bwp@ Profil 12 - Juni 2025

Transformationen in der beruflichen Bildung – Handlungsräume und Gestaltungsfelder der Wirtschafts- und Berufspädagogik.

Profil 12: Digitale Festschrift für H.-Hugo Kremer

Hrsg.: Petra Frehe-Halliwell, Marie-Ann Kückmann & Franziska Otto

Der Feldforscher – von einem, der die Arena kennt. Einige Überlegungen zur gestaltungsorientierten Forschung von H.-Hugo Kremer in der Ausbildungsvorbereitung

Beitrag von Dieter Euler & Peter F. E. Sloane
Schlüsselwörter: Gestaltungsforschung, Design-Based Research, Ausbildungsvorbereitung, Feldforscher

Dieser Beitrag beleuchtet zwei zentrale Perspektiven zur Arbeit von H.-Hugo Kremer. Zum einen wird sein Forschungsansatz in der Tradition der gestaltungsorientierten Forschung verortet, wobei die theoretischen Grundlagen und methodologischen Ansätze analysiert werden. Zum anderen wird die konkrete Umsetzung dieser Ansätze am Beispiel der Ausbildungsvorbereitung untersucht. Hierbei werden insbesondere die Innovationsarenen und multiprofessionellen Teams als praxisnahe Instrumente zur Förderung und Berufsorientierung von Jugendlichen hervorgehoben und deren positive Ergebnisse gewürdigt. Abschließend hebt der Beitrag die besondere Rolle Kremers als Feldforscher hervor, der durch seine Arbeit eine Brücke zwischen Theorie und Praxis schlägt. Kremer wird als innovativer Akteur gewürdigt, der praxisorientierte Lösungen für das Übergangssystem entwickelt und dabei tief in die Praxis eintaucht, um die Ausbildungsvorbereitung einerseits nachhaltig zu gestalten und andererseits de-kontextualisiertes Wissen zu generieren.

The Field Researcher – Insights from One Who Knows the Arena. Reflections on the Design Research of H.-Hugo Kremer in the Field of Training Preparation

English Abstract

This paper highlights two central perspectives on H.-Hugo Kremer’s work. Firstly, it locates his research approach within the tradition of design-based research, analyzing its theoretical foundations and methodological approaches. Secondly, it examines the practical implementation of these approaches using the example of pre-vocational vocational education and training. Here, the focus is on innovation arenas and multiprofessional teams as practice-oriented tools for supporting and guiding young people in their career development, with an emphasis on acknowledging positive outcomes. Finally, the paper emphasizes Kremer's unique role as a field researcher whose work builds bridges between theory and practice. Kremer is recognised as an innovative contributor who develops practical solutions for the transition system whilst also immersing himself in the challenges of practice. His work not only aims to create sustainable vocational preparation but also to generate de-contextualized knowledge.

1 Vorbemerkung

In den 80er und den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts haben wir, die Autoren dieses Beitrags und der Adressat der Festschrift H.-Hugo Kremer, im Kölner Institut für Wirtschafts-, Berufs- und Sozialpädagogik sowie in dem dort angegliederten ‚An-Institut‘, Forschungsinstitut für Berufsbildung im Handwerk, gemeinsam in Modellversuchen gearbeitet. Wir Autoren waren damals Postdocs und H.-Hugo Kremer kam nach seiner erfolgreichen Graduierung zu uns in die Gruppe als Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter. Eine sehr enge Kooperation ergab sich im Rahmen eines Wirtschaftsmodellversuchs, bei dem es um die curriculare und didaktische Revision der Teile III und IV der Meistervorbereitung und -prüfung im Handwerk ging. H.-Hugo Kremer übernahm damals sehr schnell die Verantwortung für den thematischen Schwerpunkt Finanz- und Rechnungswesen. Den hatte eigentlich einer von uns Autoren zu verantworten, der aber der Arbeit nur schleppend nachkam, was u. a. an der Fertigstellung unserer jeweiligen Habilitationsarbeiten lag und später der Übernahme erster Professuren geschuldet war.

Zusammengefasst: Unser Freund und heutiger Kollege H.-Hugo Kremer hat sich sehr stark in die Entwicklungsarbeit eingebracht. Dabei hat er nicht nur das – wie es damals hieß – Modul ‚Finanz- und Rechnungswesen‘ – redaktionell betreut, sondern v. a. auch Feldarbeit übernommen, die darin bestand, Prüfungsausschüsse zu schulen und Arbeitskreise von Dozententeams der Handwerkskammer Lüneburg-Stade zu betreuen. Gerade zum Abschluss des Projekts schlug sich dies in einer sehr umfassenden Materialentwicklung für die Meistervorbereitung nieder, die später gemeinsam bei der Verlagsanstalt Handwerk veröffentlicht wurde und noch heute sehr oft von Lehrkräften aus vielen Bereichen nachgefragt wird.

Es zeigten sich schon damals bestimmte Interessen und Stärken, die seine Arbeit in den Folgejahren prägen:

  1. Ein sehr großes Interesse an den konkreten Geschehnissen im Feld, verbunden mit der Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf die Situation der Praktiker einzulassen.
  2. Die Fähigkeit, Materialien für diese Praxissituationen zu schaffen, diese im Dialog mit den Praktikern weiterzuentwickeln, wobei zugleich immer eine Verbindung von praktischer Relevanz und wissenschaftlicher Genauigkeit hergestellt wurde. Er war seinerzeit der Medienentwickler, was auch Gegenstand seiner Promotion wurde und sich später in Arbeiten zu digitalen Medien zeigte.
  3. Ein Interesse an der Theoretisierung praktischer Zusammenhänge, also ein Verständnis dafür, Wissen aus dem Alltag der didaktischen Praxis heraus zu entwickeln.
  4. Eine große Leidenschaft, das von uns Autoren getragene Projekt einer wissenschaftlichen Begründung der Modellversuchsarbeit zu unterstützen und später auch in eigenständigen Arbeiten weiterzuführen, so insbesondere in seiner Habilitationsschrift.

Für uns ist H.-Hugo Kremer der Feldforscher, der die Begegnung mit der Praxis sucht. Er hat für die Begegnungsform den Terminus ‚Innovationsarena‘ geprägt, die sich einerseits in der in der Kölner Zeit geprägten Idee manifestierte, Forschung im Rahmen einer Wissenschafts-Praxis-Kooperation zu betreiben; andererseits hat er gegenüber den Kölner Anfängen mit der Zeit auch eine eigenständige Interpretation und Umsetzung hierzu gefunden. Dies gilt auch für die Autoren. – Unsere nachfolgenden Überlegungen sind eine eher subjektive Betrachtung der Arbeit von H.-Hugo Kremer, gleichsam aus drei Perspektiven heraus. In einer ersten Perspektive werden wir die Genese der Wissenschafts-Praxis-Kooperation, gleichsam – bezogen auf die Biografie von H-Hugo Kremer – seit der Zeit in Köln bis zur Tätigkeit in Paderborn skizzieren.

Wir werden dann als zweites die Feldarbeit H.-Hugo Kremers an einem konkreten Beispiel erörtern. Dafür nehmen wir eine Inhaltsanalyse zahlreicher seiner Arbeiten zum Thema Ausbildungsvorbereitung, Inklusion, Übergangssystem, multiprofessionelle Teams usw. vor, um so die Kärrnerarbeit zu würdigen, die von ihm hier geleistet wird.

Abschließend werden wir dann als drittes eine Würdigung der Feldforschung sensu Kremer vornehmen, die den Blick zugleich auf sein aktuelles Wirken in Paderborn lenkt.

2 Hintergründe: Von der Modellversuchsforschung zum Design-Based Research

2.1 Modellversuchsforschung (MVF)

Die Modellversuchsforschung im Rahmen der Berufsbildungsforschung begann in den 1970er Jahren. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) organisierte sog. ‚Wirtschaftsmodellversuche‘, um bildungspraktische Innovationen in einem begrenzten Umfang und unter realen Bedingungen zu testen (BIBB, 1985). Diese ‚Erprobungsmaßnahmen‘ sollten dazu dienen, bildungspolitische Innovationen in die Praxis zu integrieren und gleichzeitig als Rückkopplungsmechanismus für die Bildungspolitik zu fungieren. Kritiker merkten jedoch an, dass die frühe MVF wissenschaftlich wenig fundiert war und die Ergebnisse oft nicht verallgemeinert werden konnten (Rauner, 2002).

In den 1990er Jahren schufen Forscher wie Sloane und Euler methodologische Grundlagen, die zur Weiterentwicklung der MVF beitrugen. Sloane (1992) formulierte das Konzept der theoriegeleiteten Implementierung und unterschied drei Typen der Begleitforschung: die distanzierte, die intervenierende und die responsive Begleitforschung. Insbesondere der responsive Ansatz verband Forschung und Praxis eng miteinander, indem wissenschaftliche Erkenntnisse praxisnah getestet und angewendet wurden. Diese Verbindung bereitete den Weg für eine Forschung, die nicht nur erklärt, sondern auch direkt in die Praxis eingreift und zur Gestaltung beiträgt (Sloane & Fischer, 2018).

Euler (1994) führte das Konzept der Design-Prinzipien ein, die als methodischer Rahmen zur Lösung spezifischer Bildungsprobleme dienen. Dieser systematische Ansatz ermöglichte es, die MVF weiter zu strukturieren und den Fokus auf gestaltungsorientierte Forschung zu legen. Die Design-Prinzipien bieten eine Grundlage, um durch die enge Zusammenarbeit mit der Praxis übertragbare Lösungsansätze zu entwickeln (Euler & Sloane, 2018).

2.2 Etablierung des Design-Based Research (DBR) als internationaler Referenzrahmen

Parallel zur Weiterentwicklung der MVF etablierte sich der Design-Based Research (DBR) als international anerkannter Ansatz, unter anderem durch Forscher wie Brown (1992) und van den Akker (1999). DBR verfolgt einen zyklischen Ansatz, bei dem praxisrelevante Gestaltungsprinzipien durch iteratives Testen und Anpassen entwickelt werden. Diese Prinzipien dienen sowohl als Basis für theoretische als auch praxisorientierte Innovationen und sind darauf ausgelegt, auch auf andere Handlungsfelder anwendbar zu sein. DBR stellt somit eine Brücke zwischen Theorie und Praxis dar, die besonders in komplexen Bildungssituationen hilfreich ist (Design-Based Research Collective, 2003; Shavelson et al., 2003).

Das Prinzip der Designzyklen ist ein zentraler Bestandteil in Eulers gestaltungsorientierter Berufsbildungsforschung. Euler beschreibt Designzyklen als iterative Prozesse, in denen Bildungskonzepte durch fortwährende Tests und Anpassungen entwickelt und verfeinert werden. Ziel ist es, theoretisch fundierte und zugleich praxisorientierte Lösungen zu schaffen, die flexibel auf die dynamischen Anforderungen der Bildungspraxis reagieren. Indem Forschungsergebnisse kontinuierlich auf ihre Anwendbarkeit hin überprüft und angepasst werden, fördert dieses Prinzip eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis (Euler, 2014; Sloane & Fischer, 2018).

Die Parallelen zwischen Eulers Designzyklen und internationalen DBR-Ansätzen sind offensichtlich: Beide verwenden einen iterativen Ansatz, bei dem theoretische Konzepte durch praktische Anwendung verfeinert werden. DBR legt besonderen Wert auf die Entwicklung von Design-Prinzipien, die praxisrelevant und wissenschaftlich fundiert sind. Diese Prinzipien werden in mehreren Zyklen überprüft und optimiert, was eine flexible Anpassung an unterschiedliche Bildungskontexte ermöglicht (Sloane & Fischer, 2018).

2.3 Wissenschaft-Praxis-Kooperation und phänomenologische Ergänzungen

Eulers Interpretation der Wissenschaft-Praxis-Kooperation (WPK) basiert auf zwei zentralen Aspekten: Zum einen baut sie auf dem in Köln entwickelten Konzept einer strukturierten Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis auf und zum anderen setzt sie auf eine rationale, kognitiv strukturierte Analyse der Prozesse. Ziel ist es, durch induktive Verfahren Regelmäßigkeiten und Prinzipien zu generieren, die als allgemeingültiges „Regelwissen“ in Form von Design-Prinzipien übertragbar sind.

Sloane (2014) hebt hingegen hervor, dass die Zusammenarbeit zwischen Forschenden und Praktikern eine Begegnung zweier unterschiedlicher ‚Lebenswelten‘ darstellt. Diese Akteure verfolgen häufig unterschiedliche Interessen und sind in ihren jeweiligen Organisationen durch Normen, Hierarchien und Machtstrukturen geprägt. Sloane beschreibt zwei unterschiedliche Handlungsmodi der Forschenden: Sie können Prozesse erklären und damit eine rationale Rekonstruktion von Wissen durchführen, wie Euler es beschreibt, oder sie können versuchen, Prozesse zu verstehen und somit an den Geschehnissen teilzunehmen. Dieser zweite Modus führt zu einer hermeneutischen Rekonstruktion, die Verstehen als empathischen Zugang zur Praxis ermöglicht.

In seinem Beitrag Where no man has gone before! (2017) positioniert Sloane die Wissensgenese im DBR in einem neuen epistemologischen Kontext und hebt die Bedeutung phänomenologischer und hermeneutischer Ansätze hervor. Anders als in der klassischen MVF betont Sloane die aktive Teilnahme der Forschenden in der „Lebenswelt“ der Praktiker. Diese direkte Einbettung in praktische Kontexte ermöglicht tiefere Einblicke, da die Forschenden die Bedingungen und Erfahrungen der Praktiker „aus erster Hand“ erleben (Sloane, 2017, S. 7–8). Die phänomenologische Perspektive, gestützt auf Konzepte wie „epoché“ und „erste-Person-Perspektive“ (Husserl, 1962; Heidegger, 2006), fordert Forschende auf, ihre eigenen Annahmen beiseitezulegen und die subjektiven Erfahrungen der Praktiker möglichst unverfälscht wahrzunehmen.

2.4 Kremers Innovationsarenen als Variante von MVF und DBR

Kremer greift die Konzepte der MVF und des DBR auf und entwickelt sie weiter, indem er in seinen Innovationsarenen einen flexiblen Raum für die Zusammenarbeit von Forschenden und Praktikern schafft. Diese Innovationsarenen bieten eine dynamische Umgebung, in der Prototypen iterativ entwickelt und praxisnah getestet werden. Kremers Ansatz integriert die Grundprinzipien von Euler und Sloane, erweitert sie jedoch durch eine direkte Einbindung in die Praxis und eine Methodologie, die besonders hohe Flexibilität und Offenheit für situative Anpassungen ermöglicht (Kremer, 2014).

Bevor wir Kremers methodologische Position detaillierter analysieren, ist eine Rekonstruktion seiner Arbeiten zur Ausbildungsvorbereitung aus den Jahren 2011 bis 2023 sinnvoll. Im folgenden Kapitel erfolgt eine solche Aufarbeitung, um Kremers innovative Ansätze in der Feldforschung besser einordnen zu können.

3 Fallbeispiel: Feldarbeit in Arenen zur Ausbildungsvorbereitung

3.1 Merkmale der Ausbildungsvorbereitung

Seit mehr als zwei Jahrzehnten gelingt es nicht, eine beharrlich hohe Zahl von Jugendlichen von der Schule in eine Berufsausbildung bzw. zu einem Berufsabschluss zu bringen. So landen derzeit 250.000 im sog. ‚Übergangssystem‘, und ein beträchtlicher Teil von ihnen schafft selbst nach mehreren Jahren nicht den Weg in eine Ausbildung (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2024). In der Berufsbildungsforschung und -politik stehen sich zwei Ansätze gegenüber, mit dieser bedrückenden Situation umzugehen: Auf der einen Seite stehen Befürworter einer höchstmöglichen Rückführung des Übergangssystems, indem die Jugendlichen in eine anerkannte Berufsausbildung integriert und dort – ggf. mit integrierten Fördermaßnahmen – zu einem Ausbildungsabschluss geführt werden. Sofern dafür keine betrieblichen Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl verfügbar sind, soll die Ausbildung in staatlich geförderten Ausbildungsverhältnissen durchgeführt werden (Euler & Seeber, 2023). Auf der anderen Seite zielen die Bemühungen darauf, die Maßnahmen innerhalb des Übergangssektors so zu verbessern, dass der Übergang in eine Ausbildung in einem höheren Maße erfolgt, als dies aktuell der Fall ist. Kremer führt seine Forschungsarbeiten im Kontext des zweiten Ansatzes durch, wobei er sich in besonderer Weise auf die schulische Ausbildungsvorbereitung konzentriert.

Die Ausbildungsvorbereitung ist nach Frehe und Kremer (2016) durch mehrere zentrale Merkmale geprägt, die den spezifischen Anforderungen von Jugendlichen im Übergangssystem gerecht werden sollen:

  • Spannungsfeld zwischen Anforderungs- und Subjektorientierung: Die Curricula der Ausbildungsvorbereitung sollen einerseits den Anforderungen der Berufswelt gerecht werden, andererseits aber auch die individuellen Bedürfnisse und biografischen Hintergründe der Jugendlichen berücksichtigen. Dieser Balanceakt erfordert, dass Lerninhalte nicht nur auf berufliche Kompetenzen abzielen, sondern auch persönliche und soziale Fähigkeiten fördern, um die Selbstwirksamkeit und das Selbstbewusstsein der Lernenden zu stärken. Diese Dualität in der Zielsetzung führt zu curricularen Herausforderungen, da sowohl berufsbezogene Fähigkeiten als auch persönliche Kompetenzen entwickelt werden müssen.
  • Kompetenzorientierung und Praxisbezug: Ein weiteres zentrales Merkmal der Ausbildungsvorbereitung ist die starke Kompetenzorientierung. Die Bildungspläne fokussieren auf Kompetenzen, die im Arbeitsmarkt relevant sind und die Jugendlichen für die Anforderungen der beruflichen Praxis wappnen sollen. Dies wird durch praxisnahe Unterrichtsmethoden und die Integration von Praktika unterstützt, die den Jugendlichen eine realitätsnahe Berufserfahrung ermöglichen. Praxisprojekte und Simulationsaufgaben fördern die Anwendung und Festigung von erworbenem Wissen und zielen darauf ab, das Vertrauen der Jugendlichen in ihre eigenen Fähigkeiten zu stärken.
  • Orientierung an beruflichen Handlungsfeldern: Die Curricula der Ausbildungsvorbereitung sind so konzipiert, dass sie sich an realen beruflichen Handlungsfeldern orientieren. Das Situationsprinzip, welches diesen Ansatz prägt, strukturiert den Unterricht entlang authentischer, beruflicher Situationen. Dabei werden berufsübergreifende Inhalte mit spezifischen Fachthemen verknüpft, um den Jugendlichen ein umfassendes Verständnis der Berufswelt zu vermitteln und ihnen einen systematischen Einblick in potenzielle Berufsfelder zu geben. Dies fördert die ganzheitliche Sicht auf berufliche Aufgaben und ermutigt die Jugendlichen, verschiedene berufliche Rollen auszuprobieren.
  • Förderung von Basiskompetenzen: Ein Großteil der Jugendlichen im Übergangssystem weist Defizite in grundlegenden Kompetenzen auf, z. B. in sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten. Um diesen Mangel auszugleichen, wird die Förderung von Basiskompetenzen fächerübergreifend im Unterricht integriert. Dies legt die Grundlage für die weitere berufsspezifische Kompetenzentwicklung und erleichtert den Zugang zu theoretischen Inhalten, die für eine erfolgreiche Berufsorientierung wichtig sind. Das individuelle Eingehen auf Basiskompetenzen soll zudem verhindern, dass Jugendliche sich überfordert fühlen und kann ihre Lernmotivation stärken.
  • Anpassung an individuelle Bedürfnisse und Lebenswirklichkeit: Die Ausbildungsvorbereitung orientiert sich an der Lebensrealität der Jugendlichen und berücksichtigt dabei auch biografische Brüche oder herausfordernde soziale Hintergründe. Die Lerninhalte werden handlungsorientiert und lebensnah vermittelt, sodass sie für die Jugendlichen nachvollziehbar und praxisrelevant bleiben. Dieser konstruktivistische Ansatz unterstützt die Lernenden dabei, Wissen aktiv zu konstruieren und in ihre eigene Lebenswirklichkeit zu übertragen. Die Anpassung der Bildungsinhalte an die individuellen Bedürfnisse fördert die Identifikation der Lernenden mit dem Unterricht und stärkt ihre intrinsische Motivation.

Diese Merkmale verdeutlichen die spezifische Ausgestaltung der Lehrpläne im Übergangssystem. Frehe und Kremer (2016) argumentieren hier ähnlich wie Enggruber und Rützel (2011), die das Übergangssystem in Deutschland als reformbedürftig einstufen. Enggruber und Rützel kritisieren die defizitorientierte Struktur des Systems, die viele Jugendliche in eine „Warteschleife“ führt und nicht zu einer vollqualifizierenden Berufsausbildung. Ein zentrales Problem besteht darin, dass das Übergangssystem oft keine nachhaltige berufliche Perspektive bietet und somit den Einstieg in den Arbeitsmarkt erschwert.

3.2 Berufsorientierung in der Ausbildungsvorbereitung

H.-Hugo Kremer (2011) hebt die Bedeutung einer systematischen Berufsorientierung als essenzielles didaktisches Prinzip im Übergangssystem hervor. Seiner Ansicht nach sollte die Berufsorientierung als ganzheitliches Bildungsprogramm verstanden werden, das die Jugendlichen nicht nur auf konkrete Berufe vorbereitet, sondern ihnen überfachliche Kompetenzen vermittelt, die im gesamten Arbeitsleben nützlich sind. Kremer beschreibt das Übergangssystem als „Labyrinth“, das durch seine komplexen Strukturen oft eine klare berufliche Orientierung erschwert.

Die Berufsorientierung in der Ausbildungsvorbereitung umfasst nach Kremer verschiedene Dimensionen:

  • Individuelle Kompetenzentwicklung: Kremer fordert eine umfassende Kompetenzentwicklung, die über die rein formale Ausbildungsreife hinausgeht. Die Jugendlichen sollen befähigt werden, berufliche Orientierungs- und Anpassungssituationen zu meistern, die in ihrem weiteren Lebensverlauf auftreten. Dies erfordert die Entwicklung eines positiven Selbstbildes und der Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren und weiterzuentwickeln.
  • Selbststeuerung und lebenslanges Lernen: Die Berufsorientierung dient dazu, den Jugendlichen Werkzeuge für die eigenverantwortliche Gestaltung ihrer Berufsbiografie zu geben. Sie sollen lernen, selbstgesteuert berufliche und persönliche Übergänge zu meistern, ihre beruflichen Interessen aktiv zu verfolgen und flexibel auf Veränderungen in ihrem Berufsumfeld zu reagieren. Kremer fordert daher, dass die Berufsorientierung nicht nur Wissen über Berufe vermittelt, sondern auch die Fähigkeit zur Selbststeuerung und zur Entwicklung eines positiven Lernverhaltens.
  • Ganzheitlicher Ansatz der Berufsorientierung: Die Berufsorientierung soll als prozesshaftes Programm gestaltet werden, das die Jugendlichen durch die verschiedenen Phasen der Berufswahl begleitet. Beginnend mit der Selbsterkenntnis über das Matching der eigenen Fähigkeiten mit den Anforderungen der Berufswelt bis hin zur konkreten Realisierung durch Bewerbungsprozesse. Die Berufsorientierung wird als Brücke zwischen schulischem Lernen und beruflicher Praxis verstanden, die den Jugendlichen eine realistische Perspektive für ihre berufliche Zukunft bietet.
  • Kritik am Konzept der Ausbildungsreife: Kremer plädiert für eine Abkehr von einer abstrakten Definition der Ausbildungsreife hin zu einem Konzept, das die individuelle Lebensplanung und -bewältigung der Jugendlichen in den Vordergrund stellt. Anstatt nur auf formale Qualifikationen zu setzen, sollte die Berufsorientierung die Jugendlichen dazu befähigen, eigenverantwortlich ihre Berufsbiografie zu gestalten und den Übergang in die Arbeitswelt erfolgreich zu meistern.

Diese Überlegungen zur Berufsorientierung sollen laut Kremer (2011) die Jugendlichen umfassend unterstützen, um sie bestmöglich auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes und auf ein selbstbestimmtes Berufsleben vorzubereiten.

3.3 Multiprofessionelle Teams als Chance

Die Umsetzung dieser breiten Definition von Berufsorientierung und individueller Förderung erfordert multiprofessionelle Teams, die durch ihre Zusammensetzung die Heterogenität der Jugendlichen besser adressieren können. Nach Kremer und Kückmann (2016) sind multiprofessionelle Teams in der Ausbildungsvorbereitung eine zentrale Ressource, um die verschiedenen fachlichen, sozialen und emotionalen Bedürfnisse der Jugendlichen umfassend zu bedienen. Die Teams bestehen meist aus Lehrkräften, Sozialpädagogen, Berufsberatern und teilweise auch externen Fachkräften.

Die besonderen Merkmale multiprofessioneller Teams umfassen:

  • Verschiedene Perspektiven und Kompetenzen: Multiprofessionelle Teams bieten eine vielfältige Expertise, die verschiedene berufliche Hintergründe und Perspektiven vereint. Diese Vielfalt ist besonders im Umgang mit heterogenen Lerngruppen wertvoll, da sie die individuelle Förderung und Problembewältigung aus unterschiedlichen Blickwinkeln ermöglicht.
  • Individuelle Unterstützung und Förderung: Die Arbeit der multiprofessionellen Teams erlaubt es, individuelle Förderpläne zu erstellen, die auf die spezifischen Bedürfnisse der Jugendlichen abgestimmt sind. Durch gezielte Diagnostik und die Kombination von Fachwissen aus verschiedenen Disziplinen können die Teams eine umfassende, personalisierte Unterstützung bieten.
  • Förderung inklusiver Strukturen: Multiprofessionelle Teams unterstützen die Inklusion im Bildungssystem, indem sie Unterrichtsmaterialien und -methoden flexibel an die Bedürfnisse der Lernenden anpassen und deren soziale Eingliederung gezielt fördern. Hierzu gehören kooperative Lernmethoden, die soziale Kompetenzen stärken und die Jugendlichen dazu ermutigen, als Gruppe zusammenzuarbeiten.
  • Koordination und Netzwerkbildung: Multiprofessionelle Teams koordinieren die Zusammenarbeit mit externen Partnern wie Betrieben, Berufsschulen und sozialen Diensten, um ein breites Unterstützungsnetzwerk aufzubauen. Durch die Pflege dieses Netzwerks sichern sie, dass Jugendliche kontinuierliche und aufeinander abgestimmte Unterstützung erhalten, die den Übergang in die Berufswelt erleichtert.

Diese Teams ermöglichen eine umfassende Betreuung und fördern die sozialen, emotionalen und fachlichen Kompetenzen der Jugendlichen. Sie leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Stabilität und Integration der Jugendlichen im Übergangssystem.

3.4 Tageslernsituationen (TLS) als didaktisches Konzept

Das in der Praxis entwickelte Konzept der Tageslernsituationen (TLS) wurde von Kremer zusammen mit Frehe-Halliwell (2018, 2020, 2023) rekonstruktiv analysiert; es ist ein spezifisches Lernformat, das berufsorientierte und praxisnahe Lernsituationen an Berufskollegs fördert. TLS sind darauf ausgelegt, komplexe, lebensweltorientierte Lernarrangements zu schaffen, die auf die Heterogenität der Lernenden eingehen und ihre Motivation steigern sollen. Sie bieten den Lernenden die Möglichkeit, praxisnahe Herausforderungen in einem kontinuierlichen, ganztägigen Format zu bearbeiten.

  • Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: TLS sind so gestaltet, dass sie sich flexibel an die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Interessen der Jugendlichen anpassen lassen. Diese Strukturierung erlaubt es, theoretische und praktische Inhalte in einem Format zu integrieren, das an den realen Arbeitsprozessen orientiert ist.
  • Praxisnähe und Lebensweltorientierung: Durch die praxisnahe Gestaltung können Jugendliche die Anforderungen der Berufswelt realitätsnah erleben und erwerben Fähigkeiten, die für ihre berufliche und persönliche Entwicklung von Bedeutung sind. Die Lebensweltorientierung der TLS fördert eine starke Identifikation der Jugendlichen mit dem Lernstoff und stärkt ihre Motivation.
  • Organisatorische Anforderungen: Die Implementierung der TLS erfordert schulorganisatorische Anpassungen, da die Fächergrenzen zugunsten eines fächerübergreifenden Lernens aufgelöst werden. Die Inhalte werden in praxisnahe Projekte integriert, die den Jugendlichen eine tiefgehende und anwendungsorientierte Auseinandersetzung mit dem Lernstoff ermöglichen.

TLS tragen zur Stärkung der beruflichen und sozialen Kompetenzen der Jugendlichen bei und schaffen durch die praxisnahe Struktur ein motivierendes Lernumfeld. Sie sind eine Antwort auf die Forderung nach einer ganzheitlichen und lebensweltorientierten Bildung im Übergangssystem.

Die von Kremer entwickelten Ansätze zur Ausbildungsvorbereitung und Berufsorientierung zeigen, wie wichtig es ist, das Übergangssystem auf die vielfältigen Bedürfnisse der Jugendlichen auszurichten. Durch die Integration multiprofessioneller Teams und die Implementierung von TLS wird eine praxisnahe, individualisierte und inklusive Lernumgebung geschaffen, die die berufliche und persönliche Entwicklung der Lernenden gezielt fördert. Kremers Forschung zeigt, dass das Übergangssystem sowohl die berufliche Orientierung als auch die Persönlichkeitsentwicklung fördern kann, wenn es durch passende didaktische Konzepte gestützt wird.

Betrachten wir nun abschließend die hier rekonstruierten Befunde aus der Feldforschung H.-Hugo Kremers, so wird ein sehr differenziertes Angebot anwendungsnahen Wissens für die schulische Praxis sichtbar. Dieses Wissen orientiert sich an den organisatorischen und curricularen Strukturen der schulischen Praxis. Wir möchten abschließend im dritten Teil unserer Ausführungen diese Wissensgenese zu den eingangs formulierten Überlegungen zur gestaltungsorientierten Forschung mit dem Ziel, die spezifische Position von H.-Hugo Kremer zu bestimmen, in Bezug setzen.

4 H.-Hugo Kremer als reflexive-grounded researcher

Kremers Ansatz der Innovationsarenen lässt sich gut als Beispiel für die Reflexive Grounded Theory interpretieren. Die Reflexive Grounded Theory baut auf den klassischen Prinzipien der Grounded Theory auf, fügt jedoch eine stärker selbstreflexive, flexible Komponente hinzu, die auf die situative und kontextbezogene Anpassung fokussiert ist, die als konstruktivistische Interpretation anzusehen ist (Charmaz, 2006). Die Innovationsarenen erfüllen viele dieser Anforderungen und verdeutlichen, wie praxisnahe Theorieentwicklung durch einen offenen und reflexiven Ansatz gelingen kann.

4.1 Iterative Wissensgenese in der Praxis (Innovationsarenen)

Ein zentrales Merkmal der Reflexive Grounded Theory ist die iterative, kontextgebundene Entwicklung von Theorien, die eng mit der Praxis verankert sind. Grounded Theory verfolgt das Ziel, eine Theorie zu entwickeln, die durch die ständige Vergleichsanalyse und die iterative Anpassung des Forschungsprozesses direkt aus den Daten generiert wird (Glaser & Strauss, 1967). Kremers Ansatz in den Innovationsarenen folgt diesem Prinzip, indem die Theorien und Konzepte, die in der Arena entstehen, kontinuierlich aus den Erfahrungen und Interaktionen der Teilnehmenden generiert und angepasst werden. Kremer betrachtet Wissen als etwas Dynamisches, das sich durch die kontinuierliche Reflexion und Rückkopplung zwischen Wissenschaft und Praxis entwickelt.

In den Innovationsarenen werden Prototypen und Lösungsansätze entworfen, die sich durch fortlaufendes Feedback der Praktiker und durch die analytische Reflexion der Forschenden verändern und verfeinern. So wie in der Reflexive Grounded Theory bleiben die Erkenntnisse flexibel und werden an die wechselnden Bedingungen angepasst, was eine tiefere, praxisnahe Theoriebildung ermöglicht.

4.2 Feldforscher als reflexive Akteure

Die Reflexive Grounded Theory legt besonderen Wert auf die Rolle der Forschenden als aktive und selbstreflexive Akteure im Forschungsprozess. In der Reflexive Grounded Theory, die von Charmaz (2006) als konstruktivistische Erweiterung entwickelt wurde, agieren Forschende als Co-Konstrukteure der Theorie, deren persönliche Erfahrungen und Perspektiven die Analyse mitprägen. Kremer betont ebenfalls die aktive Rolle der Forschenden in den Innovationsarenen. Sie treten nicht nur als Beobachter auf, sondern nehmen aktiv an der Entwicklung der Praxis teil und reflektieren kontinuierlich über ihren Einfluss auf die Praxis und umgekehrt. Die Forschenden hinterfragen ständig ihre Annahmen, interpretieren die Rückmeldungen der Praktiker und lassen diese direkt in die Gestaltung und Anpassung der Konzepte einfließen.

Dieser Ansatz entspricht dem Konzept der „theoretischen Sensibilität“ in der Reflexive Grounded Theory, bei der Forschende aufmerksam für die kontextuellen Nuancen sind und ihre eigenen Perspektiven in die Analyse miteinbeziehen (Glaser, 1978). In den Innovationsarenen ist die Reflexion des eigenen Standpunktes und der Wirkung auf die Praxis ein zentraler Aspekt, wodurch Kremers Ansatz eine reflexive Dimension erhält.

4.3 Situativität und Offenheit des Forschungsprozesses

Ein weiteres wichtiges Merkmal der Reflexive Grounded Theory ist die Offenheit für situative Anpassungen. In Kremers Innovationsarenen wird diese Flexibilität in hohem Maße umgesetzt. Die Gestaltung der Innovationsarena ist absichtlich offen und erlaubt es, Lösungen und Konzepte situativ anzupassen. Die Forschenden reagieren auf die realen Bedürfnisse der Praxis und passen ihre Ansätze an, anstatt starren methodischen Vorgaben zu folgen. Dadurch kann die Theorie flexibel auf die Bedingungen und Herausforderungen des Praxisfeldes eingehen, was typisch für die Reflexive Grounded Theory ist.

4.4 Wissensgenese als gemeinschaftlicher Prozess

Die Reflexive Grounded Theory betont die gemeinschaftliche Theoriebildung, bei der die Akteure im Forschungsfeld aktiv in die Analyse und Interpretation eingebunden sind. In Kremers Innovationsarenen arbeiten Wissenschaft und Praxis eng zusammen, um gemeinsam Wissen zu generieren. Die Praktiker bringen ihre Erfahrungen und spezifisches Kontextwissen ein, während die Forschenden methodisch und theoretisch unterstützen. Diese kollaborative Form der Wissensgenese ermöglicht eine Theorieentwicklung, die sowohl praxisnah als auch theoretisch fundiert ist und auf den tatsächlichen Bedingungen des Praxisfeldes beruht.

4.5 Gemeinsamkeiten unserer Forschung und Besonderheiten des Ansatzes von H.-Hugo Kremer

Kremers Ansatz der Innovationsarenen kann daher als Beispiel für die Reflexive Grounded Theory gelten, da er die zentralen Prinzipien dieser Methodologie – iterative Wissensgenese, reflexive Forscherrolle, situative Offenheit und gemeinschaftliche Theorieentwicklung – verfolgt. Die Innovationsarenen bieten einen Raum, in dem praxisnahes Wissen dynamisch entsteht und kontinuierlich weiterentwickelt wird, was die Verbindung von theoretischer Sensibilität und praktischer Relevanz fördert. Sein Konzept steht in der Tradition der Modellversuchsforschung.

H.-Hugo Kremer hat aber deutlich sichtbare eigene Akzente entwickelt. Ein besonderes Merkmal in seinen Arbeiten ist dabei, dass er den Begegnungsraum mit Praktikern als Zwischenwelt betrachtet. Innovationsarenen sind letztlich institutionell geprägte Organisationen. Was dabei zuweilen vielleicht außer Acht gelassen wird, ist die Frage nach den Machtstrukturen in dieser Zwischenwelt, denn es ist eben nicht so, dass sich diese Zwischenwelten gleichsam autonom formieren. Sie sind vielmehr i. d. R. sehr stark geprägt durch die Normen und Hierarchien, denen die Praxispartner unterliegen.

Die Vorstellung einer Zwischenwelt entspricht nicht dem Konzept der Lebenswelt, wie sie in der phänomenologischen Interpretation (Sloane) vorkommt. Im phänomenologischen Lebensweltkonzept ist die Inkommensurabilität der Lebenswelten ‚Wissenschaft‘ und ‚Praxis’ konstitutiv. Diese geben Regeln, Normen, Hierarchien vor, denen man im Handeln folgt. Man kann zwischen diesen Welten wechseln und auch Ideen, Konzepte, Modelle, Werkzeuge von der einen in die andere Welt bringen, aber im Handeln ist man entweder Forscher oder Praktiker. Kremers Zwischenwelt-Konzept löst diese Inkommensurabilität dadurch auf, dass er von Handlungsmodi ausgeht, die Praktiker wie Forschende gleichermaßen anwenden können. Damit folgt er durchaus der Idee, dass Forschende praktisch und Praktiker wissenschaftlich-methodisch tätig werden können. Sein Argument ist dabei die wissenschaftliche Fundierung der praktischen Arbeit von Lehrkräften auf der einen und die praktische Relevanz der Arbeit der Forschenden auf der anderen Seite. In der konkreten Projektarbeit verschwinden dann aber die Grenzen zwischen Praxis und Wissenschaft; die Forschung wird zum action research. In den Anfängen der Arbeiten zur Modellversuchsforschung im Kölner Institut war Abgrenzung der MVF gegenüber dem action research programmatisch gewollt. Dies sollte durch definierte binnenlegitimatorische Ansprüche, eben als konstituierender Teil der Lebenswelt Wissenschaft gewährleistet werden. Wiederum in dieser Tradition stehend begegnet H.-Hugo Kremer der möglichen Vereinnahmung von Forschung durch Praxis, die zuweilen dem action research vorgeworfen wird, indem er sich neben den Innovationsarenen auch den Ansprüchen der Forschungsarenen des Faches stellt und dort erfolgreich reüssiert.

Das iterative Vorgehen hat schließlich eine hohe Passung mit dem von Dieter Euler formulierten zyklischen Modell zum DBR. Die dabei zu leistende De-Kontextualisierung fallbezogenen, in der Innovationsarena gewonnenen Wissens dokumentiert sich u. E. sehr eindrucksvoll in der hier vorgestellten Fallstudie zu seinen Arbeiten zur Ausbildungsvorbereitung. Er betrachtet die Erfahrungen, die in den Arenen gemacht werden, als Anwendungsfälle allgemeinerer Theorien. Dies entspricht dem modus applicandi der hermeneutischen Forschung.

Die nachfolgende Synopse stellt die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen unseren Konzepten heraus und reflektiert unsere methodologischen Positionen zur Wissenschaft-Praxis-Kooperation und Wissensgenese.

Tabelle 1: Gegenüberstellung

 

Wissenschaft-Praxis-Kooperation

Lebenswelten (Sloane)

Designzyklen (Euler)

Feldforschung (Kremer)

Grundidee und Ziele

Setzt auf eine phänomenologische und hermeneutische Herangehensweise, um Verständnis und Erkenntnisse durch unmittelbare Einbindung in die Praxis zu gewinnen.

Entwickelt praxisorientierte Design-Prinzipien durch iterative Design-Zyklen, die systematisch entwickelt, getestet, evaluiert und angepasst werden, um übertragbare Bildungskonzepte zu entwickeln.

Nutzt Innovationsarenen als offene, flexible Forschungsräume, die eine praxisorientierte, situativ anpassbare Lösung von Problemen fördern.

Rolle des Forschers

Forschende agieren als Lernende und Mitgestaltende innerhalb der „Lebenswelt“ der Praktiker und führen eine rekonstruktive Analyse durch.

Forschende arbeiten partnerschaftlich mit der Praxis in strukturierten Designzyklen zusammen und übernehmen analytische Aufgaben zur Sicherstellung wissenschaftlicher Validität.

Forschende agieren als Moderatoren und aktive Mitgestalter in der Praxis; sie passen ihre Rolle flexibel an, um den Entwicklungsprozess zu unterstützen.

Methodik und Struktur

Nutzt phänomenologisch-hermeneutische Methoden, um praxisnahe Erkenntnisse zu gewinnen; strukturiert sich weniger formal, lässt Raum für situative Anpassungen.

Setzt auf strukturierte Designzyklen, die geprüft (validiert) und optimiert werden, um reproduzierbare Ergebnisse und Prinzipien für unterschiedliche Kontexte zu schaffen.

Folgt einer offenen, iterativen Methodik, die situative Anpassungen zulässt und die Entwicklung von praxisnahen, kontextuellen Lösungen unterstützt.

Verhältnis Wissenschaft-Praxis

Wissenschaft und Praxis als inkommensurable Lebenswelten

Praktiker als zentrale Partner im Entwicklungsprozess, sie liefern beispielhafte Lösungen, iterative Anpassung von praktischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Konzepte.

Wissenschaft und Praxis arbeiten auf Augenhöhe, wobei die Praktiker eine gleichwertige Rolle im Gestaltungsprozess einnehmen.

Wissensgenese

Erkenntnisse entstehen durch Erklären und Verstehen, somit als Verbindung von rationaler Analyse und Nachvollziehen im Sinne der Phänomenologie. Das Wissen ist textbasiert und es ist zwischen Struktur- und Regelwissen zu unterscheiden.

Erkenntnisse werden durch Entwicklung und Validierung von Design-Prinzipien generiert, die auf praxisrelevante und allgemeingültige Lösungen abzielen. Es handelt sich um eine analytische Reflexion. Es entsteht Regelwissen.

Die Wissensgenese ist praxisnah und situativ. Wissen wird durch Reflexion und direkte Erfahrung in der Innovationsarena generiert. Es entsteht fallbezogenes Wissen, welches de-kontextualisiert wird.

Methodologische Position

Phänomenologie, Hermeneutik und rationale Rekonstruktion; eidetische Rekonstruktion (Strukturwissen) und de-kontextualisiertes Regelwissen wird erarbeitet.

Analytische Rekonstruktion mit dem Ziel, generalisierbare und übertragbare Prinzipien für typische Problemstellungen zu entwickeln.

Reflexive Grounded Theory; Forschende agieren in einem dynamischen Feld und nutzen situative Anpassungen zur Erarbeitung praxisnaher Erkenntnisse.

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Euler, D. & Sloane, P. F. E. (2025). Der Feldforscher – von einem, der die Arena kennt. P In P. Frehe-Halliwell, M.-A. Kückmann & F. Otto (Hrsg.), bwp@ Profil 12: Transformationen in der beruflichen Bildung – Handlungsräume und Gestaltungsfelder der Wirtschafts- und Berufspädagogik. Digitale Festschrift für H.-Hugo Kremer zum 60. Geburtstag (S. 1–16). https://www.bwpat.de/profil12_kremer/euler_sloane_profil12.pdf

Veröffentlicht am 02. Juni 2025