bwp@ Profil 12 - Juni 2025

Transformationen in der beruflichen Bildung – Handlungsräume und Gestaltungsfelder der Wirtschafts- und Berufspädagogik.

Profil 12: Digitale Festschrift für H.-Hugo Kremer

Hrsg.: Petra Frehe-Halliwell, Marie-Ann Kückmann & Franziska Otto

Innovieren, Transferieren, Gestalten: Eine Wissenschaft, die sich verständigt

Beitrag von Tobias Jenert
Schlüsselwörter: Transfer, Transferforschung, Bildungsinnovation, Verständigung

In der Berufs- und Wirtschaftspädagogik besteht seit langem eine Diskussion darüber, wie und in welchem Umfang die Disziplin zur Gestaltung und Innovation von Berufsbildung beitragen soll. Mittelbar, über die Gewinnung möglichst objektiver und breit generalisierbarer Erkenntnisse zu wirksamen Praktiken? Oder unmittelbar über die Auseinandersetzung mit Problemen aus der Berufsbildungspraxis und der Entwicklung von Problemlösungen, Heuristiken und Theorien mittlerer Reichweite? Dabei zeigt sich, dass beide Zugänge – die empirisch-nomologische wie auch die gestaltungsorientierte Forschung – mit einem Transferproblem zu tun haben. Für beide stellt sich die Frage, wie Bildungspraxis auf Basis des jeweiligen Forschungsoutputs gestaltet werden kann bzw. wie Innovationen in die Breite getragen werden können. Der Beitrag widmet sich der Frage, wie Transfer in der Berufsbildungsforschung konzeptualisiert werden kann. Neben einer Auswertung bestehender Literatur in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik werden Erfahrungen aus unterschiedlichen Forschungsprojekten analysiert und verglichen.

Innovating, Transferring, Designing: A Science that aims at understanding

English Abstract

In VET research, there has long been a discussion about how and to what extent the discipline should contribute to the design and innovation of vocational education. Indirectly, by obtaining as objective and widely generalizable insights as possible about effective practices? Or directly, through engaging with problems from vocational education practice and developing solutions, heuristics, and mid-range theories? It becomes evident that both approaches – the empirical-nomological as well as the design-oriented research – face a transfer problem. For both, the question arises of how educational practice can be shaped based on the respective research output, or how innovations can be widely disseminated. The contribution focuses on how transfer in vocational education research can be conceptualized. In addition to an evaluation of existing literature in vocational and business education, experiences from various research projects are analyzed and compared.

1 Einleitung

Wissenschaft ist, trotz ihrer starken Vernetzung und des Aufeinander-Bezugnehmens in Forschungsarbeiten, oft eine recht individuelle und manchmal einsame Angelegenheit. Einzelne Forscher:innen bearbeiten spezifische Themen und spezialisieren sich auf bestimmte Forschungszugänge und -methoden. Weil Forschungscommunities hochschul- und länderübergreifend organisiert sind, liegt es häufig näher, mit Kolleg:innen einer anderen Hochschule zusammenzuarbeiten, als mit der Büronachbarin oder dem Büronachbarn.

Manchmal allerdings entwickeln sich – bei aller Unterschiedlichkeit individueller Forschungsagenden und methodologischer Zugänge – Gemeinsamkeiten, die über punktuelle Kooperationen hinausreichen. In der Zusammenarbeit mit H.-Hugo Kremer und weiteren Kolleginnen und Kollegen am Department Wirtschaftspädagogik der Universität Paderborn sind für mich Linien deutlich geworden, die über unsere sehr unterschiedlichen Forschungskontexte, Methodenzugänge und Projektzusammenhänge hinaus immer wieder aufscheinen. Dabei geht es nicht so sehr darum, wie Forschung konkret, d. h. auf der Ebene methodologischer Ansätze und methodischer Praktiken, ‚gemacht‘ wird; vielmehr zeigen sich die Gemeinsamkeiten im Verständnis davon, in welchem Verhältnis Wissenschaft zur Gesellschaft steht und welche Verantwortlichkeiten und Herausforderungen sich dadurch für die Forschung ergeben.

Greifbar wird dieses gemeinsame Verständnis in den Arbeiten zu Innovation und Transfer in der (Berufs-)Bildungsforschung, ein Begriffspaar, das unsere Arbeit am Department für Wirtschaftspädagogik in den letzten Jahren geprägt hat (Daniel-Söltenfuß et al., 2022; Jenert, 2023; H. Sloane et al., 2020). Hintergrund dieses gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkts ist die Beobachtung, dass die Bildungsforschung im Allgemeinen und die Berufsbildungsforschung im Besonderen bei der Förderung von Innovationen im Sinne nachhaltiger Problemlösungen immer wieder an Grenzen gerät. Innerhalb der berufs- und wirtschaftspädagogischen Wissenschaftsgemeinschaft materialisiert sich der Diskurs um den Stellenwert von Praxisgestaltung immer wieder an grundlegenden erkenntnistheoretischen bzw. methodologischen Fragen, insbesondere an der seit rund drei Jahrzehnten andauernden Debatte um gestaltungsorientierte (Modellversuchsforschung bzw. Design-Based Research) versus empirisch-nomologische (Evidenzbasierung bzw. randomized controlled trials) Forschungszugänge (Euler & Sloane, 2024).

Allerdings (vielleicht ironischerweise) trifft das Innovations- und Transferproblem sowohl Forschende, die sich ‚klassischer‘ empirisch-nomologischer Designs bedienen, als auch jene, die sich gestaltungsorientierter Forschung verschrieben haben. Empirisch-nomologische Forschung, die sich gerne des Begriffs der Evidenzbasierung bedient, identifiziert‚ ‚was funktioniert‘ (what works), indem Effekte möglichst isoliert erfasst und Störvariablen möglichst isoliert werden. Die Herausforderung solcher Forschungsansätze besteht darin, dass die festgestellten Effekte nur in den kontrollierten Kontexten einigermaßen verlässlich auftreten, in denen sie erfasst wurden. Die so gewonnenen Ergebnisse sind also nicht besonders robust gegenüber den spezifischen Merkmalen lokaler Kontexte. Um dem zu begegnen, wird häufig auf Metaanalysen verwiesen: Durch die breite empirische Basis – viele unterschiedliche Studien zu ein und demselben Effekt werden zusammengefasst – sollen die Ergebnisse robuster gegenüber Kontextbedingungen gemacht werden. Allerdings werden die Erkenntnisse dadurch auch sehr abstrakt (Scharlau & Jenert, 2023). Dadurch verlieren sie an Innovationskraft und helfen Praktiker:innen nur wenig dabei, Probleme, die als neu und herausfordernd wahrgenommen werden, zu bearbeiten. Bildungspraktiker:innen erleben die Ergebnisse solcher Forschung häufig als wenig handlungsleitend und teils sogar unplausibel, weil konkrete Handlungssituationen oft eben nicht den Bedingungen entsprechen, unter denen empirische Evidenz generiert wurde. Effekte können dadurch unscharf oder mindestens nicht mehr praktisch relevant werden (Brown, 1992).

Umgekehrt stehen gestaltungsorientierte Forschungsansätze vor der Herausforderung, Problemlösungen, die in lokalen Gestaltungskontexten (z. B. Modellversuchen) entwickelt wurden, soweit zu generalisieren, dass daraus kontextübergreifende Hinweise für die Bearbeitung pädagogisch-didaktischer Probleme abgeleitet werden können. Die Diskussion darüber, in welcher Form solche Ergebnisse dokumentiert werden können, wird international seit Ende der 1990er Jahre geführt. Etabliert hat sich der Begriff sog. „Design Principles“ (van den Akker, 1999). Diese Gestaltungsprinzipien sollen als Theorien mittlerer Reichweite neben den Gestaltungsvariablen auch Hinweise auf Kontextbedingungen enthalten, welche für die Wirkung der entsprechenden Designs eine Rolle spielen (Euler, 2014; 2017). Allerdings haben sich bislang keine tragfähigen Konventionen für die Formulierung von Design Principles etabliert. Hanghøj et al. (2022, S. 222) konstatieren eine „messiness of design principles in Design-Based Research“. Neben der großen Uneinheitlichkeit im Verständnis darüber, wie Gestaltungsprinzipien zu formulieren seien, stellen die Autor:innen fest, dass Studien, die sich des DBR-Ansatzes bedienen, häufig gar keine kontextübergreifenden Ergebnisse ausweisen, sondern ihre Ergebnisse eher in Formaten präsentieren, wie sie in der qualitativen oder der Fallstudienforschung gebräuchlich sind.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass obenstehende Ausführungen keine (!) prinzipielle Kritik oder Parteinahme für oder gegen einen erkenntnistheoretischen Zugang darstellen. Die beschriebenen Herausforderungen – das Anwendungsproblem einerseits und das Generalisierungsproblem andererseits – sind inhärenter Teil der jeweiligen Zugänge, die allerdings mitunter übersehen oder mindestens nicht (mehr) explizit angesprochen werden (Scharlau & Jenert, 2023; Kelly, 2004). In jedem Fall wird deutlich, dass die (Berufs-)Bildungsforschung unabhängig vom Modus der Erkenntnisgewinnung an Grenzen gerät, wenn es darum geht, Forschungsergebnisse so über den jeweiligen Forschungskontext hinaus als Innovationen für die Bildungspraxis zugänglich und nutzbar zu machen. Vor diesem Hintergrund argumentieren Daniel-Söltenfuß et al. (2022) dafür, Innovations- und Transferprozesse selbst stärker in den Fokus berufs- und wirtschaftspädagogischer Forschung zu rücken. Obgleich die Frage nach dem Transfer von Forschung in die Berufsbildungspraxis schon lange und auch immer wieder diskutiert wurden, kann nicht von einem konsistenten Forschungsprogramm gesprochen werden. Die Auseinandersetzung mit Innovation und Transfer fand bislang eher anlassbezogen statt, meist im Kontext von Modellversuchsprogrammen (z. B. Kremer & Theis, 1995; Nickolaus & Schurpel, 2001; Schemme et al., 2017; Melzig et al., 2021). Insbesondere fehlt es an differenzierten Konzepten und Modellen, die systematisieren, was unter Innovation und Transfer in der Berufsbildungsforschung verstanden werden kann (Gräsel, 2010). Im Folgenden stelle ich zwei Modelle vor, die Transfer zum einen in der Prozess- (Wie erfolgt Transfer?) und zum anderen in der Gegenstandsdimension (Was könnte transferiert werden?) ausdifferenzieren. Die Modelle speisen sich aus Erfahrungen einer Reihe von Forschungsprojekten in unterschiedlichen Kontexten – der beruflichen Lehrer:innenbildung, der Berufsbildungsforschung sowie der pädagogischen Hochschulentwicklung. Abschließend diskutiere ich, welches Verständnis von Wissenschaft in diesen Modellvorstellungen zum Ausdruck kommt. Dies bezeichne ich als ‚Wissenschaft, die sich verständigt‘.

2 Innovation und Transfer in der Berufsbildungsforschung

In der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung sind die Konzepte ‚Innovation‘ und ‚Transfer‘ eng mit dem Diskurs um die Modellversuche der 1990er-Jahre verknüpft. Zentrale Idee der Modellversuche, die maßgeblich vom Bundesinstitut für Berufliche Bildung (BIBB) angeschoben und finanziert wurden und werden (z. B. aktuell mit den InnoVET Förderlinien und dem INVITE-Innovationswettbewerb) ist es, innovative Konzepte zur Bearbeitung von Herausforderungen der Berufsbildung bzw. bildungspolitische Vorgaben in den bzw. aus den jeweiligen Praxiskontexten heraus zu entwickeln. Diese Idee ist auf den ersten Blick überzeugend, weil die Entwicklung von Innovationen im Sinne von Problemlösungen in den betroffenen Institutionen, also Betrieben (Wirtschaftsmodellversuche) oder Schulen (Schulmodellversuche), selbst erfolgt. Der gerade in der Lehrer:innenbildung häufig beschriebene Bruch zwischen (Bildungs-)Forschung und (Schul-)Praxis (Rothland, 2020) wird damit mutmaßlich vermieden: Innovationen werden nicht unter kontrollierten Bedingungen entwickelt und evaluiert, sondern sind schon im Gestaltungskontext unmittelbar den vielschichtigen und komplexen Rahmenbedingungen und Wirkgefügen der Praxis ausgesetzt. Gleichzeitig stellt sich allerdings die Frage, ob lokal entwickelte Lösungen für Problemstellungen, die sich häufig aus gesamtgesellschaftlichen Transformationsbewegungen ergeben, überhaupt generalisier- bzw. auf andere institutionelle Kontexte übertragbar sind. Lassen sich beispielsweise Konzepte zur Integration von Fachkräften mit Migrationshintergrund, die in einer Kommune mit einer spezifischen Bildungslandschaft (berufliche Schulen, dritte Lernorte, zivilgesellschaftliche Akteur:innen) entstanden sind, auch nur ansatzweise in andere Kommunen übertragen? Im Ansatz, Innovationen in der Berufsbildung nicht aus der Forschung heraus, sondern über Modellversuche praxisintegriert zu entwickeln, verbindet sich das Innovationsproblem also inhärent mit einem Transferproblem (Holz, 2000). Die Transferproblematik gehört zu den größten Kritikpunkten am Modellversuchsansatz. Wie oben bereits erörtert, stellt sich die Frage, wie die Ergebnisse lokaler Innovationsprojekte kontextübergreifende Wirkungen entfalten können und, ob sich verallgemeinerbare Erkenntnisse im Sinne von Theorien gewinnen lassen (Tramm & Reinisch, 2003).

2.1 Transferprozesse als Forschungs- und Gestaltungsgegenstand der Berufs- und Wirtschaftspädagogik

An dieser Stelle wäre zu fragen, ob der Transfer von Forschungsergebnissen grundsätzlich in den Phänomenbereich von Interventionsforschung – gleich ob unter empirisch-nomologischer oder gestaltungsorientierter Perspektive – einzubeziehen wäre. Auffällig ist nämlich, dass Transfer oft mehr oder weniger explizit mit einer Verkaufs- oder Marktmetapher verbunden, selten aber als Forschungsgegenstand benannt wird. Beispielsweise entwickelt Euler (2005) ein Marktmodell von Transfer, in dem er eine „Angebotsseite“ und eine „Nachfrageseite“ unterscheidet. Gelingender Transfer stellt demnach einen Auswahl- und Anpassungsprozess dar, um den Transfernachfragenden ‚passende‘ Transferangebote zu liefern. Der Beitrag von Eulers Modell liegt in der Betonung des Prozesscharakters von Transfer und der Beziehung zwischen Transfergebenden und -nehmenden. Zugleich geht dem Modell voraus, dass die am Transfer Beteiligten Passungsfragen erkennen und kommunizieren können. Dies setzt voraus, dass das, was transferiert werden soll (die angebotenen Transfergegenstände), (a) einigermaßen einfach zu greifen und (b), dass die Konfiguration der zugrundeliegenden Problemstellung im Angebots- und Nachfragekontext weitgehend vergleichbar sind. Genau diese Voraussetzungen sind in komplexen Transfervorhaben jedoch häufig nicht gegeben. Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung verschiedener Innovationsprojekte in unterschiedlichen Kontexten zeigen, dass die Verständigung darüber, wie eine Innovation entstanden ist, welche Ziele sie verfolgt (bzw. vor dem Hintergrund welchen Problemverständnisses sie entwickelt wurde), und unter welchen Rahmenbedingungen sie funktionieren kann, ausgesprochen herausfordernd ist. Hierzu Beispiele aus drei unterschiedlichen Begleitforschungsprojekten:

Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung des InnoVET-Programms (Projekt ITiB) zeigen, dass es für die Projektbeteiligten häufig eine große Herausforderung darstellt, genau zu explizieren, unter welchen Bedingungen eine Innovation entstanden ist und welche Elemente des Transferangebots welchen Beitrag zur Bearbeitung einer Problemstellung leisten (Daniel-Söltenfuß et al., 2022). Zudem wird deutlich, dass auch die Transferkonzeptionen der am Transfer beteiligten Akteur:innen die von Euler (2005) beschriebenen Auswahl- und Anpassungsprozesse behindern können, z. B. weil erwartet wird, dass Transfergegenstände möglichst unverändert übertragen und implementiert werden (Daniel-Söltenfuß, 2024).

Ähnliche Erfahrungen zeigen sich bei der Transferbegleitung von Lehrinnovationen in der Hochschullehre (Projekt DigiSelF). Unbewusste und daher auch nicht explizierbare Merkmale der beteiligten Disziplinen erwiesen sich hier als große Hürde für den Innovationstransfer, selbst innerhalb ein und derselben Hochschule. Obwohl auf der sprachlichen Oberfläche sehr ähnliche Problemwahrnehmungen und Wirkannahmen geäußert werden, zeigt eine tiefergehende Analyse, dass starke unausgesprochene Unterschiede bestehen, die letztlich zu gegenseitigen Irritationen führen und den Transfer von Innovationen behindern. So haben beispielsweise die Ingenieurswissenschaften ganz andere Vorstellungen von Ursache-Wirkungszusammenhängen als z. B. die Psychologie. Interessant ist hierbei, dass die Projektbeteiligten ihre Irritationen (beispielsweise in gemeinsamen Workshops) nicht intuitiv den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zuschreiben, sondern eher den persönlichen Merkmalen der jeweils anderen Personen (Heidebrecht & H. Sloane, 2024). Eine solche Zuschreibung institutioneller und/oder struktureller Charakteristika auf Personen ist für Transfer ausgesprochen problematisch, weil dadurch von einer intensiven Auseinandersetzung mit den eigentlich zugrundeliegenden institutionellen Unterschieden zwischen Entwicklungs- und Zielkontext abgelenkt wird.

Im Rahmen der Begleitforschung Transferinitiative kommunales Bildungsmanagement (Projekt ImTransRegio) haben Kommunen den Eindruck, dass es Transferagenturen, die beim Aufbau eines sogenannten „datenbasierten kommunalen Bildungsmanagements“ unterstützen sollen, kaum gelingt, sich die spezifischen Handlungslogiken kommunaler Verwaltung in der notwendigen Tiefe und Differenziertheit zu erschließen (Sloane et al., 2020). Eine Analyse der Perspektive der Transferagenturen wiederum zeigt, dass diese ein Spannungsfeld zwischen externen Erwartungen (der Politik, des Fördermittelgebers) an Transfer und den Unterstützungsbedarfen der Kommunen wahrnehmen. Während ersterer Transfer vor allem mit einem Effizienzversprechen assoziieren, erwarten letztere Lösungsansätze für komplexe Probleme der jeweiligen Kommunalverwaltung (Jenert, 2025).

Diese Erfahrungen aus ganz unterschiedlichen Handlungskontexten weisen darauf hin, dass sich gelingender Transfer nur selten mit der Metapher einer Übertragung oder Dissemination von Problemlösungen bzw. Innovationen fassen lässt. Vielmehr müssen die Verständigungsprozesse zwischen dem Entwicklungs- und dem Zielkontext von Transfergegenständen in den Blick genommen werden. Jenert und Bosse (2021 angepasst durch Jenert, 2025) schlagen ein Prozessmodell vor, das die Verständigung zwischen Entwicklungs- und Zielkontext in den Mittelpunkt des Transferkonzepts rückt (s. Abbildung 1).

Abbildung 1: Transfer als Verständigungsprozess (Jenert, 2025, modifiziert nach Jenert & Bosse, 2021, S. 267).Abbildung 1: Transfer als Verständigungsprozess (Jenert, 2025, modifiziert nach Jenert & Bosse, 2021, S. 267).

Während die Unterscheidung in und die Abstimmung zwischen Entwicklungs- und Zielkontext von Eulers (2005) Modell inspiriert ist, unterscheidet sich die Konzeption der Interkation zwischen den beiden Kontexten deutlich. Das Modell differenziert eine Reihe von Kategorien und Variablen, die für die Verständigung im Transfer eine Rolle spielen:

  1. Transfergebende müssen in einem (selbst-)reflexiven Prozess ihre subjektiven Grundannahmen (z. B. über Wirkungszusammenhänge), Erfahrungen, Erwartungen usw., die mit der zugrundeliegenden Problemstellung verbunden sind, erschließen und explizieren, um sie schließlich kommunizieren zu können.
  2. Die Entstehensbedingungen eines Transferangebots im Entwicklungskontext sind zu rekonstruieren und die Implementationsbedingungen im Zielkontext zu analysieren. Gerade bei Innovationsprojekten besteht die Gefahr, dass die Entwicklung von besonderen (ggf. begünstigenden) Rahmenbedingungen wie spezifischen Ressourcen, besonderer Motivation und besonders ausgeprägten Problemwahrnehmungen begleitet ist, die im Zielkontext nicht in gleicher Weise vorzufinden sind.
  3. Die konkreten Transfergegenstände müssen abgegrenzt, zueinander in Beziehung gesetzt und hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Voraussetzungen beschrieben werden. Gerade in bildungsbezogenen Innovationsprojekten ist häufig nicht klar, was genau ein Transferangebot umfasst bzw. in welcher Granularität auf Transfergegenstände zu blicken ist. Beispielsweise kann eine App zur Simulation eines technischen Geräts für die gewerblich-technische Ausbildung als einzelner, relativ ‚einfacher‘ Transfergegenstand betrachtet werden. Zugleich ist denkbar, dass die App aber nur dann die intendierte Wirkung entfaltet, wenn sie im Rahmen eines komplexen didaktischen Designs eingesetzt wird, die im Zielkontext umfassende Bildungsgangarbeit bedeuten würde.

Eine solche prozessorientierte Sichtweise auf Transfer begründet ganz eigene Forschungs- und Gestaltungsfragen, unter anderem:

  • Welche subjektiven Theorien der Transfergebenden (u. a. Problemwahrnehmungen, Wirkannahmen) liegen den Problemlöse- bzw. Innovationsprozessen im Entwicklungskontext zugrunde?
  • Welche begünstigenden und/oder hemmenden Rahmenbedingungen (Ressourcen, Promotor:innen, Widerstände) kennzeichnen die Problemlöse- bzw. Innovationsprozesse im Entwicklungskontext?
  • Welche Implementationsbedingungen liegen im Zielkontext vor?
  • Wie können Transfernehmende und -gebende bei der Reflexion und Explikation der Entstehensbedingungen von Innovationen im Entwicklungskontexten bzw. der Implementationsbedingungen im Zielkontext unterstützt werden?
  • Welche Formate sind geeignet, um Verständigungsprozesse zwischen Entwicklungs- und Zielkontext bzw. Transfernehmenden und -gebenden zu unterstützen?

An diesen Beispielen wird deutlich, dass Transferforschung im oben skizzierten Analyse- bzw. Gestaltungsrahmen (vgl. Abbildung 1) eine Reihe von Vorhaben begründet, die sowohl theoretisch als auch methodologisch und forschungsmethodisch unterschiedlich angelegt werden können bzw. müssen. Forschung kann Transfer rekonstruktiv bzw. analytisch-deskriptiv begleiten, indem die jeweiligen Entwicklungskontexte und -prozesse bzw. Zielkontexte und Implementationsprozesse erforscht werden. Darüber hinaus kann Forschung gestaltend tätig werden, wenn sie Verständigungsformate entwickelt und evaluiert (Daniel-Söltenfuß, 2024) oder selbst als „Transferagent:in“ (Ganseuer & Jers, 2021, S. 292) agiert.

2.2 Innovation & Transfer: Eine Differenzierung aus der Subjektperspektive

Die Auseinandersetzung mit Transferprozessen kann als Reaktion auf die häufige Überbetonung der Transfergegenstände verstanden werden. Der Fokus auf die Dokumentation und das Verfügbarmachen von Transfergegenständen kann als ein Ausdruck eines einfachen Übertragungsmodells von Transfer verstanden werden. Wie oben ausgeführt, ist ein solches Transferverständnis zwar verlockend, weil es große Effizienzgewinne durch Transfer verspricht, angesichts der Komplexität von Entwicklungs- und Innovationsprozessen im Entwicklungs- und Zielkontext aber eben auch oft reduktionistisch und entsprechend problematisch. Allerdings sollten die durch die Betonung der Transferprozesse die Transfergegenstände nicht aus dem Blick verloren werden. Mit Blick auf das Gelingen von Transfer stellt sich die Frage, ob bzw. wie die Struktur von Transfergegenständen mit Innovation bzw. Entwicklung und Implementation im Entwicklungs- und Transferkontext zusammenhängt.

Böhle (2017) stellt einen Zusammenhang zwischen dem Innovationsgehalt eines Transfergegenstands und der Wahrscheinlichkeit gelingenden Transfers her: Erfolgreicher Transfer sei dann umso wahrscheinlicher, wenn der Innovationsgehalt des Transfergegenstands eher gering ausfällt. Er erklärt diesen Zusammenhang von der Implementationsseite des Zielkontextes her: Kleinteilige Transfergegenstände, etwa eine für sich stehende digitale App, die einen ganz bestimmten Arbeitsprozess unterstützt, erfordern wenig institutionelle Ressourcen und Veränderungsprozesse im Zielkontext. Ein geringer Eingriff in die institutionellen Gegebenheiten macht Widerstände unwahrscheinlicher, unterstützt die Akzeptanz des Transfergegenstands. Umgekehrt erfordern Gegenstände, die einen hohen Innovationsgrad aufweisen, beispielsweise ein inklusionsorientiertes Ausbildungskonzept für Betriebe, große Veränderungsprozesse, die auch in die Routinen und Praktiken der Personen im Zielkontext eingreifen (Böhle, 2017, S. 84).

Die Überlegungen Böhles (2017) liefern zwei wichtige Impulse zur Differenzierung von Transfer: Erstens wird die Struktur der angebotenen Transfergegenstände mit der Gestaltung (bei Böhle reduziert auf die Erfolgswahrscheinlichkeit) von Transferprozessen verbunden. Zweitens wird auch impliziert (allerdings nicht weiter ausgeführt), dass Transfergegenstände nicht objektiv und eindeutig sind, sondern durch die Transfernehmenden interpretiert werden. Diese Interpretation kann die Veränderungskraft von Transferprozessen im Zielkontext verengen oder erweitern. Zur Illustration zwei Beispiel aus transferorientierten Forschungsprojekten:

  1. Das Teilprojekt der Fachdidaktik Chemie im Lehrinnovationsprojekt DigiSelF entwickelte eine Virtual-Reality-Umgebung (VR), die das Laborpraktikum handlungsnah simuliert. Ein wesentliches Projektziel besteht darin, Ängste der Studierenden beim Hantieren mit Chemikalien sowie empfindlicher und teurer Laborausstattung abzubauen. Aus Sicht der Transfergebenden handelt es sich bei der Lehrinnovation um ein umfassendes Veränderungsprojekt, die VR-Umgebung dient als Kristallisationspunkt für umfassende Veränderungen der curricularen Einbindung sowie der pädagogisch-didaktischen Gestaltung des Laborpraktikums. Dies umfasst auch eine Veränderung der Lehrpraktiken der beteiligten Hochschullehrenden (Peeters et al., 2023). Aus Sicht der Transfernehmenden lässt sich dieses Innovationsprojekt ganz unterschiedlich interpretieren. Häufig wird die Technologieinnovation, also das virtuelle Labor, in den Mittelpunkt gerückt und als zentraler Transfergegenstand verstanden. Dies kann insofern problematisch werden, wenn die intendierten Wirkungen des Innovationsprojekts im Entwicklungskontext allein auf die VR-Anwendung projiziert und die damit verbundenen Veränderungsprozesse in Lehrorganisation und -praktiken ausgeblendet werden.
  2. In der Transferinitiative kommunales Bildungsmanagement spielt das sogenannte Bildungsmonitoring eine große Rolle. Die zentrale Idee besteht darin, auf kommunaler Ebene bildungsbezogene Daten mit strategischen Zielen für die Weiterentwicklung kommunaler Bildung in Verbindung zu bringen. Die Datenbasierung soll dabei helfen, Entscheidungsprozesse zu informieren sowie Veränderungen im Zeitverlauf zu evaluieren. Das Bildungsmonitoring kommuniziert im Rahmen der Bildungsberichterstattung an kommunale Akteur:innen in Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft (Döbert & Weishaupt, 2014; Siepke et al., 2021). Materiell manifestierte sich die Bildungsberichterstattung in so genannten Bildungsberichten, welche Stand und Entwicklung kommunaler Bildungsdaten für eine bestimmte Berichtsperiode in verschriftlichter Form darstellen. Viele transfernehmende Kommunen übernahmen den Bildungsbericht als sicht- und greifbare Manifestation der Bildungsberichterstattung. Bei einem erheblichen Anteil dieser Transfernehmenden war jedoch festzustellen, dass das Instrument nicht an strategische Zielsetzungen rückgebunden bzw. an kommunale Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse angebunden wurde. Dementsprechend ist in den Zielkontexten des Transfers von anderen Wirkungen des Transfergegenstands auszugehen.

Beide Beispiele zeigen, dass Transferangebote nicht als ‚objektive‘ Gestände (Werkzeuge, Prozesse, Konzepte, Modelle etc.) zu verstehen sind. Entscheidend ist vielmehr die Wahrnehmung und Interpretation der Transfergegenstände durch die Transfernehmenden. Dementsprechend sind Rahmenbedingungen der Verständigungsprozesse zwischen Transfergebenden- und nehmenden bzw. zwischen Entwicklungs- und Zielkontext zu explizieren und sich über Struktur und Innovationsgehalt des bzw. der Transfergegenstände auszutauschen (H. Sloane & Heidebrecht, 2023). Im Rahmen der Begleitung von Transferprozessen wurde eine Heuristik entwickelt, die dabei hilft, die Wahrnehmungen von Transfergegenständen von Transfergebenden und -nehmenden zu verbalisieren und damit die Verständigung zu erleichtern (Jenert, im Druck). Dabei werden Transfergegenstände entlang zweier Dimensionen jeweils von den Transfergebenden und -nehmenden eingeordnet. Die erste Dimension bezeichnet dabei die Komplexität des Transfergegenstands. Komplexität meint den Grad, zu dem der Transfergegenstand im Fall einer erfolgreichen Implementation in die jeweilige Institution eingreift, also Veränderungen erfordert. Die zweite Dimension bezeichnet die Kontextspezifität des Transfergegenstands. Damit ist gemeint, wie stark der Transfergegenstand selbst angepasst werden muss, um den Merkmalen des Zielkontextes gerecht zu werden. Im Ergebnis ergeben sich vier Felder, in die Transfergegenstände jeweils eingeordnet werden können.

Abbildung 2: Einsatz der Transferheuristik im Projekt DigiSelF (gräulich-lila bezeichnet die Einschätzung der Transfergegenstände durch die Transfergebenden, türkis die Einschätzung der Transfernehmenden)Abbildung 2: Einsatz der Transferheuristik im Projekt DigiSelF (gräulich-lila bezeichnet die Einschätzung der Transfergegenstände durch die Transfergebenden, türkis die Einschätzung der Transfernehmenden)

Die Heuristik wurde bei der Begleitung von Transferprozessen im Lehrinnovationsprojekt DigiSelF eingesetzt. Dabei wurden zunächst die Transfergebenden und -nehmenden aufgefordert Transfergegenstände der verschiedenen Teilprojekte zu benennen. Hier fand ein erster Austausch über den jeweiligen Umfang der Gegenstände statt. In einem nächsten Schritt wurden Transfergebende und -nehmende aufgefordert, die Transfergegenstände jeweils unabhängig voneinander in die Heuristik einzuordnen. Dabei zeigt sich, dass die Komplexität wie auch die Kontextspezifität der Transfergegenstände von den Transfergebenden durchweg geringer eingeschätzt wird als von den Transfernehmenden (s. Abbildung 2). Dies ist mit Blick auf die Komplexität wenig überraschend, da die Transfergebenden die Entwicklungsprozesse bereits hinter sich haben und sich die Komplexität der Entwicklungsprozesse im Rückblick als weniger hoch darstellt. Hinsichtlich der Spezifität weist das Ergebnis darauf hin, dass die Besonderheiten der eigenen Institution nur schlecht einzuschätzen sind, solange keine Referenz von außen besteht. Die Einordnung der Transfergegenstände weist auf die Notwendigkeit hin, die Verständigung in Transferprozessen aktiv zu fördern und Reflexionsprozesse der Transfernehmenden und -gebenden aktiv moderierend zu unterstützen.

Vergleichbare Erfahrungen berichten Daniel-Söltenfuß et al. (2024) aus der Gestaltung von Transferprozessen im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung der InnoVET-Förderlinie. Die Explikation, das Aussprechbar-Machen von Annahmen, Erfahrungen und Rahmenbedingungen der begleiteten Projekte erwies sich hier als besonders große Herausforderung. Das Projektteam gestaltete verschiedene spielerische Formate, welche die Projektbeteiligten bei der Verständigung unterstützen sollten.

Die Arbeit mit der in Abbildung 2 dargestellten Heuristik hat Implikationen für die konkrete Ausgestaltung von Transferprozessen. Stimmen Transfergebende und -nehmende darin überein, dass ein Transfergegenstand wenig komplex ist (also wenig Veränderung im Zielkontext erfordert) und zugleich wenig Anpassungen vom Entwicklungs- zum Zielkontext benötigt, kann Transfer im Modus einer Übertragung gestaltet werden. Dies ist allerdings nur bei recht einfachen, für sich selbst stehenden Transfergegenständen möglich, der Innovationsgrad im Zielkontext dürfte in der Regel gering ausfallen (Böhle, 2017). Wird die Komplexität gering eingeschätzt, sind aber umfangreiche Anpassungen des Transfergegenstands notwendig, lässt sich Transfer im Modus der Adaption gestalten. Im Vergleich zur einfachen Übertragung sind hier umfangreichere Ressourcen im Zielkontext einzuplanen, um den Transfergegenstand kontextangemessen weiterzuentwickeln. Greift ein Transfergegenstand stark in den Zielkontext ein, ohne selbst stark angepasst werden zu müssen, so müssen die Personen im Zielkontext zum Umgang mit dem Transfergegenstand befähigt werden (klassisches Beispiel wäre der Einsatz von Technologien wie z. B. Tablets in Schulen). Transfer ist in diesem Fall als Kompetenzentwicklung (in Abbildung 2 verdeckt) im Zielkontext zu verstehen. Werden sowohl Komplexität als auch Spezifität des Transfergegenstands als hoch eingeschätzt, so sind umfangreiche Veränderungen sowohl des Zielkontexts als auch des Transfergegenstands notwendig. Hier ist Transfer als tiefgreifende Veränderung und Innovation zu verstehen und benötigt auch dementsprechende Ressourcen.

Eine Verständigung darüber, in welchem Modus ein konkreter Transferprozess stattfindet, erscheint eine essentielle Voraussetzung für das Gelingen von Transfer zu sein. Lassen sich nämlich die intendierten Effekte eines Transfervorhabens nur dann erzielen, wenn im Zielkontext umfassende Veränderungen i. S. v. Innovation durchgeführt werden, werden Transferprozesse, die im Modus der Übertragung oder Adaption durchgeführt werden zum Scheitern und zur Enttäuschung führen. Neben einer Arbeitshilfe für die Begleitung konkreter Transfervorhaben bietet die Heuristik auch eine konzeptuelle Verbindung der Begriffe Transfer und Innovation an. Eine lineare Vorstellung – erst Innovation, dann Transfer (im Sinne von Übertragung bzw. Dissemination) – führt in Transferprojekten häufig zu Abgrenzungsproblemen und Unschärfen (Daniel-Söltenfuß et al., 2022). Denn aus Sicht der beteiligen Akteur:innen stellt sich die Frage, für wen was als Innovation gilt und wer was in die Gestaltung einer Problemlösung investieren muss. Die angebotene Heuristik bricht die lineare Vorstellung auf und ergänzt die subjektive Sicht der beteiligten Akteur:innen.

Die dargestellten Überlegungen und Modelle sind im Laufe mehrerer Jahre und über verschiedene Projektkontexte hinweg entstanden. In meinen Ausführungen habe ich gezeigt, dass transferbezogene Herausforderungen häufig auf eine mangelnde Verständigung zwischen den beteiligten Partner:innen (Transfergebenden und -nehmenden) bzw. ein unzureichendes Verständnis über die Entwicklungs- und Zielkontexte beruhen. Im Ergebnis besteht die Gefahr, Transferprozesse unpassend auszugestalten und erhoffte Effizienz- und Effektivitätseffekte zu verlieren.

Der dargestellte Zugang zum Phänomenbereich Transfer ist aber nicht ausschließlich auf die verschiedenen Projekterfahrungen zurückzuführen, sondern eben auch auf das eingangs dargestellte geteilte Verständnis von Wissenschaft, auf das ich abschließend näher eingehen möchte. Bezeichnen möchte ich dieses gemeinsame Verständnis als ‚Wissenschaft, die sich verständigt‘.

3 Eine Wissenschaft, die sich verständigt

Mit Verständigung – präziser wäre eigentlich der (leider etwas sperrige) Begriff Sich-Verständigen – verbindet sich eine spezifische Vorstellung davon, wie Wissenschaft mit Gesellschaft in Verbindung tritt, wie sie Fragen generiert, Ergebnisse kommuniziert und zu Erkenntnissen gelangt (Jenert & Scharlau, 2022). Für eine Wissenschaft, die sich verständigt, spielen ‚die Anderen‘, also die Adressat:innen von Forschung eine zentrale Rolle. Sich-Verständigen bedeutet zunächst, als Forscher:in die Sicht dieser jeweils Anderen auf die Welt, auf ihre Herausforderungen und Probleme wie auch die Zusammenhänge, die das Funktionieren der (sozialen) Welt erklären, zu erschließen und zum Ausgangspunkt für die Erforschung der jeweiligen Wirklichkeit zu machen. Eine verständigungsorientierte Wissenschaft erkennt an, dass Menschen, auch wenn sie keine Wissenschafler:innen sind, die eigene Lebenswelt (alltags-)theoretisch strukturieren und ihr Handeln innerhalb von oft komplexen Theoriegebäuden zielgerichtet und subjektiv rational organisieren (Bruner, 1991). Sloane (2017) beschreibt diesen Aspekt von Verständigung aus einer phänomenologischen Perspektive als die Erschließung von Lebenswelten. Er betont dabei die Wichtigkeit, sich soziale Strukturen und Handlungsmuster zu erschließen:

“Participating in practice gives researchers the possibility to experience social interactions and find out […], why things work the way they do because all of a sudden, an action pattern may become visible. In a more pragmatic sense, the researchers have to discover the logic of the narratives“ (P.F.E. Sloane, 2017, S. 21).

Sloane weist hier auf die Bedeutung von Sprache, genauer Erzählungen hin. In Narrationen sind Annahmen über die Welt (Alltagstheorien im Sinne Bruners) verschlüsselt und narrative Muster eröffnen einen Zugang dazu, wie ‚die Anderen‘ die Welt für sich sinnhaft strukturieren (Bruner, 1991). Ziel einer solchen systematischen (Re-)Konstruktion lebensweltlicher Zusammenhänge ist es, stets anschlussfähig zu bleiben für die Kontexte, die erforscht werden bzw. die von den Ergebnissen der eigenen Forschung betroffen sind.

3.1 Kommunikation, ‚die Anderen‘ und der Weg von Ergebnissen zu Erkenntnissen

Verständigung geht allerdings über die Rekonstruktion der Forschungskontexte hinaus, sie bezieht sich auch auf die Kommunikation von Ergebnissen. Forschungsergebnisse werden erst zu Erkenntnissen, wenn sie im kommunikativen Zusammenhang mit den Adressat:innen der Forschung betrachtet werden (von Hentig, 1970). Die Unterscheidung von Ergebnissen und Erkenntnissen ist an dieser Stelle wichtig: Ergebnisse sind die unmittelbaren Resultate von Forschung, gewonnen im Rahmen spezifischer Forschungspraktiken und systematisiert durch Forschungsdesigns. Ergebnisse stehen zunächst für sich, Bedeutung haben sie vor allem im Kontext der eigenen disziplinären Gemeinschaft, der sie über Fachpublikationen zugänglich gemacht werden. Erkenntnisse gehen darüber hinaus: Sie sind reflexiv und entstehen, wenn Ergebnisse Dritten gegenüber kommuniziert und im Lichte der Reaktionen Dritter reflektiert werden (Jenert & Scharlau, 2022). Sind die Ergebnisse einer Interventionsstudie in einer Schule aufgrund spezifischer Rahmenbedingungen nicht replizierbar, so verändert sich im Rahmen der Verständigung mit der schulischen Praxis der Erkenntnisgehalt der Forschungsergebnisse, z. B. weil sich die Gewichtung verschiedener Interventionsvariablen zueinander verschiebt. Die Interaktion mit ‚den Anderen‘ reichert Erkenntnisse an, weil ein zunehmend dichteres Verständnis darüber entsteht, welche Implikationen ein spezifisches Forschungsergebnis in unterschiedlichen Kontexten unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen und für unterschiedliche Zielgruppen mit sich bringt. Diese Beziehung zwischen Ergebnissen, Kommunikation und Erkenntnissen besteht übrigens unabhängig vom methodologischen Zugang, über den die Ergebnisse gewonnen wurden. Wirkung entfalten Ergebnisse immer erst im kommunikativen Zusammenhang des Kontextes, auf den sie treffen. Eine Wissenschaft, die sich verständigt, übernimmt Verantwortung für die Kommunikation von Ergebnissen. Mehr noch, Verständigung wirkt auf die Erkenntnisse, die sich aus der Forschung ergeben, zurück und verändert diese ggf. In diesem Sinne ist eine verständigungsorientierte Wissenschaft auch selbstkritisch.

3.2 Am Ende Didaktik?

Die Überlegungen zu einer verständigungsorientierten Wissenschaft gründet auf einer erkenntnistheoretischen Position, die das erkennende Subjekt in den Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Forschung rückt. Bezogen habe ich mich unter anderem auf Bruner (1990; 1991), der in seinem Spätwerk Menschen stets als theoretische Wesen betrachtet, die sich die Welt über komplexe Narrationen und Praxistheorien (Bruner spricht von „Folk Psychology (1990, S. 33 ff.) erschließen, erklären und ihr Handeln danach ausrichten. Wie P. F. E. Sloane (2017) betont, hat diese Sicht eine große Nähe zur Phänomenologie, die danach strebt, Phänomene zunächst in ihrer Ganzheit zu erfassen, also so, wie sie sich den Personen, die in ihrem täglichen Leben davon betroffen sind, präsentieren. Diese Position präjudiziert nicht, über welche Methoden Wissenschaft Forschung betreibt und zu Ergebnissen gelangt. Sie verlangt allerdings, dass man anerkennt, dass die Ergebnisse, die man produziert, nur dann Bedeutsamkeit erlangen können, wenn sie kommunikativ anschlussfähig gemacht werden an die subjektive Sicht der Adressat:innen bzw. ihre Lebenswelten. Wissenschaftler:innen müssen dazu (an-)erkennen, dass ihre Ergebnisse nicht auf eine theorieleere Praxis treffen, sondern auf Personen, die in ihrer Lebenswelt vor dem Hintergrund differenzierter Praxistheorien rational und zielgerichtet handeln (Bruner, 1990; Rosenberger, 2023). Forschung kann diese Theoriegebäude als fehlerhaft oder unpassend identifizieren, zugleich hat Wissenschaft die Aufgabe die eigenen Ergebnisse so zu kommunizieren, dass sie im Licht von Praxistheorien bzw. lebensweltlicher Erfahrungen sinnhaft verarbeitet werden können, z. B. indem darüber reflektiert wird, wie Forschungsergebnisse in die narrativen Strukturen, über die Praktiker:innen ihre Wirklichkeiten gestalten (Bruner, 1991; P. F. E. Sloane, 2017), eingewoben werden können.

Letztlich stellt sich die Frage, ob die dargelegte Position im Kern nicht das beschreibt, was wir als Didaktik bezeichnen. Das Zugänglichmachen von Lerngegenständen für Lernende mit unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen ist die Grundlage jeglichen didaktischen Handelns. Vielleicht ist das beschriebene Verständnis von Wissenschaft ja genau das: Didaktik (Jenert & Scharlau, 2022).

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Zitieren des Beitrags

Jenert, T. (2025). Innovieren, Transferieren, Gestalten: Eine Wissenschaft, die sich verständigt. In P. Frehe-Halliwell, M.-A. Kückmann & F. Otto (Hrsg.), bwp@ Profil 12: Transformationen in der beruflichen Bildung – Handlungsräume und Gestaltungsfelder der Wirtschafts- und Berufspädagogik. Digitale Festschrift für H.-Hugo Kremer zum 60. Geburtstag (S. 1–16). https://www.bwpat.de/profil12_kremer/jenert_profil12.pdf

Veröffentlicht am 02. Juni 2025