und Regularien kontextualisiert.
Die Qualitätssicherung wurde über einen nachvollziehbaren Audit-Trail gewährleistet, der Leitfadenfassungen, Kodierregeln und Konsensprotokolle dokumentiert. Die Teilnahme war freiwillig; eine informierte Einwilligung lag in jedem Fall vor, und die Datenverarbeitung erfolgte DSGVO-konform. Grenzen ergeben sich aus Fallzahl und Expert:innenfokus: Die Ergebnisse sind nicht statistisch generalisierbar, ermöglichen jedoch, gestützt auf heterogenes Sampling, systematisch dokumentierte Auswertung und theoretische Rückbindung, eine ausgeprägte analytische Tiefenschärfe.
4 Zentrale Ergebnisse der Interviewanalyse
Ausgehend von den Leitfragen richtet sich die Ergebnisdarstellung auf drei Kernbereiche: die Struktur des Weiterbildungsmarkts und ihre Folgen für betriebliche Auswahlprozesse (Leitfragen 1–3), die Bewertung unterschiedlicher Nachweisformen inklusive marktnahe Formate (Leitfragen 2–3), sowie die Rolle informell erworbener Kompetenzen (Leitfrage 2). Ein abschließendes Zwischenfazit bündelt Anerkennungsspannungen und ordnet sie in den theoretischen Bezugsrahmen ein.
4.1 Marktfragmentierung und Heterogenität
Die Interviewaussagen zeichnen ein Bild hoher Angebotsdichte bei zugleich ausgeprägter Heterogenität. Ein wissenschaftlicher Experte spricht von einer „wirklich richtig großen“ Range an Umfang und Qualität (ID_005_Wiss02). Gemeint ist nicht allein die Vielzahl von Zertifikatsformaten, sondern ebenso ihre sehr unterschiedliche Tiefe, Validität und betriebliche Anschlussfähigkeit. Am Beispiel datenbezogener Angebote wird die geringe Zugangsschwelle deutlich („keine so großen Hürden oder Schwellen“, ID_005_Wiss02). Aus Unternehmenssicht verschiebt dies die Selektionslast in Richtung der Betriebe: Je größer die Vielfalt, desto wichtiger werden interne Qualitätskriterien und verlässliche Partner („herausfinden, was sind die guten Angebote“; „zuverlässige Partner“, ID_007_Großu_01).
Parallel existieren zwei Angebotslogiken: curriculare, umfangstärkere Programmen und kurzformatige, modularisierte Offerten. Letztere sind nach Verbandsaussagen teils nicht förderfähig (ID_004_Branvb_01) und erhöhen damit die Intransparenz für Betriebe und Lernende gleichermaßen. Das zentrale Muster lautet: Vielfalt kann zur Stärke werden, kippt ohne klar erkennbare Signale (Prüfstandards, Systemnähe, nachweisbare Anwendung) in Unübersichtlichkeit, mit erhöhten Selektionsrisiken auf beiden Seiten, d. h. höheren Raten von Fehlentscheidungen (false positives/false negatives) in betrieblicher Personalauswahl und Lern- bzw. Zertifikatswahl.
4.2 Zertifikate und marktnahe Formate: Bewertung und Einsatz
Dieser Abschnitt bündelt die Intervieweinschätzungen zu Zertifikaten und marktnahe Formaten und ordnet sie entlang der Signal-/Filterlogik ein. Im Fokus stehen drei Typen: herstellerspezifische Zertifikate, Bootcamps und Micro-Credentials. Wir zeigen, wozu sie in der Praxis genutzt werden, unter welchen Bedingungen sie als verlässliche Nachweise gelten und wo ihre Grenzen liegen.
Zertifikate wirken in der Praxis als deutliche, aber kontextabhängige Signale: „Für die Unternehmen sehr wichtig, mit großer Signalwirkung“ (ID_004_Branvb_01). Gleichzeitig betonen Großunternehmen, dass „nicht ein Zertifikat des Zertifikats willen“ entscheide; vielmehr gelte es, „hinter das Zertifikat“ zu schauen und an Qualitätskriterien zu messen (ID_007_Großu_01). In sicherheitskritischen Feldern werden international anerkannte Nachweise einschließlich Rezertifizierungspflichten genannt (ID_007_Großu_01). Ein Branchenvertreter akzentuiert die Priorität praktischer Hürden- und Leistungsnachweise gegenüber reinen Papiernachweisen („Wenn er die Hürde schafft, ist das besser als Zertifikate“, ID_031_Branvb_03). Für Quereinsteigende fungieren Zertifikate oftmals als einzig greifbarer formaler Beleg, sinnvoll flankiert durch Portfolios (ID_009_WBAnbiet_01). Zugleich bleibt eine kulturelle Präferenz sichtbar: „In Deutschland siegt das Papier mit dem Stempel“ (ID_009_WBAnbiet_01).
Herstellerzertifikate: Herstellerspezifische Zertifikate werden dagegen durchgängig als besonders anschlussfähig beschrieben. Ein Experte spricht von der „Herstellerzertifikatsgeschichte“ als eigenem Feld und verortet Seiteneinstiege als realistische Option (ID_005_Wiss02). Ihre Relevanz ergibt sich unter anderem auch aus systemseitigen Vorgaben („Cisco-zertifiziert, sonst darf der das gar nicht“, ID_005_Wiss02). Entsprechend werden sie in Ausschreibungen als Zugangsvoraussetzungen geführt (ID_048_Großu_02); welche Zertifikate zählen, richtet sich an der jeweiligen Systemumgebung (z. B. AWS) (ID_050_Großu_03). Interviewaussagen verweisen auf eine deutliche Orientierung an marktweit verbreiteten Technologieplattformen und Zertifizierungsprogrammen: Zertifikate großer Anbieter werden als ‘breite Währung’ wahrgenommen – exemplarisch die Formulierung ‘Mach Microsoft, Microsoft ist überall’ (ID_031_Branvb_03), die als Hinweis auf Marktdurchdringung und Anschlussfähigkeit verstanden werden kann, nicht als Empfehlung. Zugleich ist die Geltungsdauer solcher Nachweise durch regelmäßig vorgesehene Rezertifizierungszyklen begrenzt; die Zertifikate sind in der Regel zeitlich befristet und müssen in definierten Abständen erneuert werden (ID_002_ArbeitsV_01). Damit signalisieren sie Aktualität im jeweiligen Technologie-Release, erzeugen jedoch zugleich einen fortlaufenden Erneuerungsbedarf auf Seiten der Beschäftigten und der Unternehmen.
Bootcamps: Bootcamps werden als verdichtete, praxisnahe Formate beschrieben, die von Unternehmen in unterschiedlichen Varianten genutzt werden (ID_007_Großu_01). Anbieter verweisen auf Arbeitsmarktnähe („es funktioniert ja“), mahnen aber zur Einordnung der Leistungsversprechen (ID_009_WBAnbiet_01). Die Formate variieren in Dauer, Intensität und didaktischer Anlage deutlich; die Spannweite reicht bis hin zu mehrmonatigen Programmen (ID_047_KMU_01). Aus Sicht eines Branchenverbands werden Bootcamps als grundsätzlich relevanter Baustein im betrieblichen Qualifizierungsportfolio eingeordnet und, abhängig vom konkreten Einsatzkontext, ergänzend zu etablierten Weiterbildungsangeboten genutzt (ID_031_Branvb_03).
Micro-Credentials: Im Material werden Micro-Credentials ausdrücklich adressiert: Ein wissenschaftlicher Experte verweist auf entsprechende Entwicklungen „… im Bereich Micro-Credentials … [auch] bei großen Plattformanbietern“ (ID_005_Wiss02). Ein Verbandsvertreter betont zugleich, dass der Einsatz von Micro-Credentials an Bedingungen geknüpft ist: ‚… nicht grundsätzlich schlecht, müssen aber …‘, gemeint ist, dass sie inhaltlich klar konturiert und durch verlässliche, nachvollziehbare Verfahren abgesichert sein sollten (ID_004_Branvb_01). Im selben Zusammenhang wird punktuell auf Teilqualifikationen als alternative, modulare Nachweisform hingewiesen, die eine ähnliche Funktion übernehmen kann (ID_004_Branvb_01). In der Logik von Signalen und Filtern heißt dies, dass Micro-Credentials dann ihren Wert erhöhen, wenn sie klare Leistungsanforderungen, verlässliche Prüfpfade und betriebliche Passung verbinden; andernfalls bleibt die Signalwirkung begrenzt.
Zusammengenommen zeigen die Interviews drei Muster: (a) Herstellerspezifische Zertifikate liefern systemgebundene, international lesbare Signale und wirken besonders in standardisierten Umgebungen; (b) Bootcamps bündeln Lernzeit und Praxisnähe, sind aber heterogen und gewinnen an Filterwert, wenn Einsatzkontext und Prüfmodalitäten transparent sind; (c) Micro-Credentials/Teilqualifikationen adressieren Modularität, werden jedoch nur dann als belastbare Signale gelesen, wenn Inhalt und Verfahren hinreichend standardisiert und anschlussfähig sind. Diese Befunde verweisen direkt in Richtung der Quereinstiegsrollen (Kap. 5) und der vorgeschlagenen Steuerungsansätze (Kap. 6).
4.3 Informell erworbene Kompetenzen
Informelle Kompetenzen, etwa aus Selbststudium, projektbasierter Praxis, kollaborativem Problemlösen, werden von Unternehmensseite als relevant anerkannt, jedoch explizit an Nachweis- und Plausibilisierungserfordernisse geknüpft. „Quereinsteiger … mit Nachweis der Auseinandersetzung – das ist viel wert“ (ID_048_Großu_02). Als Nachweisstrategie werden ausdrücklich kuratierte Arbeitsproben bzw. Portfolios empfohlen, die bisherige Lernergebnisse und Anwendungserfahrungen gebündelt sichtbar machen (ID_009_WBAnbiet_01). Auf der Prüfseite wird zugleich der Aspekt der Authentizität hervorgehoben, indem betont wird, dass Vorqualifikationen auf ihre Echtheit hin überprüft werden (ID_012_Gewerk_01). Wie stark solche Evidenzen gewichtet werden, variiert kontextabhängig: Kleine und mittlere Unternehmen beschreiben eine eher pragmatische Offenheit gegenüber informell belegter Praxis („definitiv … super“, ID_047_KMU_01), während in größeren, stärker karriereorientierten Organisationen die Erwartung an formalisiert dokumentierte Nachweise zunimmt (ID_031_Branvb_03). Gleichwohl relativiert ein Großunternehmen diese Tendenz, indem es die ausschließliche Bedeutung formaler Belege für die Personalauswahl ausdrücklich zurückstuft (ID_050_Großu_03).
Über Kontexte hinweg gilt: Sichtbare Anwendungserfahrung bleibt die stärkste Währung – sie transformiert informelles Lernen in glaubwürdige Signale und erleichtert den Filterprozess.
4.4 Zwischenfazit: Anerkennungsspannungen und deren produktive Seiten
Die vorangehenden Befunde zu Marktfragmentierung, Zertifikatswirkung und Sichtbarmachung informeller Praxis verweisen auf wiederkehrende Spannungen, die betriebliche Anerkennungsprozesse strukturieren. Diese Spannungen sind nicht nur Hindernisse, sondern können – je nach Kontext – Orientierung geben und Entscheidungen fokussieren. Drei Linien treten im Material besonders deutlich hervor.
Passung vs. Vergleichbarkeit: Herstellerspezifische Zertifikate liefern klare System-Signale, doch ausschlaggebend bleibt die belegte Anwendung im Arbeitskontext – „Zertifikat nur etwas wert, wenn danach mitgearbeitet wurde“ (ID_050_Großu_03). Entscheidungen gewinnen an Verlässlichkeit, wenn formale Nachweise durch kuratierte Portfolios ergänzt werden (ID_009_WBAnbiet_01).
Kurzfristige Verwertbarkeit vs. Tiefe: Bootcamps beschleunigen Übergänge, sind in ihrer Ausgestaltung jedoch heterogen. Sie „funktionieren besonders gut“ dort, wo der Einsatzkontext klar definiert ist (ID_007_Großu_01); zusätzliche Transparenz zu Inhalten und Prüfungen erhöht den Filterwert.
Marktlogik vs. Förderlogik: Hohe Angebotsvielfalt schafft Wahlmöglichkeiten und zugleich Orientierungsrisiken. Unternehmen reagieren mit eigenen Kriterien und stabilen Partnerbeziehungen („zuverlässige Partner“, ID_007_Großu_01). Eine „Papier-mit-Stempel“-Kultur wirkt fort (ID_009_WBAnbiet_01), wird in Teilen aber relativiert (ID_050_Großu_03).
In Bezug auf die Leitfragen kann festgehalten werden: Weiterbildung trägt zur Fachkräftesicherung bei, wenn Signale belastbar und Filterverfahren kontextsensibel aufgesetzt sind (Leitfrage 1). Welche Nachweise für welche Tätigkeiten tragen, hängt vom Aufgaben- und Systemkontext ab; entsprechend variiert die Passung formaler und non-formaler Evidenzen (Leitfrage 2). Marktnahe Formate leisten einen Beitrag, wenn sie Standardnähe mit Praxisbezug verbinden und ihre Prüfpfade ausreichend transparent sind (Leitfrage 3).
5 Quereinstiege in IT-Tätigkeiten
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Marktfragmentierung, der kontextabhängigen Wirkung von Zertifikaten und der Bedeutung sichtbar gemachter Praxisanteile erscheint der Quereinstieg als ein zentraler Prüffall betrieblicher Bewertungslogiken. Gerade im mittleren Qualifikationssegment (DQR 3–5), in dem die Interviewten Engpässe verorten, treffen alternative Lernpfade, wie etwa non-formale und informelle Wege, auf selektionsrelevante Signale wie Herstellerzertifikate oder Portfolios sowie auf betriebliche Filter in Form von Qualitätskriterien und strukturierter Einarbeitung. Quereinstiege sind damit nicht bloß eine Ausnahme, sondern ein systematischer Hebel, an dem sich die Anschlussfähigkeit unterschiedlicher Nachweise und die Wirksamkeit unternehmensseitiger Rekrutierungs- und Qualifizierungsstrategien exemplarisch beobachten lassen.
Quereinstiege gelingen vor allem dort, wo die geforderte Handlungskompetenz in einem klar umrissenen Aufgabenrahmen beobacht- und überprüfbar ist. Häufig genannt wird in diesem Zusammenhang der First-Level-Support als Schnittstelle zwischen Anwender- und IT-Welt – „die Brücke zwischen dem Anwender“ (ID_031_Branvb_03); lässt sich ein Anliegen dort nicht mit Standardverfahren lösen, wird es bei höherer Komplexität an spezialisierte interne Einheiten oder an den herstellernahen Support weitergegeben (ID_031_Branvb_03). Diese Rollen bieten standardisierte Prozesse und eindeutig definierte Leistungsanforderungen, sodass sich Lernfortschritte und Problemlösefähigkeit im Arbeitsalltag gut nachvollziehen lassen. Unternehmen verweisen zudem auf interne Entwicklungswege „aus den eigenen Reihen“ (ID_048_Großu_02), die vom Einstieg in unterstützenden Funktionen hin zu anspruchsvolleren Tätigkeiten führen, und betonen eine grundsätzliche Offenheit gegenüber Quereinstiegen, sofern eine tragfähige „Mischung aus Theorie und Praxis“ gewährleistet ist (ID_007_Großu_01). In der Praxis bedeutet dies: Einstiegsrollen mit klaren Zuständigkeiten und strukturierter Einarbeitung schaffen die Voraussetzungen, damit nicht-lineare Bildungswege sichtbar werden und verlässlich bewertet werden können.
Tragfähig wird der Quereinstieg, wenn mehrere Elemente zusammenkommen: zum einen Soft Skills und eine erkennbare Lernmotivation, zum anderen überprüfbare Praxisbelege – „der Fokus auf Soft Skills ist im Quereinstiegsbereich größer“ (ID_004_Branvb_01). In Auswahlverfahren bleibt die Eignung daher grundsätzlich prüfbedürftig; Entscheider:innen betonen, dass man sich „einen Eindruck“ verschaffen müsse und dies „bei Quereinstieg … schwieriger zu greifen“ sei (ID_050_Großu_03). Als Brücke zwischen Selbstbeschreibung und konkreten Anforderungen empfehlen Anbieter die kuratierte Sichtbarmachung über Portfolios und Arbeitsproben (ID_009_WBAnbiet_01). Aus KMU-Perspektive wird dabei ein pragmatischer Blick auf tatsächlich gemachte Praxis geschildert (ID_047_KMU_01). In der Logik von Signalen und Filtern heißt das: Quereinstieg überzeugt, wenn informelle und non-formale Signale (z. B. Portfolio, dokumentierte Bootcamp-Leistungen, grundlegende Hersteller-Nachweise) in rollenbezogene Evidenzen übersetzt werden und durch eine begleitete Einarbeitung im Betrieb (Onboarding/Coaching) zusätzliche Verlässlichkeit erhalten.
Eine formale Flanke bildet das IT-Weiterbildungssystem: Es ist prinzipiell für Quereinsteigende zugänglich, bleibt jedoch quantitativ unterausgeschöpft (ID_005_Wiss02) und arbeitsmarktnah wenig sichtbar (ID_002_ArbeitsV_01). Mit Blick auf die Leitfragen stellt das System potenzielle Signalträger bereit, entfaltet seine Filterwirkung aber erst bei betrieblicher Bekanntheit und klar definierten Übergängen. Für Unternehmen bleibt ein Quereinstieg damit vor allem eine Frage überprüfbarer Praxis, selektiv flankiert durch formale Bausteine.
Insgesamt sprechen die Befunde dafür, den Quereinstieg nicht als Ausnahme, sondern als strategischen Rekrutierungspfad in klar strukturierten Rollen zu verstehen: Er adressiert den Engpass im mittleren Qualifikationssegment direkt, setzt jedoch sichtbare Anwendungserfahrung und eine begleitete Einarbeitung voraus.
6 Strategiemix zur Linderung des IT-Fachkräftemangels
Die im Material identifizierten Strategien sind nicht als lose Ergänzungen zu verstehen, sondern setzen unmittelbar an den im Ergebnis- und Theorieteil beschriebenen Signal-/Filterproblemen an: Sie zielen darauf, belastbare Signale zu erzeugen (Kompetenzsichtbarkeit), Filter zu vereinfachen (Orientierung/Anrechnung) und die Zielgruppenbasis zu erweitern (Frauen, Zuwanderung). Im Anschluss an diese Logik lassen sich vier, aufeinander bezogene Linien unterscheiden.
Frühe Berufsorientierung und digitale Grundbildung: Interviewte betonen frühe Orientierung und digitale Basiskompetenzen als Grundpfeiler: „viel im Bereich Berufsorientierung – ein ganz wichtiger Punkt“ (ID_005_Wiss02). Verbandsseitig wird dies auf digitale Teilhabe hin geöffnet: „selbstbestimmter Umgang, eine selbstbestimmte Teilhabe der digitalen Welt“ (ID_004_Branvb_01). In Signal-/Filter-Perspektive senkt frühe Orientierung künftige Matchingkosten, weil sie frühzeitige, lesbare Hinweise auf Interessen und Basiskompetenzen erzeugt – besonders in Tätigkeiten, die Quereinstieg ermöglichen.
Frauen gezielt fördern: Daran anknüpfend verweisen Interviewte auf niedrige Beteiligungsquoten von Frauen bei gleichzeitig hohem Bildungserfolg (ID_004_Branvb_01; ID_005_Wiss02). Genannt werden klischeefreie Berufsorientierung (ID_004_Branvb_01), ein breiteres Rollenbild jenseits „tief technischer“ Vorstellungen – etwa IT-Compliance, Projekt-/Anforderungsmanagement oder Software-Testing (ID_031_Branvb_03) – sowie die Nutzung von Netzwerken: „Communities, ganz, ganz viel Communities! Women in Tech ist hier sehr, sehr bekannt, und da gehen Recruiter hin, die ganz aktiv Frauen … suchen“ (ID_047_KMU_01). Zugleich werden Ambivalenzen frauenspezifischer Formate reflektiert („am Anfang gar nicht so gut … in eine extra Ecke gepackt …“, aber auch „man sitzt da, … fühlt sich wohl …“, ID_047_KMU_01). Das erweitert Passungsräume und liefert Reputation/Vertrauenssignale, die Filterprozesse verkürzen.
Zuwanderung entbürokratisieren und integrieren: Im nächsten Schritt rücken migrationsbezogene Verfahren in den Blick. Kritisiert werden uneinheitliche Visa-Anforderungen („unterschiedliche Botschaften … unterschiedliche Anforderungen … obwohl es dasselbe Visa ist“) und nicht durchgängig digitale Verfahren („Digitalisierung des Prozesses … hat … noch nicht stattgefunden“, beide ID_004_Branvb_01). Fachliches Potenzial wird anerkannt, während Sprache/Kommunikation und soziale Einbindung als zentrale Hürden erscheinen („super fachlich … aber … an der Kommunikationsebene [muss man arbeiten]“; „… ich bin … isoliert … weil es … keine Netzwerke gibt“, ID_002_ArbeitsV_01). Praktisch genannt wird die Kopplung von Fach-, Sprach- und Integrationsanteilen: „… eine Art Integrations- und Sprachkurs … [machen wir] immer gemeinsam, sodass da gar keine Friktionen entstehen“ (ID_002_ArbeitsV_01). Standardisierte, digitale Anerkennungs-/Visa-Prozesse reduzieren Informationsasymmetrien; integrierte Pfade stärken arbeitsnahe Signale.
Information und Beratung verankern: Ergänzend wird der Bedarf an kontinuierlicher, biografieorientierter Qualifizierungsberatung adressiert: „eine der zentralen Punkte ist wirklich diese individuelle Qualifizierungsberatung … diese individuelle, auch Biographie begleitende Qualifizierung“ (ID_012_Gewerk_01). Zugleich zeigt sich eine Sichtbarkeitslücke bestehender Instrumente („… das habe ich bei mir nicht auf dem Radar …“ – zum IT-WBS, ID_002_ArbeitsV_01). Als konkrete Nachweisstrategie wird die kuratierte Sichtbarmachung empfohlen: „… empfehle ich denen auch immer eine Form von Portfolio mitzumachen“ (ID_009_WBAnbiet_01). Beratung fungiert damit als Intermediär zwischen fragmentiertem Angebot und betrieblicher Filterlogik: Sie übersetzt Lernleistungen in lesbare Signale und unterstützt Unternehmen bei der Justierung entlang konkreter Rollenprofile.
Wirkung entfalten die Maßnahmen dort, wo sie Signalqualität (sichtbare, überprüfbare Kompetenzen), Filtereffizienz (klare Kriterien, weniger Bürokratie) und Zielgruppenreichweite (Frauen, internationale Fachkräfte) gleichzeitig erhöhen. In ihrem Zusammenspiel ergeben die Bausteine ein stimmiges Bild, in dem frühe Orientierung die Bewerbendenbasis aufbaut, Diversitäts- und Zuwanderungsmaßnahmen sie erweitern und Beratung sowie Anerkennungsverfahren Sichtbarkeit und Vergleichbarkeit herstellen.
Im Gesamtbild verweisen die Befunde darauf, dass Weiterbildung, marktnahe Nachweise und informelle Evidenzen ihre Wirkung vor allem im Zusammenspiel mit klaren, aufgabenbezogenen Auswahllogiken entfalten. Damit rücken nicht einzelne Instrumente in den Vordergrund, sondern ihre Abstimmung: zwischen zertifizierten Standards (z. B. herstellerspezifische Nachweise), modularen Formaten (etwa Micro-Credentials) und sichtbarer Anwendungspraxis (Portfolios/Arbeitsproben). Quereinstiege markieren in diesem Gefüge einen besonderen Prüfpunkt, weil sich hier die Passung der Signale zur konkreten Rolle unmittelbar zeigt. Für Forschung und Praxis liegt die zentrale Frage daher weniger im „Ob“ einzelner Nachweise als im „Wie“ ihrer Einbettung—also in der Transparenz von Prüfpfaden, den Anschlussstellen an betriebliche Verfahren und der Lesbarkeit informeller Kompetenzbelege. Vor diesem Hintergrund sind die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht als additive Einzelaktivitäten zu verstehen, sondern als Bausteine einer kohärenten Übersetzungsarbeit zwischen Lernleistungen und betrieblichen Auswahl- und Einsatzentscheidungen.
7 Diskussion & Ausblick
Die Studie hat – geführt von Signaling- und Filtertheorie – gezeigt, wie Unternehmen im IT-Kontext unterschiedliche Nachweisformen lesen und in Auswahl- sowie Entwicklungsentscheidungen übersetzen. Vier Punkte lassen sich entlang der Leitfragen verdichten.
(1) Weiterbildung & Strategien: Betriebliche Weiterbildung wirkt dort, wo sie glaubwürdige Signale erzeugt (standardisierte Inhalte, systemnahe Prüfungen) und zugleich anschlussfähig in Filterverfahren ist (klare Kriterien, Rezertifizierung). Ergänzend verweisen die Interviews auf strategische Hebel jenseits des Kursangebots: frühe Berufsorientierung, gezielte Beratung sowie prozedurale Entlastungen in Zuwanderung und Anerkennung.
(2) Passung nach Tätigkeit: Formale Nachweise gewinnen in sicherheitskritischen und stark standardisierten Umgebungen; non-formale/informelle Evidenzen (Portfolios, Arbeitsproben) tragen besonders in klar umrissenen, anwendungsnahen Rollen. Unterschiede zwischen KMU und Konzernen betreffen weniger das „Ob“ als das Ausmaß formaler Absicherung.
(3) Marktformate & Passung: Herstellerspezifische Zertifikate fungieren als international lesbare, kontextscharfe Signale, ihr Tauschwert ist systemabhängig. Bootcamps beschleunigen Übergänge; ihr Filterwert steigt mit Transparenz zu Inhalten, Prüfungen und betrieblicher Einbettung. Micro-Credentials adressieren die Lücke zwischen Modularität und Vergleichbarkeit, entfalten aber erst Wirkung, wenn sie in HR-Routinen verankert sind.
(4) Strategiemix: Wirksam erscheint ein Bündel aus früher Orientierung, adressierter Frauenförderung (klischeefreie Ansprache, Rollenbreite, Communities), entbürokratisierter Zuwanderung mit integrierter Sprach-/Sozialbegleitung sowie dauerhaft verankerter, biografiebezogener Beratung.
Praktisch folgt daraus: Signale sichtbar machen (z. B. standardisierte Skill-Profile, Portfolioleitfäden, nachvollziehbare Prüfpfade), Filter vereinfachen (klare Kriterien für Anbieterpartnerschaften, transparente Ausschreibungsanforderungen) und Zielgruppen erweitern (Frauen, internationale Fachkräfte). Für das IT-Weiterbildungssystem bedeutet dies vor allem, Sichtbarkeit und Anschlussstellen zu erhöhen, etwa durch konsistente Verweise auf DQR/IT-WBS, gemeinsame Bewertungsraster und employer-provider-Feedbackschleifen, nicht lediglich Profile vorzuhalten. Wo Micro-Credentials eingesetzt werden, sollten Prüfregeln und Geltungsbereiche klar dokumentiert und mit Rollenprofilen verknüpft sein.
Grenzen der Untersuchung liegen in der qualitativen Fallzahl und im Expert:innenfokus; die Befunde erlauben analytische Tiefenschärfe, nicht statistische Generalisierung. Künftige Arbeiten könnten die Ergebnisse durch quantitative Anschlussstudien, Stellenausschreibungs-/Bewerbungsdaten und längsschnittliche Analysen zu Signalwirkung und Karriereverläufen vertiefen. Zudem bildet das Sample eine Momentaufnahme in einem dynamischen Markt.
Danksagung
Als Projektmitarbeiterin danke ich allen Interviewpartner:innen, ohne deren Zeit, Expertise und Offenheit diese Studie nicht möglich gewesen wäre. Besonderer Dank gilt Dr. Katrin Kaufmann-Kuchta für die gemeinsame Auswertung der Interviews in MAXQDA und ihr kritisches Feedback in der Schreibphase. Für wertvolle Anmerkungen und danke ich zudem Brigitte Bosche. Das Projekt war in das Vorhaben IWWB-PLUS (Personalisierter Lernumgebungs-Suchraum) eingebettet, ein Kooperationsprojekt von DIPF und DIE, gefördert vom BMBF im Rahmen des Innovationswettbewerbs INVITE – Digitale Plattform berufliche Weiterbildung (01.09.2021–31.08.2024).
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Zitieren des Beitrags
Pielorz, M. (2025). Strategien gegen den Fachkräftemangel in der IT-Branche: Die Rolle der Weiterbildung – Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie. bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, 48, 1–15. https://www.bwpat.de/ausgabe48/pielorz_bwpat48.pdf