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Transformationen in der beruflichen Bildung – Handlungsräume und Gestaltungsfelder der Wirtschafts- und Berufspädagogik.
Profil 12: Digitale Festschrift für H.-Hugo Kremer
Hrsg.:
, &Berufliche Schulen als Lern- und Innovationsräume: Eine Betrachtung jenseits des deutschen Kontextes am Beispiel von englischen FE-Colleges
Dieser Beitrag beleuchtet Further Education (FE)-Colleges in England als Kontext der Umsetzung von Innovationen in der beruflichen Bildung. FE-Colleges sind semi-private Bildungsanbieter, die in einem wettbewerblichen Kontext agieren. Sie stehen vor der Herausforderung, immer wieder auf die Einführung neuer Qualifikationen im Bereich der beruflichen Bildung reagieren zu müssen. Der Beitrag zeichnet an Beispielen nach, wie und warum sich das Qualifikationsangebot im Bereich der beruflichen Bildung im englischen Kontext in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Das beschriebene Umfeld hat zur Folge, dass Lehrkräfte an FE-Colleges im Vergleich zu Lehrenden an berufsbildenden Schulen ein eingeschränkteres Innovationsverständnis haben. Sie gehen auf Innovationen insgesamt eher reaktiv ein. Die Aufgabe, aktiv Innovationen voranzutreiben, wird meist der Leitung von Colleges zugeschrieben. Daraus ergibt sich ein Bild, in dem der Aufbau von Innovationskompetenz weitgehend nicht auf der Ebene von Lehrkräften stattfindet.
Vocational institutions as spaces for learning and innovating: Observations beyond the German context using the example of FE colleges in England
This paper investigates Further Education (FE)-Colleges in England as an implementation context of innovation in vocational education and training. FE-Colleges are semi-private providers of education and training, operating in a competitive environment. They face the challenge of providing school-based vocational qualifications that are subject to frequent and far-reaching change. Using examples of a number of different qualifications, the paper demonstrates the reasons why, and the ways in which vocational qualifications have changed frequently in England over recent decades. The context in which FE-Colleges find themselves results in teaching staff demonstrating comparatively limited capacity to engage with innovation. In most cases they react to change, but are not in a situation to shape innovation actively. Instead, this is perceived as a task of the College management. This means that the competence to initiate and shape innovation is difficult to develop at the level of teaching staff.
- Details
1 Vorbemerkung
In den 2000er Jahren untersuchten Hugo Kremer und ich Innovationen in berufsbildenden Kontexten. Wir hatten das Glück, dass unser Vorhaben zunächst mit dem Schwerpunkt auf Schulen in Deutschland durch die Universität Paderborn gefördert wurde. Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass viele Befunde systemimmanent sind, d. h., dass die Ansätze, wie mit Innovationsnotwendigkeiten umgegangen wird, im Geflecht der institutionellen Verankerung und Ausgestaltung von beruflichen Schulen im deutschen System der Berufsbildung verwoben sind. Daraus ergab sich für uns der Ansporn, die Untersuchungen über die nationale Perspektive hinaus auszuweiten. Dies konnten wir im Rahmen einer Reihe von Projekten bewerkstelligen, die durch SKOPE, einem gemeinsamen Forschungszentrum an den Universitäten Oxford und Warwick, finanziert wurden.
In den Projekten ging es uns darum, das Innovationsverständnis von Lehrkräften zu untersuchen und den Zusammenhang zwischen Innovation und Kompetenzen von Lehrkräften zu verstehen. Wir hatten die Vermutung, dass die schulischen Rahmenbedingungen, in denen Innovationen initiiert und umgesetzt werden, das Innovationsverständnis und das Verhältnis zwischen Innovation und Kompetenz von Lehrkräften beeinflussen würde. Deshalb war es uns wichtig, nicht nur Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen in Deutschland in den Blick zu nehmen, sondern diesen Kontext zu kontrastieren. Wir entschieden uns deshalb, auch Further Education (FE) Colleges in England in den Blick zu nehmen, um das Hauptpotenzial des internationalen Vergleichs zu heben, nämlich über die eigenen Systemgrenzen hinauszudenken und das scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen.
Einige der Ergebnisse unserer Arbeiten werden im weiteren Verlauf noch angesprochen werden. Das hauptsächliche Anliegen dieses Beitrags ist aber ein anderes. So soll hier eine tiefergehende Analyse unseres damaligen Forschungskontextes der FE-Colleges geliefert werden. Damit wird nicht nur das Ziel verfolgt, unsere damaligen Analysen zu komplementieren, sondern auch zu zeigen, wie schulische Kontexte in der beruflichen Bildung jenseits einer klassischen öffentlich-finanzierten Form gestaltet werden können, und welche Handlungsspielräume und aber auch Beschränkungen sich daraus ergeben. Somit wird angestrebt, durch die Untersuchung eines kontrastiven Kontextes zumindest einen kleinen Teil dessen zu realisieren, was Noah (1984, S. 154) als den Kern der Disziplin „comparative education“ beschrieben hat:
“Properly done, comparative education can deepen understanding of our own education and society; it can be of assistance to policymakers and administrators; and it can form a most valuable part of the education of teachers. Expressed another way, comparative education can help us understand better our own past, locate ourselves more exactly in the present, and discern a little more clearly what our educational future may be.”
Durch den im vorliegenden Beitrag soll die deutsche Sichtweise auf Innovationen in schulischen Kontexten der Berufsbildung erweitert werden. Zudem wird am Beispiel der Entwicklung von beruflichen Qualifikationen im Vereinigten Königreich aufgezeigt, wie politische Reformen die Sichtweise von Lehrkräften auf innovative Arbeit beeinflussen.
2 FE-Colleges im Kontext der englischen Bildungslandschaft
Berufsbildende Schulen in Deutschland und FE-Colleges in England weisen sehr unterschiedliche institutionelle Charakteristika und Verortungen in den jeweiligen Berufsbildungssystemen auf. FE-Colleges sind Bildungseinrichtungen für die Altersgruppe ab 16 Jahren und halten eine breite Palette an Bildungsangeboten bereit. Diese umfasst sehr unterschiedliche Bildungsgänge im Bereich der beruflichen Bildung, aber auch allgemeine Sekundarschulbildung und hochschulische Bildungsgänge. Die Lernangebote reichen von rudimentären beruflichen Vorbereitungskursen und dem Nachholen von sprachlichen und mathematischen Grundkompetenzen über berufliche Angebote, die in Deutschland im Bereich der Fortbildung angesiedelt wären, bis hin zu Programmen der Qualifikationsstufe 7, also Masterkursen.
Im Bereich der Sekundarstufe sind schulische Anteile der Berufslehre (apprenticeships) ebenso Teil des Portfolios von FE-Colleges, wie die von der konservativen Regierung ab 2016 entwickelten und eingeführten T-Levels (T steht für „technical“, s. u.). Darüber hinaus bieten FE-Colleges auch A-Levels, die den allgemeinbildenden Regelabschluss für den Zugang zur Hochschulbildung darstellen und systemisch betrachtet eine dem Abitur in Deutschland äquivalente Rolle erfüllen.
FE-Colleges führen also sehr heterogene Bildungsangebote zusammen, die der Allgemein-, Berufs-, Erwachsenen- und Hochschulbildung zugeordnet werden können. Etwa drei Millionen Lernende sind an den Colleges in sehr unterschiedlichen Bildungsmaßnahmen registriert (Hodgson & Spours, 2019). Das Portfolio an Lernangeboten macht FE-Colleges zu einem bedeutenden Teil der Bildungslandschaft, besonders als Bindeglied zwischen schulischen Lernkontexten und den in der Wirtschaft erforderlichen beruflichen Kompetenzen. Damit erfüllen sie eine wichtige Funktion in der Vermeidung von Jugendarbeitslosigkeit. Dieser Bedeutung wird der den Colleges entgegengebrachte geringe gesellschaftliche Status und der ungenügende Grad der öffentlichen Finanzierung nicht gerecht. So kennzeichnete Foster (2005) FE-Colleges als den benachteiligten Bereich („disadvantaged middle child“) zwischen akademischer Ausbildung und arbeitsplatznahen Qualifizierungsangeboten. Vielfältige Initiativen und Reformen haben zumindest in der Außensicht zu einer unstetigen Entwicklung von Colleges beigetragen (s. z. B. Leitch, 2006; DfES, 2006; Crowther et al., 2022).
1993 wurden FE-Colleges privatisiert und erhielten weitreichende Eigenverantwortung für Strategie und Finanzierung. Dies zeigt sich auch in den am Muster von Unternehmen ausgerichteten Führungsstrukturen von FE-Colleges. So trägt die Collegeleitung häufig den Titel Chief Executive. Die Privatisierung hatte zur Folge, dass Colleges sich in einer Marktsituation zurechtfinden müssen, in der sie mit anderen, gerade auch privaten Bildungsanbietern um Lernende konkurrieren (BIS, 2015). Ein Großteil der öffentlichen Finanzierung, die FE-Colleges erhalten, ist an die Lernenden gebunden, die sich für ein Bildungsangebot an einem College entscheiden. Zudem bestimmt das Bildungsministerium, den Umfang an staatlichen Mitteln, den bestimmte Qualifikationen mit sich bringen (Farquharson et al., 2021). Dies führt dazu, dass sich Colleges immer wieder auf neue Qualifikationen einstellen müssen. Das staatlich geförderte Qualifikationsportfolio, das sich in England in den letzten Jahrzehnten regelmäßig stark verändert hat, gibt also den Handlungsrahmen von Colleges weitgehend vor.
Insgesamt ist die staatliche Finanzierung für FE-Colleges in den letzten Jahren kontinuierlich gefallen, wodurch sich die Rolle des finanziell dominierten Anreizsystems intensiviert hat. So berechnet das Institute of Fiscal Studies, dass die Einkünfte von Colleges von staatlicher Seite im Zeitraum von 2010 bis 2019 um 12 Prozent gefallen sind. Dies ist Teil einer rückläufigen öffentlichen Finanzierung in der Berufsbildung insgesamt, die sich seit der Banken- und Finanzkrise in 2008/09 im Vereinigten Königreich nachzeichnen lässt (Farquhason et al., 2021). Diese Krise, die nach vielen der gängigen Fiskalindikatoren im Vereinigten Königreich stärker und länger als in den meisten anderen europäischen Ländern gewirkt hat, führte zu einer Phase der „austerity“, also weitreichenden Sparmaßnahmen, die die meisten der Bereiche des öffentlichen Lebens betrafen und zum Teil immer noch betreffen.
Für den Bereich der Berufsbildung und besonders der FE-Colleges versuchte die konservative Regierung mit einem Grundsatzpapier im Jahre 2021 eine Trendwende herbeizuführen.[1] Ein Ziel war es, FE-Colleges als wichtigen Akteur in der wirtschaftlichen Regenerierung des Landes zu etablieren. Bereits in der Konsultationsphase des Grundsatzpapiers zeichnete sich jedoch ab, dass dieses weitreichende Ziel aufgrund der mangelnden Finanzausstattung der Colleges und der nur sehr beschränkt in Aussicht gestellten zusätzlichen Mittel nicht realistisch erschien (Orr, 2020).
3 Berufliche Bildungsangebote im Laufe der Zeit
Gemäß ihrer Funktion im Bildungssystem bieten FE-Colleges ein breites Portfolio von Bildungsprogrammen in der Sekundar- und Erwachsenenbildung an. Für die Zwecke dieses Beitrages steht jedoch ihre Rolle im Bereich der beruflichen Bildung im Vordergrund. Hier sind es vor allem berufliche Qualifikationen, die für einen schulischen Kontext erworben werden, in denen die meisten Lernenden an FE-Colleges eingeschrieben sind. Diese Qualifikationen werden im englischen Kontext häufig als „middle track qualifications“ bezeichnet, weil sie zwischen den allgemeinbildenden A-Levels und in Betrieben erworbenen beruflichen Qualifikationen angesiedelt sind (Stanton & Bailey, 2005). Zu Letzteren gehörten die in den 1980er Jahren entwickelten und inzwischen abgeschafften National Vocational Qualifications (NVQs) sowie die betriebliche Berufslehre (apprenticeships).
Gerade im Bereich der „middle track qualifications“ gab es in den letzten Jahrzehnten wiederholt weitreichende Reformen, in denen unterschiedliche Arten von Qualifikationen in zum Teil aufwändigen Verfahren entwickelt, dann aber nach relativ kurzer Zeit nicht weiterverfolgt wurden. In den meisten Fällen ging dies mit einem Wechsel in der Regierungsverantwortung von den Konservativen auf Labour oder umgekehrt einher. Für FE-Colleges hat dies zur Folge, dass relativ häufig vollständig neue Qualifikationen mit den dazugehörenden Curricula und Prüfungsanforderungen umgesetzt werden müssen. Dies stellt Colleges und Lehrpersonal immer wieder vor große Herausforderungen, die die administrative und didaktische Arbeit bestimmen und weitreichende Folgen auf das Professionsverständnis aller Gruppen von Beschäftigten an Colleges haben.
Im Folgenden sollen drei der wichtigsten von FE-Colleges angebotenen beruflichen Qualifikationen umrissen werden.
3.1 General National Vocational Qualifications (GNVQs)
GNVQs waren ein Projekt der konservativen Regierung und wurden erstmals in einem Gesetzentwurf aus dem Jahr 1991 angekündigt und konzeptionell beschrieben.[2] Sie wurden ab 1993 eingeführt und konnten sowohl von FE-Colleges als auch von allgemeinbildenden Sekundarschulen als Vollzeitprogramme, also ohne wesentliche betriebliche Lernanteile, umgesetzt werden. Sie sollten Lernenden eine breit angelegte Vorbereitung auf eine Tätigkeit in einem Berufsfeld (z. B. kaufmännische, technische oder dienstleistende Tätigkeiten) bieten. Diese Merkmale unterschieden GNVQs von den auf bestimmte Berufstätigkeiten zielenden NVQs, die im betrieblichen Arbeitsumfeld vermittelt wurden (Ertl, 2000).
Von vielen Beobachtern wurde die Entwicklung und Einführung von GNVQs als politische Reaktion auf die Kritik an NVQs verstanden, die als zu eng an die betrieblichen Erfordernisse orientiert gesehen wurden (z. B. Hyland, 1994). GNVQs wurden in drei Schwierigkeitsstufen angeboten (Foundation, Intermediate und Advanced), von denen die höchste im englischen Qualifikationsrahmens mit A-Levels gleichgesetzt wurde. Anders als NVQs sollten GNVQs dadurch beruflich Qualifizierten auch den Weg an die Hochschulen öffnen.
GNVQs folgten als modularisierte Qualifikation den Gestaltungsprinzipien, nach denen in sich geschlossene Lerneinheiten (learning units) einzeln abgeprüft und nach und nach akkumuliert werden konnten. Verschiedene Units bauten nicht aufeinander auf und konnten deshalb in beliebiger Reihenfolge absolviert werden. Eine Unit konnte in mehreren unterschiedlichen Qualifikationen eingesetzt werden (Ertl, 2009). Das Curriculum legte kaum Inhalte, sondern lediglich die Kennzeichen einer erfolgreichen beruflichen Performanz fest. Aus diesen Prinzipien ergab sich ein fragmentierter Charakter der Gesamtqualifikation, der Zweifel an der Fähigkeit von Absolventen nahelegte, sich in einem beruflichen Umfeld zurecht zu finden. In der deutschen Diskussion um Modularisierung wurde der für NVQs und GNVQs verfolgte Ansatz als Gegensatz zu einer umfassenden beruflichen Handlungskompetenz rezipiert (Ertl, 2006).
Neben den Zweifeln an der Tauglichkeit von GNVQs als berufliche Qualifikation stellte sich auch bald heraus, dass sie Absolventen nur wenig Chancen auf einen erfolgreichen Hochschulzugang ermöglichten. Aufgrund ihrer weitreichenden Autonomie in Zugangsfragen lag es an den Hochschulen, den Wert von GNVQs als studienvorbereitende Qualifikation zu bestimmen. Es wurde klar, dass Bewerber mit GNVQs wenn überhaupt nur für wenig nachgefragte Studiengänge zugelassen wurden (Hayward et al, 2021). Renommierte Universitäten zogen GNVQs nicht als Zugangsqualifikation in Betracht. Somit stellte sich heraus, dass GNVQs in den meisten Fällen keiner ihrer Zielsetzungen, berufliche und hochschulische Vorbereitung und Zugänge zu ermöglichen, gerecht wurden (Smithers, 1993). Spours (1995) führte dies auf die zwangläufigen Widersprüche zurück, die mit dem Konzept einer hybriden Zielsetzung einhergehen.
Aufgrund der geringen Nachfrage nach GNVQs wurden sie noch im Laufe der 1990er Jahre mehrfach reformiert (Capey, 1995; Dearing, 1996). Im Jahr 2000 wurden Advance GNVQs in Vocational A-Levels umbenannt, um das Renommee der Qualifikation durch die Assoziation mit A-Levels zu erhöhen (Brooks & Lucas, 2004). Aber auch diese Maßnahme konnte die Vorbehalte von Jugendlichen, deren Familien und Betrieben gegenüber den Qualifikationen nicht ausreichend verändern. 2004 kündigte das inzwischen von Labour geführte Bildungsministerium das schrittweise Auslaufen von GNVQs an. In der Praxis hieß dies, dass Bildungsanbieter wie FE-Colleges nach und nach immer weniger staatliche Förderung für Lernende in GNVQ-Programmen erhielten und die Qualifikation deshalb nicht mehr angeboten wurde (QCA, 2005). Damit wurde eines der Hauptziele der in den 1980er eingeleiteten Bildungsreformen verfehlt, nämlich das unübersichtliche Qualifikationsangebot in der Berufsbildung zu strukturieren und zu vereinfachen.[3]
3.2 14-19 Diplomas
Kurz nach der Entscheidung, GNVQs nicht weiter zu verfolgen, unterbreitete die Labour Regierung 2005 im Gesetzentwurf 14-19 Education and Skills ihren eigenen Entwurf zur Reform von Curricula und Qualifikationsstrukturen im Sekundarbereich für England (DfES, 2005).[4] Der Vorschlag sah umfangreiche Wahlmöglichkeiten für Sekundarschüler bereits ab dem Alter von 14 Jahren vor. Ein Kernstück dieses Reformentwurfes stellte die Einführung einer neuen Qualifikation, der so genannten 14-19 Diplomas, dar. Die neue Qualifikation wurde stufenweise in 17 breiten Fachbereichen (Lines of Learning) eingeführt, die mehr oder weniger direkt Beschäftigungssektoren zugeordnet werden konnten. Wie GNVQs wurden Diplomas auf drei Niveaustufen angeboten: foundation, higher und advanced. Eine weitere Ähnlichkeit bestand in der Konzeption von Diplomas als Doppelqualifizierung hinsichtlich Arbeitsmarkt- und Hochschulzugang. Wie GNVQs sollten sie neben einer Vorbereitung auf die Arbeitswelt auch Zugang zu weiterführenden Bildungsangeboten, insbesondere auf Hochschulbildung, bieten. Obwohl sich Diplomas auch an allgemeinbildende Schulen richteten, waren es wiederum FE-Colleges, die die neue Qualifikation in der Fläche in die Umsetzung bringen sollten.
Als Grundprinzip für die Entwicklung und Umsetzung von 14-19 Diplomas ist die maßgebliche Rolle der Arbeitgeber (employer-led) hervorzuheben. Dies bedeutete, dass Arbeitgebervertreter von Anfang an eine führende Rolle in der Konzeption und im Design der neuen Qualifikationen einnahmen. Im traditionellen Modell der Qualifikationsentwicklung in England ist lediglich eine begrenzte Anzahl von Arbeitnehmer/-innen in eingeschränktem Ausmaß beteiligt. In diesem Modell übernehmen Zertifizierungsstellen (Awarding Bodies) die zentrale Rolle in der Erstellung von Qualifikationen; Arbeitgeber sind hier i. d. R. lediglich in der letzten Entwicklungsphase in die Relevanzprüfung der neuen Qualifikation eingebunden. Der Entwicklungsprozess für Diplomas kehrt dieses Zusammenwirken verschiedener Akteure in einem gewissen Maße um: Arbeitgeber (durch relevante Verbände und Vertreter) wurden mit der Suche nach passenden und relevanten Inhalten, mit der Formulierung übergeordneter Ziele und der Entwicklung geeigneter didaktischen Vermittlungsformen der neuen Qualifikation betraut. Erst auf der Grundlage dieser Vorgaben sollte die detailliertere Designarbeit der Awarding Bodies einsetzen (House of Commons, 2007).
In der gestuften Einführungsphase wurden die ersten fünf Diplomas erstmals im Schuljahr 2008/09 angeboten (Konstruktion und Bau, Kreativität und Medien, Ingenieurswissenschaften, Informationstechnologie, Gesellschaft, Gesundheit und Entwicklung). In einer zweiten Welle wurden die nächsten fünf Diplomas in den Bereichen Wirtschaft, Verwaltung und Finanzen, Haar- und Beautystudien, Gastgewerbe, Umwelt- und Landschaftsstudien und Herstellung und Produktionsdesign im Schuljahr 2009/10 eingeführt. Ein Jahr später wurden dann vier weitere Diplomas zum ersten Mal an Schulen und Colleges unterrichtet: Öffentlicher Dienst, Einzelhandel, Sport und aktive Freizeitgestaltung sowie Reise und Tourismus (QCA, 2008). Ab 2011/12 kamen dann die letzten drei Diploma-Linien zum Einsatz, die allgemeiner angelegt waren und sich nicht an Beschäftigungssektoren orientierten: Naturwissenschaften, Sprachen und Geisteswissenschaften.
Ein mit den Diplomas verbundenes Ziel ist es, den Lernenden zu ermöglichen, sich eine breite Palette von anwendbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen, die für einen ganzen Beschäftigungssektor relevant sind. Dies sollte durch Lernen in einem anwendungsorientierten Kontext ermöglicht werden. Das Prinzip des anwendungsorientierten Lernens (applied learning) war zentral für den mit Diplomas verbundenen Entwicklungsansatz. Dem Gesetzentwurf folgend bedeutete dieses Prinzip, das Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten durch Aufgaben und Kontexte erworben werden sollten, die in direkter Verbindung zur Arbeitswelt stehen (QCA, 2008).[5]
Das von QCA festgelegte Verständnis von Diplomas als anwendungsorientierte Qualifikation muss in der weitergehenden Diskussion um den grundlegenden Charakter der Diplomas gesehen werden. Das Diplomaprojekt begann mit dem Bemühen um eine hochwertige, beruflich orientierte Alternative zu A-Levels, um dann in eine immer stärkere Konzeptionalisierung der Diplomas als allgemeinbildende Qualifikation mit anwendungsorientierten Bezugspunkten zu münden. Dies lässt sich schon aus der Veränderung der Bezeichnung von „vocational Diplomas“ über „specialised Diplomas“ bis hin zur aktuell gängigen Bezeichnung „14-19 Diplomas“ ablesen. Diese wiederholten Neubenennungen haben dazu geführt, dass verschiedene Akteure deutlich unterschiedliche Verständnisse davon haben, welche Art von Qualifikation Diplomas darstellen und welchen Zweck sie erfüllen sollen.[6]
Die Einführung der Diplomas war Teil einer ambitionierten Reform und Neukonzeption der Sekundarstufenbildung in England. Wieder waren aber „middle track qualifications“ am stärksten betroffen. Während nämlich A-Levels und Apprenticeships inhaltlich und didaktisch reformiert wurden, blieben sie strukturell und vom ‚Markenkern‘ her intakt. Diplomas dagegen stellten eine grundsätzliche Neuorientierung dar, auch wenn bestimmte Charakteristika von GNVQs als ihren Vorgängern beibehalten wurden.
Bereits eine frühe, zwischen 2007 und 2009 durchgeführte Evaluation zeigte, dass Diplomas trotz der mit ihnen verbundenen ambitionierten Ziele weitgehend auf einen bekannten strukturellen Aufbau zurückgriffen (Ertl et al., 2009), der, wie aus den Umsetzungserfahrungen mit NVQs und GNVQs bekannt, mit weitreichenden Problemen verbunden ist (vgl. Stanton & Bailey, 2005). Somit blieb die Hoffnung unerfüllt, mit der Entwicklung und Einführung von Diplomas eine konzeptionelle Neuorientierung von beruflich orientierten Qualifikationen in England einzuläuten.
Bald nach dem Regierungswechsel in 2010 begann ein Prozess der Neuorientierung in der Bildungspolitik, dem letztendlich auch die Diplomas, einem Projekt der bis dahin regierenden Labour Partei, zum Opfer fielen. Die neue Koalitionsregierung unter Führung der Konservativen Partei nahm eine Bewertung der Situation im Bereich der Sekundarbildung vor und kam zu dem Schluss, dass weitereichende Veränderungen notwendig seien. Somit begann das Ende von Diplomas noch bevor alle vorgesehen Programme vollständig implementiert waren.
3.3 T-Levels
Nach einer Phase der Bewertung und Neuorientierung, maßgeblich vorangetrieben durch zwei externe Evaluationen, dem Wolf-Report von 2011 und den Salisbury-Report von 2016, fiel 2016 der Startschuss für eine weitreichende Reform des Bildungs- und Qualifizierungssystem für die Altersgruppe von 16-19 Jahren. Diese Reform ist noch nicht abgeschlossen und wird von der Labour Regierung, die im Juli 2024 ihre Arbeit aufnahm, überarbeitet. Zum jetzigen Zeitpunkt (Dezember 2024) zeichnet sich aber ab, dass die grundlegende Ausrichtung und Zielsetzung Bestand haben wird.
Ein wichtiges Ziel der Reform ist es, Jugendlichen eine klarere Orientierung im öffentlich finanzierten Bildungs- und Qualifikationsangebot zu geben. Dies soll dadurch erreicht werden, dass eine Vielzahl von Qualifikationen, die den gesetzten Qualitätsansprüchen nicht gerecht werden oder sich mit anderen Qualifikationen weitgehend überschneiden, in Zukunft nicht mehr öffentlich finanziert werden sollen (DfE, 2019; Lewis, 2024).
Während die allgemeinbildenden Abschlüsse für diese Altersgruppe weitgehend unangetastet blieben (A-Levels und GCSEs), wurde im Bereich der angewandten und beruflichen Qualifikationen mit zu entwickelnden T-Levels ein neuer Standard geschaffen, der eine Vielzahl von bisher geförderten Qualifikationen aus Regierungssicht überflüssig machen soll. Dadurch versprechen sich die zuständigen Ministerien eine transparentere Qualifikationsstruktur, die sowohl für Jugendliche als auch für Arbeitgeber einfacher zu navigieren ist. Der Plan der konservativen Regierung war es, einer Vielzahl von Qualifikationen im beruflichen Bereich nach und nach die Finanzierung zu entziehen, und stattdessen die neuen T-Levels zu positionieren. Gegen diese Strategie gab es zahlreiche Proteste, die vor allem auf die wichtige Stellung der weit verbreiteten BTECs (Business and Technology Education Council) verwiesen (HEPI, 2022), die von den Konservativen als Auslaufmodell eingestuft wurden (Foster & Powell, 2019).
Die neue Labour Regierung hat die Proteste gegen das Auslaufen der Finanzierung für viele Qualifikationen abseits von A-Levels und T-Levels aufgegriffen und es zeichnet sich eine weniger einschneidende Strategie ab (Lewis, 2024). Dies ändert jedoch nichts daran, dass T-Levels als politisch gefördertes Projekt das Qualifikationsangebot gerade auch an FE-Colleges deutlich verändern.
Die neuen T Levels sind in erster Linie an den Erfordernissen der Arbeitswelt orientiert und stehen konzeptionell zwischen allgemeinbildenden A-Levels und der betrieblichen Lehrlingsausbildung (Apprenticeships). Sie werden vorwiegend in schulischen Lernumgebungen, z. B. FE-Colleges, angeboten, beinhalten aber auch betriebliche Lernanteile.
T-Levels stehen damit in der Tradition der sogenannten „middle track“-Qualifikationen in England, ebenso wie GNVQs und Diplomas. Wie diese sollen T-Levels berufliche Orientierung bieten und auch das Ziel verfolgen, ein gewisses Maß an beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln. Gleichzeitig sollen allgemeinbildende Inhalte (vor allem sprachliche und mathematische Kompetenzen) vermittelt und generische Fähigkeiten (Teamarbeit, Kommunikation) gefördert werden.
Im Vergleich zum früheren „middle track“ sollen T-Levels stärker an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes orientiert sein, allerdings in konzeptionell anderer Weise als dies in der betrieblichen Lehrlingsausbildung (Apprenticeships) der Fall ist. Im englischen Modell der Apprenticeships steht arbeitsplatzbezogenes Lernen in Betrieben im Vordergrund, die dafür eine staatliche Förderung erhalten. Das Apprenticeship-System ist nur bedingt mit der Ausbildung im deutschen dualen System vergleichbar, weil es nach einer mehr oder weniger vollständigen Abschaffung der Lehrlingsausbildung in den 1980er-Jahren erst Ende der 1990er-Jahren wieder eingeführt wurde (Ertl, 1998). Seitdem wurde es mehrmals grundständig reformiert und stellt trotz weitreichender staatlicher Unterstützung lediglich in Teilbereichen der Wirtschaft eine anerkannte und verbreitete Möglichkeit der Fachkräfteentwicklung dar (Fuller et al., 2017).
Auch aufgrund der geringen Verbreitung von Apprenticeships wurde in der Vergangenheit immer wieder versucht, schulisch basierte, beruflich orientierte Qualifikationen zu schaffen und zu etablieren. Die Einführung von T-Levels kann als ein weiterer Versuch gesehen werden, ein besseres Qualifizierungsangebot im Bereich der beruflichen Bildung zu schaffen.
T-Levels sind auf eine Dauer von zwei Jahren in Vollzeit angelegt (1.800 Lernstunden) und zielen in der Hauptsache auf Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren ab. Sie sind auf Stufe 3 des englischen Qualifikationsrahmens angesiedelt und sollen Lernende in erster Linie auf den Übergang in qualifizierte Facharbeit vorbereiten. Daneben sollen sie auch den Übergang zu höherer Berufsbildung auf den Stufen 4 und 5 ermöglichen; dies umfasst auch den Übergang in höherstufige Apprenticeships (DfE, 2018, S. 18). Formal sind T-Levels gleichwertig zu drei A-Level-Programmen und sollen den Weg zur Hochschule ebnen. Wie der Abschluss von T-Levels aber konkret den Zugang zu hochschulischen Bildungsgängen ermöglichen soll, ist nicht geklärt. Entsprechende Planungen in einer frühen Konzeptionsphase sahen die Entwicklung von Brückenprogrammen vor (DBIS/DfE 2016, S. 25–27).
T-Levels umfassen Lernprogramme in elf breiten Tätigkeitsfeldern (meist als „routes“ bezeichnet), die klassische Berufsfelder wie Bauberufe ebenso umfassen wie in Ausbildungsprogrammen bisher weniger stark strukturierte Bereiche wie Digitales.[7] Eine möglichst umfassende Abdeckung der Tätigkeiten in der Arbeitswelt scheint bei der Auswahl von Tätigkeitsfeldern kein wichtiges Kriterium gewesen zu sein. Schätzungen gehen davon aus, dass T-Levels lediglich auf die Hälfte der aktuell am Arbeitsmarkt nachgefragten Berufsrollen vorbereiten (vgl. Foster & Powell, 2019).
Für alle T-Levels ist eine Kombination von Lernprozessen in schulischen Kontexten und einem berufspraktischen Teil (ca. 20 % der Lernzeit), der in Betrieben absolviert wird, vorgesehen. Die schulischen Anteile (ca. 80 %) werden meist von FE-Colleges angeboten, die formal auch als Programmanbieter fungieren (vgl. DfE, 2020). Teil des Finanzierungsansatzes ist die direkte finanzielle Unterstützung von Unternehmen, die Plätze für betriebliche Lernanteile zur Verfügung stellen. Auch gibt es weitere Mittel, die mittelbar für den Erfolg der neuen Qualifikation sorgen sollten, so z. B. für den Aufbau von Infrastruktur und Ausstattung bei Bildungsanbietern, für die Qualifizierung des Bildungspersonals sowie für Informations- und Marketingmaßnahmen (Foster & Powell, 2019, S. 13–15).
Wie in früheren Qualifikationsreformen bereitet die Einbindung relevanter Stakeholder auch bei der Entwicklung von T-Levels Probleme. Dies ist z. T. dem Umstand geschuldet, dass es in England keine dauerhaft verfasste Beteiligungsstruktur wie in Ländern mit einer dual strukturierten beruflichen Aus- und Fortbildung gibt. Der weitgehend genutzte Modus der öffentlichen Konsultation scheint die Ziele einer Expertise-geleiteten Einbindung der Sozialpartner nur sehr bedingt zu erfüllen. Somit ist zu befürchten, dass die Akzeptanz der neuen Qualifikationen durch die Arbeitgeber begrenzt sein dürfte, ein Umstand, der bereits in vorherigen Reformprozessen festzustellen war (vgl. Ertl & Stacz, 2010). Dies könnte besonders in Bezug auf die für T-Levels notwendigen Phasen berufspraktischen Lernens problematisch sein. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich hier Betriebe nicht ausreichend engagieren, wodurch die Implementation der neuen Qualifikationen stark behindert werden könnte (z. B. CIPD, 2018).
Insgesamt ergibt sich der Eindruck eines Reformansatzes, der mit der Verbesserung der Qualität beruflicher Bildungsangebote und der Erhöhung von Transparenz und Status der beruflichen Qualifizierungssystems wichtige Ziele verfolgt. Zugleich zeigen sich aber in der Konzeption der T-Levels Ansatzpunkte für Zweifel, ob diese Zielsetzungen wirklich erreicht werden können. Letztlich wird die Akzeptanz der neuen Qualifikationen bei den wichtigsten Akteuren, d. h. den Jugendlichen und ihren Familien, den Betrieben und den Hochschulen, Aufschluss über die Erreichung der weitreichenden politischen Ziele geben können.
4 Innovation an FE-Colleges
Die eingangs erwähnten Arbeiten zu Innovationen in schulischen Kontexten der Berufsbildung zielten auf das Innovationsverständnis der Lehrkräfte und die Bestimmung von damit verbundenen Kompetenzen und Rahmenbedingungen an beruflichen Schulen in Deutschland und an FE-Colleges in England (Ertl & Kremer, 2010; 2011). Einige der wichtigsten Ergebnisse der damaligen Untersuchung sollen hier verdichtet dargestellt werden, um das Bild von FE-Colleges aus der Perspektive der Lehrenden abzurunden. Insbesondere werden die Befunde der Untersuchung in Bezug auf das Selbst- und Innovationsverständnis von Lehrkräften an FE-Colleges zusammengefasst. Das Verständnis von Innovationen in schulischen Kontexten wird als dynamisch gesehen; eine generelle Gültigkeit der Befunde im Zeitverlauf kann also nicht unterstellt werden.
FE-Colleges bewegen sich in einem wettbewerblichen Umfeld, in dem sie mit anderen Bildungsanbietern um Lernende konkurrieren. Daraus ergeben sich Marktmechanismen, die u. a. eine ständige Anpassung der angebotenen Lernprogramme nach sich zieht, die sich wiederum aus einem volatilen politischen Umfeld speisen, in dem gerade beruflich orientierte Qualifikationen einem ständigen Wandel unterworfen werden. In den vorhergehenden Abschnitten wurde der Wandel im staatlich geförderten beruflich orientieren Qualifikationsangebot an drei prominenten Beispielen dargestellt, die besonders große Auswirkungen auf FE-Colleges haben.
Die Struktur der von FE-Colleges angebotenen Qualifikationen ist mit einer hohen Dynamik versehen und verändert sich laufend. Die vom bildungspolitischen System an FE-Colleges herangetragenen Qualifikationsvorgaben werden vom mittleren Management entschieden und mit Umsetzungsvorgaben an die Lehrkräfte weitergegeben. Darin drückt sich insgesamt eine arbeitsteilige Realisierung der Qualifikationsvorgaben aus. Die Veränderungen werden von den Lehrkräften als intern vom mittleren Management veranlasst eingeschätzt. Sie reagieren auf diese Veränderungen mit einer Anpassung der Unterrichtsinhalte.
Im skizzierten bildungspolitischen Umfeld wird die substanzielle Arbeit mit Qualifikationen und Lerninhalten von Lehrenden an FE-Colleges als Innovationsaufgabe verstanden. Sie betrachten es als eine Kernaufgabe, auf diese Art von Veränderungen entsprechend zu reagieren und ihre Unterrichtsarbeit anzupassen. Als weitere Innovationsanlässe werden neue Informations- und Kommunikationstechnologien, Veränderungen in der Zusammensetzung von Lerngruppen (z. B. Vergrößerung des Anteils von Vollzeitlernenden auf Kosten des relativen Anteils von Teilzeitlernenden) oder Verbindungen zur Industrie genannt. Die Neuerungen werden insgesamt als unvermeidbar eingeschätzt und als Teil des marktorientierten Umfeldes gekennzeichnet. Innovationen werden insgesamt als eine kurzfristige und abzuarbeitende Umsetzung von neuen Qualifikationen verstanden. Ein eigener Handlungsspielraum wird hier bewusst ausgeblendet. Die Innovationstätigkeit wird nicht als Aufgabe der Lehrkräfte gesehen, sondern sollte schwerpunktmäßig durch die Programmmanager, d. h. das mittlere Management von Colleges, bewältigt werden.
Programmmanager haben in diesem Gefüge die Rolle, ein Innovationsverständnis vorzugeben bzw. dieses zu prägen. Ihre Position ist entweder als Mitglied der College-Führung oder als Lehrkraft mit Sonderaufgaben gekennzeichnet. Ihre Aufgabe besteht vornehmlich darin, die Lehrkräfte im Alltagsgeschäft zu unterstützen und Innovation als eine individuell verstandene Aufgabe voranzutreiben. Innovationsaufgaben, die sich auf didaktische Prozesse beziehen, werden häufig nicht an Lehrkräfte weitergegeben, weil diese die Programmmanager in der Verantwortung sehen. Dies kann dazu führen, dass didaktische Innovationen in Colleges nicht oder nur unzureichend wahrgenommen werden.
Das Professionalitätsverständnis von Lehrkräften steht in Verbindung mit einem Selbstverständnis als Experte für ein bestimmtes Berufs- bzw. Tätigkeitsfeld, als gemeinsame Basis wird das Fachwissen der Lehrkräfte angesehen. Übergreifende Kompetenzen, wie z. B. Offenheit, Bereitschaft zur Kooperation oder Präsentationsfähigkeiten werden zwar genannt, erfahren jedoch keine weitere Differenzierung. Teamarbeit wird nicht als Besonderheit hervorgehoben, sondern als Bestandteil der alltäglichen Arbeit gekennzeichnet.
Die Fokussierung auf fachliche Sachverhalte geht häufig einher mit der typischen Berufsbiographie von Lehrkräften an FE-Colleges, die dadurch gekennzeichnet ist, dass viele Lehrkräfte eine Sozialisation in beruflichen Tätigkeitsfeldern erfahren haben und über Wege der Nachqualifizierung zur Lehrtätigkeit kommen. Das Lehrverständnis wird kaum thematisiert und der Schwerpunkt auf die Implementation von Produkten im Sinne neuer Bildungsangebote gerichtet. Hinzu kommt, dass die Lehrkräfte mit ihrem FE-College in einem Angestelltenverhältnis stehen, das gewöhnlich von klar geregelten, schriftlich fixierten Aufgabenbereichen und hierarchischen Vorgesetztenstrukturen geprägt ist (James & Biesta, 2007; Lucas, 2004). Diese Strukturen begünstigen die funktionalistische Selbstwahrnehmung als Arbeitnehmer/-innen mit einer klar definierten Rolle am College.
Regelmäßige Inspektionen werden von der Managementebene als wichtiges Instrument zur Gestaltung und Weiterentwicklung von Colleges verstanden. Aus Sicht der Lehrkräfte werden diese hingegen lediglich als Teil eines sich laufend wandelnden Umfelds gesehen. Dies steht im Zusammenhang mit einer formalen Interpretation der Inspektionen, die Anforderungen sind bekannt und werden kaum als Teil eines Qualitätsverbesserungssystems interpretiert. Die didaktischen Intentionen der Inspektionen scheinen in den Organisationsebenen zu ‚verpuffen‘.
Als eine fehlende Rahmenbedingung von Innovationen nennen Lehrkräfte ausreichende zeitliche Ressourcen. Der Anteil der innovativen Tätigkeiten am Aufgabenspektrum von Lehrkräften wird eher als gering eingeschätzt und es wird darauf verwiesen, dass Innovationen überwiegend unter Druck erfolgen. Im Arbeitsprozess sind Zeiträume fixiert, in denen Innovationen entwickelt und implementiert werden. Innovation stellt sich damit als zeitlich abgeschlossene Aufgabe heraus. Als wichtige Rahmenbedingung wird die Wettbewerbsfähigkeit der Bildungsangebote herausgestellt. An das Management stellt sich die Aufgabe der Restrukturierung wirtschaftlich nicht lebensfähiger Einheiten. Innovationen werden damit im Wettbewerbsvergleich rezipiert.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass Innovationen im Zusammenhang mit der notwendigen Marktorientierung von Colleges über eine thematisch ausgerichtete Maßnahmenplanung getragen werden und mit Innovation kaum ein Verständnis zur Veränderung des Lehrkonzepts verbunden wird. Die Gestaltung von Maßnahmen stellt sich als stetige Veränderungsaufgabe und ist als Routineaufgabe in den Ablaufstrukturen verankert. Die Ablaufgestaltung und Aufgabenteilung in der Organisation untergraben damit in gewisser Weise den potenziell innovativen Charakter von Veränderungen. Es überwiegt ein fachlich gebundenes, d. h. auf die Inhalte von Qualifikationen abzielendes, Innovationsverständnis.
5 Fazit
Dieser Beitrag beschreibt FE-Colleges als einen Kontext schulisch-organisierter beruflicher Bildung, um eine kontrastive Folie für die Betrachtung von beruflichen Schulen in Deutschland anzubieten. Insbesondere wurden zwei Charakteristika herausgearbeitet, die die Arbeit von FE-Colleges und ihrer Lehrkräfte bestimmt: ihre rechtliche Verfasstheit als semi-private Institutionen in einem wettbewerblichen Umfeld sowie ihre Abhängigkeit eines sich in beinahe konstantem Wandel befindlichen Angebots staatlich geförderter beruflicher Qualifikationen. Beide Merkmale unterscheiden sich deutlich von der Situation, in der sich beruflichen Schulen in Deutschland befinden.
Zudem wurde herausgearbeitet, welchen Einfluss die Verfasstheit und Verortung der Institutionen auf das Verständnis von Innovation an FE-Colleges haben. In dieser Hinsicht lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Kontexten in den beiden Ländern identifizieren.
An FE-Colleges wird Innovation tendenziell eher als eine standardisierte Aufgabe verstanden, die über die Organisationsstruktur bewältigt wird und teilweise institutionell verankert ist. Dies bewirkt, dass sich innovatives Handeln von Lehrkräften als Reaktion auf von außen formulierten Vorgaben und Anforderungen zeigt. Im Vordergrund steht das Management von Maßnahmen. Dies unterscheidet sich vom Verständnis der Rolle von Lehrkräften als (Fach-)Pädagoge, wie es an berufsbildenden Schulen in Deutschland meist überwiegt. Hier wird die Aufgabe der Innovation durchaus als Teil des eigenen Professionalitätsverständnisses gesehen und Innovationskompetenz als notwendige Voraussetzung für eine zielführende Ausgestaltung der eigenen Rolle betrachtet. Allerdings wird Innovation auch im deutschen Kontext überwiegend als Aktualisierung fachlicher Sachverhalte interpretiert und erst in zweiter Linie in Bezug auf das Lehrkonzept bzw. eine methodische Gestaltung der Unterrichtsarbeit.
Unabhängig vom konkreten Arbeitsumfeld empfinden Lehrkräfte in beiden Kontexten „Innovationsarbeit“ als Herausforderung, deren Bearbeitung durch mangelnde zeitliche Ressourcen und fachliche Unterstützung behindert wird (Ertl & Kremer, 2011). Für beide Systeme gilt, dass Bildungsreformen vor dem Hintergrund dieser Einschränkungen eine begrenzte Interpretation im schulischen Umfeld erfahren. Sie werden vor dem Hintergrund des vorliegenden Innovationsverständnisses des Bildungspersonals verkürzend behandelt.
Gerade im englischen System, das von immer wiederkehrenden Reformen betroffen ist, erscheint eine systemisch angelegte innovative Weiterentwicklung der beruflichen Bildung am Lernort FE-College kaum möglich. Die Folgen zeigen sich deutlich in der unzureichenden Vorbereitung von Absolventen auf die Anforderungen der Arbeitswelt. So gaben Unternehmen bei einer Untersuchung im Rahmen der Entwicklung von T-Levels an, dass aus ihrer Sicht lediglich 38 Prozent der 17- und 18-jährigen Jugendlichen, die sie direkt nach dem Besuch eines FE-College eingestellt hatten, genügend vorbereitet für den Einstieg in das Berufsleben waren (CIPD, 2018, S. 4). Es ist zu vermuten, dass die in diesem Beitrag behandelten Strukturmerkmale von Colleges und die sich daraus ergebenden Arbeitsbedingungen von Lehrkräften für diesen Befund eine bedeutende Rolle spielen.
Für Hugo Kremer und mich ergaben sich aus der Untersuchung viele weitere Felder der Zusammenarbeit, bei der häufig der Fokus auf Innovation in der beruflichen Bildung im Mittelpunkt steht. Die derzeit laufende Begleitforschung zum Programm InnoVET steht somit beispielhaft für ein langjähriges gemeinsames Forschungsinteresse.
Abschießend bleibt festzustellen, dass die in diesem Beitrag diskutierten Innovationsverständnisse im deutschen und englischen Kontext nicht statisch sind. Die Ausführungen beziehen sich in vielen Fällen auf Untersuchungen um das Jahr 2010. Im Sinne es Forschungsdesiderats wäre es sicher lohnenswert, Veränderungen im Innovationsverständnis in vergleichender Perspektive in den Blick zu nehmen.
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[1] White Paper Skills for Jobs: Lifelong learning for opportunity and growth (DfE, 2021).
[2] White Paper Education and Training for the 21st Century.
[3] Prais (1989, S. 52) sprach von einem “jungle of certificates“.
[4] Das Bildungssystem im Vereinigten Königreich unterliegt seit den 2000er Jahren, wie viele andere Politikbereiche, dem fortschreitenden Prozess der Devolution, mit der Folge, dass sich die Bildung in den Landesteilen England, Schottland, Wales und Nordirland immer weiter auseinanderentwickeln. Die hier thematisierte Reform des beruflichen Qualifizierungssystems betrifft in erster Linie England, obwohl manche der besprochenen Qualifikationen auch in Wales angeboten werden.
[5] Applied learning bedeutet nach der Lesart von QCA: „Acquiring and applying knowledge, skills and understanding through tasks set in sector contexts that have many of the characteristics of real work, or are set within the workplace… (T)asks … must be relevant to real work in the sector” (QCA et al., 2007, zit. nach Edexcel, 2009, S. 11).
[6] Einblicke in die Diskussion zur „konzeptionellen Evolution“ von Diplomas zwischen 2005 und 2007 und deren negative Auswirkungen bietet House of Commons (2007, S. 9–16).
[7] Agriculture, Environmental and Animal Care; Business and Administration; Catering and Hospitality; Construction; Creative and Design; Digital; Education and Childcare; Engineering and Manufacturing; Hair and Beauty; Health and Science; Legal, Finance and Accounting.
Zitieren des Beitrags
Ertl, H. (2025). Berufliche Schulen als Lern- und Innovationsräume: Eine Betrachtung jenseits des deutschen Kontextes am Beispiel von englischen FE-Colleges. I In P. Frehe-Halliwell, M.-A. Kückmann & F. Otto (Hrsg.), bwp@ Profil 12: Transformationen in der beruflichen Bildung – Handlungsräume und Gestaltungsfelder der Wirtschafts- und Berufspädagogik Digitale Festschrift für H.-Hugo Kremer zum 60. Geburtstag (S. 1–17). https://www.bwpat.de/profil12_kremer/ertl_profil12.pdf