bwp@ 27 - Dezember 2014

Berufsorientierung

Hrsg.: Karin Büchter, H.-Hugo Kremer & Andrea Burda-Zoyke

„Like a Boss!“ – Eine subjektzentrierte Perspektive auf verzögerte Übergänge bei Jugendlichen im Berufsgrundbildungsjahr

Die Zahl der Publikationen zum beruflichen Übergangssektor hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Es dominieren Darstellungen zur mangelnden Effizienz des Übergangsbereiches, die in erster Linie objektivierbare  Faktoren wie mangelhafte inhaltliche Passung an die qualifizierende Ausbildung und fehlende Anschlussmöglichkeiten fokussieren.

Seltener im Mittelpunkt stehen die handlungsleitenden Orientierungen der Jugendlichen im Übergangssektor, obwohl diese nicht nur zentral sind für die Berufswahl, sondern im Übergangsbereich auch besonders heterogen verteilt. Insbesondere die Anerkennungserfahrungen, die Jugendliche während ihrer schulischen und lebensweltlichen Sozialisation gemacht haben, nehmen erheblichen Einfluss darauf, ob und in welcher Form Jugendliche sich an der ersten Schwelle zu qualifizierender Ausbildung positionieren. Hauptschüler/innen leiden hierbei unter einem überindividuellen Anerkennungsdefizit, das in der gesellschaftlichen Geringschätzung der Hauptschule begründet ist (vgl. Wellgraf 2012).

Der Beitrag untersucht den Zusammenhang zwischen berufs- und bildungsbezogenen Orientierungen Jugendlicher im Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) einerseits und (Selbst-)Stigmatisierung als (ehemalige) Hauptschüler/innen andererseits. Anhand der Auswertung von Gruppendiskussionen mit Schüler/inne/n im BGJ wird dargestellt, inwiefern Bemühungen um soziale Anerkennung Bemühungen um Übergänge in qualifizierende Ausbildung überlagern bzw. diesen vorgelagert sind.

Die Ergebnisse dieser explorativen Untersuchung stellen einen Beitrag zur subjektzentrierten Perspektive auf Berufsorientierung im Übergangsbereich dar und werden als Grundlage einer anerkennungstheoretischen Theorie der Selbstselektion an der ersten Schwelle angelegt.

“Like a Boss!” – A subject-centred view of delayed transitions of young people in their additional prevocational training year

English Abstract

The number of publications on the vocational transitional sector has increased sharply over the past few years. They are dominated by statements which criticise the lack of efficiency in the transitional sector and focus primarily on objectifiable factors, for example learning contents that are inadequate to provide the necessary qualification and insufficient options for subsequent training.

Less emphasis is placed on orientation factors that guide young people’s vocational decisions in the transition sector, although they do not only play an essential role in the career choice, but are also distributed across a very heterogeneous spectrum during the transition stage. Whether or not young people take a position, and if so which, when they are facing the first threshold of qualificatory training, is determined especially by the recognition (or lack thereof) they have received during their socialisation processes, both at school and in life in general. Students of the Hauptschule [German type school providing lower secondary education] suffer from a supra-individual recognition deficit, which has its roots in the low esteem in which Hauptschule is held by society (cf. Wellgraf 2012).

The article analyses the connection between the vocational and educational orientation of young people during the additional prevocational training year on the one hand and the (self )stigmatisation of (former) Hauptschule students on the other hand. The analysis of group discussions with students in their additional prevocational training year shows to what extent their efforts to gain social recognition overlap with or override their efforts to enter qualificatory training.

The findings of this exploratory study make a contribution to the subject-centred view of vocational orientation in the transitional stage and are designed as the foundation of a recognition-based theory of self-selection at the first threshold.

1 Einleitung

Das Interesse am Übergangsgeschehen an der ersten Schwelle und die Zahl einschlägiger Publikationen ist seit der ersten Problematisierung der hohen Zuwachsraten des Übergangsbereiches im Bildungsbericht 2006 (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006) stark gewachsen. Dies ist auf eine Reihe miteinander interagierender gesellschaftlicher Trends zurückzuführen:

  • Die mit dem Projekt der Moderne einhergehende Freisetzung aus tradierten Entscheidungsräumen ist begleitet von einer sukzessiven Pädagogisierung der Biographie inkl. Lebens- und Berufsplanung. Die entsprechenden Prozesse unterliegen einer sukzessiven Akademisierung und Professionalisierung, z. B. im Bereich vertiefter schulischer Berufsorientierung.
  • Die Veränderung der Arbeitsbezüge in Richtung einer zunehmenden Subjektivierung von Arbeit hat zu einem erweiterten Interesse daran geführt, wie die betroffenen Subjekte mit den entstandenen biografischen und beruflichen Gestaltungs-Spielräumen, aber auch -Zumutungen umgehen.
  • Prognosen eines vermeintlichen Fachkräftemangels haben zu der Einschätzung geführt, dass die Einbindung der jeweils ganzen nächsten Generation in wirtschaftliche Wertschöpfungsprozesse notwendig ist, um den gesellschaftlichen Wohlstand zu sichern. Gescheiterte Wege in Ausbildung und Beruf gelten humankapitaltheoretisch als Verschwendung von Ressourcen. Hieraus hat sich ein stärkerer wissenschaftlicher und bildungspolitischer Fokus auf brachliegende Potenziale in vermeintlichen „Randzonen“ der Leistungsgesellschaft ergeben.
  • Politik, die in Zeiten rascher Veränderungen verstärkt Steuerungswissen nachfragt, hat ein Interesse an empirischer Forschung, die politische Richtungsentscheidungen in der Bildungslandschaft legitimieren hilft. Insbesondere vor dem Hintergrund neuerer bildungspolitischer Formeln wie „kein Kind zurücklassen“ in Nordrhein-Westfalen (http://www.kein-kind-zuruecklassen.de) wird der Blick seit einigen Jahren stärker auf sog. „Bildungsverlierer“ (Hurrelmann/Quenzel 2010) gerichtet.
  • Auch die Individuen fragen in Zeiten erlebter Selbst-Rationalisierungsansprüche Orientierungshilfen in Form von Beratungsangeboten, Lebensplanungsmodellen u. Ä. nach. Vermittelt z. B. über den Markt schulischer Berufsorientierung und andere Maßnahmen zur Arbeitsförderung, besteht ein Bedarf an Orientierungsangeboten zu beruflicher Entwicklung aus der Beratungswirtschaft, die ihrerseits Professionalisierungs- und Akademisierungszwängen unterliegt (vgl. z. B. die „Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV)“, http://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsmarkt/Arbeitsfoerderung/akkreditierung.html).

Eine bedeutsame Rolle bei der systematischen Erforschung des Übergangsgeschehens an der sog. ersten und zweiten Schwelle spielen insbesondere die großen Panelstudien des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) und des Deutschen Jugendinstituts (DJI), die in den vergangenen Jahren mit einer Vielzahl an Einzelerkenntnissen zur Aufhellung des Forschungsfeldes beitragen konnten. In diesem Bereich sind es insbesondere quantitative Analysen der (Berufs-)Bildungsverläufe großer Gruppen, die eine Vielzahl von Diagnosen insbesondere merkmalsspezifischer Chancenstrukturen und Gefährdungen ermöglicht haben (vgl. Braun/Geier 2013; Gaupp/Lex/Mahl 2013; Buchholz/Straßer 2007; Granato2013). Auch abgesehen von diesen Studien wird das Feld der Forschung zum Übergangsgeschehen dominiert von quantitativen und systemanalytischen Zugängen, während qualitative, subjektbasierte Forschung bislang die Ausnahme ist. Die vielfältigen Analysen zur Effektivität und Effizienz des Übergangsbereiches basieren vorwiegend auf der Auswertung von Vermittlungsquoten und der Verbleibdauer in diesem Segment (vgl. Braun/Geier 2013; Nickolaus 2012). Demnach gibt es eine konstant hohe Zahl an Jugendlichen und jungen Erwachsenen, denen es nicht gelingt, die Angebote des beruflichen Bildungssystems zu nutzen, um ihre Berufsaussichten zu verbessern. Besonders allochthone Jugendliche sehen sich zahlreichen biografischen Gefährdungen ausgesetzt, die eine berufliche Qualifizierung verhindern, zumindest aber erschweren bzw. verzögern. Dem Übergangsbereich, ursprünglich als Instrument zur Chancenverbesserung und Abfederung von Nachfrageschwankungen auf dem Ausbildungsmarkt eingeführt, wurde die Qualität eines „Systems“ mangels innerer und äußerer Kohärenz aberkannt (vgl. z. B. Bojanowski 2014, 162; Balz/Nüsken 2010, 183). Die unter diesem Begriff zusammengefassten Maßnahmen stehen in einer Gesamtwahrnehmung der Vergeblichkeit (Giese/Wittpoth 2009), die Teilnehmenden werden als Gescheiterte im Bemühen um eine Ausbildungsstelle und als Opfer dieses Bereiches beschrieben. Er gilt als „Warteschleife“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 82), als erste Stufe des bildungsbiografischen Abstiegs (vgl. Giese 2012, 290), als „Krisensymptom“ (Schmidt 2012), der konstant hohe Anteil des Übergangssystems an Neuzugängen im beruflichen Bildungssystems gilt als Indikator für Passungsprobleme an der Schwelle zwischen allgemeinbildenden Schulen und beruflicher Ausbildung (Kutscha 2010, 314). Die Teilnehmenden der entsprechenden Angebote gelten als Teil einer „»Bugwelle« unbefriedigter Nachfrage“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 82), die Teilnahme an einem Angebot des Übergangsbereiches mithin als Indikator biografischer Gefährdung.

Wenig bekannt  ist  über die subjektiven Gründe für die Teilnahme an Angeboten des Übergangsbereiches. Es wird angenommen, dass der Hauptgrund für ein Einmünden in ein Angebot des Übergangsbereiches im Scheitern der Bemühungen um eine Ausbildungsstelle besteht (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2014, 100). Die implizite Unterstellung, dass Jugendliche im Übergangsbereich sich in erster Linie einen reibungslosen Übergang in qualifizierte Erwerbsarbeit wünschen, verkennt die Befunde des DJI-Panels, nach denen es vielen Hauptschulabsolvent/inn/en nicht primär um einen schnellen Eintritt in Ausbildung und Erwerbstätigkeit geht (vgl. Braun/Geier 2013, 29f), sondern der weitere Schulbesuch unterhalb dualer oder vollschulischer Ausbildung als erste Wahl unabhängig von Erfolg oder Misserfolg der Bemühungen um einen Ausbildungsplatz unterstellt werden muss. Zu diesen Befunden trägt insbesondere die in Hauptschulen stark vertretene Gruppe Jugendlicher mit Migrationshintergrund bei, bei denen der erweiterte Schulabschluss und eine Hochschulzugangsberechtigung als besonders erstrebenswert gelten (vgl. Becker 2010, 16). Als Hauptgrund für ein Einmünden in den Übergangsbereich muss eher als das vielfach angenommene Scheitern der Lehrstellensuche eine Form von „Selbstselektion“ (Granato/Münk/Weiß 2011, 22) unterstellt werden. Empirische Forschung zur Selbstwahrnehmung von Hauptschüler/inne/n hat gezeigt, dass das gesellschaftliche Bild der Hauptschule ein starkes Erleben von leistungsbezogener Wertlosigkeit, eine Art „Hauptschul-Stigma“ bedingt (vgl. Wellgraf 2012). Jugendliche mit Hauptschulabschluss münden demnach auch deswegen in Angebote des Übergangsbereiches ein, um zunächst eine Form der Selbstbeziehung aufzubauen, die einen Eintritt in den Beruf erst richtig und legitim erscheinen lässt. Rahn (2005) verweist zudem darauf, dass eine Teilnahme an sog. berufsvorbereitenden Maßnahmen eine psychosoziale Entlastungsfunktion haben kann und folgert, „dass für die Bewertung des BVJ [...] nicht nur strukturelle Kategorien berücksichtigt werden können, sondern bei der Reflexion über die Maßnahme der Subjektebene ein Stellenwert eingeräumt werden muss." (Rahn 2005, 24).

Zur Klärung des Zusammenhangs zwischen dem Erleben leistungsbezogener Entwertung qua Bildungsinstitution und beruflichen Selbstselektionsprozessen werden im Folgenden Zwischenergebnisse einer Studie zu Bildungs- und Berufsorientierung bei Jugendlichen im Berufsgrundbildungsjahr zusammengefasst und als Grundlage einer anerkennungstheoretischen Theorie der Selbstselektion im Übergang Schule-Beruf angelegt.

Zunächst erfolgt eine Zusammenfassung der für diese Untersuchung bedeutsamen anerkennungstheoretischen Aspekte, insbesondere ihre Relevanz für Berufsbildungsprozesse (2). Danach erfolgt eine anerkennungstheoretische Analyse des Zusammenhanges von Anerkennungserleben und Selbstselektion anhand ausgewählter Gesprächssequenzen aus Gruppendiskussionen (3). Abschließend werden berufliche Selbstselektion an der ersten Schwelle bedingende Berufs- und Bildungsorientierungen ausblickhaft dargestellt und Konsequenzen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Übergangsbereich sowie für die institutionelle Arbeit im Kontext Übergang Schule-Beruf erörtert (4).

2 Anerkennung und ihre Relevanz für Berufs- und Bildungsorientierung

Berufsorientierungs- und Berufswahltheorien wurden in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive verfeinert und ausdifferenziert. Dominierten bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts noch Annahmen einer reinen Passung individueller Bedürfnisse und Erfordernisse des Arbeitsmarktes zur Erklärung von Berufswahl, so werden heute zum Einen sozial-kognitive Theorieansätze stark rezipiert, die die Entwicklung des Selbstkonzeptes als kognitive Ermöglichungsstruktur in den Mittelpunkt der Laufbahnforschung stellen (vgl. Hirschi 2013, 29), und damit eine Verbindung aus rein individualistischen, z. B. interessentheoretischen Ansätzen und der Berücksichtigung der sozialen Umwelt schaffen. Zum Anderen werden aktuell konstruktivistisch geprägte Berufswahltheorien stark rezipiert, die weniger die vermeintlich objektivierbaren Bedingungen der Berufswahl als die subjektiven Deutungsmuster beruflicher Möglichkeiten (vgl. ebd., 31) fokussieren. Beide Paradigmen stellen individuelle Kognitionen bzw. Konstruktionen in den Mittelpunkt der Erklärung von Berufsorientierung und Berufswahl. Selbstselektion und Vermeidung leistungsbezogener Vergleichssituationen als Ausdruck eines entwicklungshinderlichen beruflichen oder akademischen Selbstkonzepts indes sind ohne die Berücksichtigung von Anerkennung und Missachtung nicht erklärbar, da „biographische Missachtungserfahrungen oder das Ignorieren legitimer Anerkennungsansprüche den Prozess der Selbstbildung und -entwicklung behindern und die Akteure dazu führen, die entsprechenden sozialen Lebensformen als pathologisch zu empfinden“ (Stojanov 2006, 207). Der Analysefokus auf Anerkennung und Missachtung in Prozessen leistungsbezogener Subjektivierung betont die grundlegende Intersubjektivität aller beruflichen Entscheidungssituationen. Der Anerkennungsbegriff, der seit Fichte und Hegel paradigmatisch für das Subjektverständnis der Moderne steht, stellt somit die zentrale Kategorie eines intersubjektiven Verständnisses der Subjektivierungsbedingungen in formal arbeitsteiligen Gesellschaften dar. Erkenntnisse über die intersubjektive Verwobenheit institutionell bedingten Anerkennungserlebens mit Bildungs- und Berufsorientierung können zur Klärung der Frage beitragen, warum eine konstant große Gruppe Jugendlicher mit Hauptschulabschluss einen direkten Übergang in qualifizierende Ausbildung an der ersten Schwelle vermeidet und mit welchen Orientierungen und Bedürfnissen diese Jugendlichen in Angebote des Übergangsbereiches einmünden.

Der Anlass, Anerkennungstheorien für die Erklärung von Berufs- und Bildungsorientierung zu verwenden, liegt in der Möglichkeit ihrer Rekonstruktion als Bildungstheorie begründet (vgl. Brumlik 2002,13; Stojanov 2006). Hegel fasst den Kampf um Anerkennung als jenen praktischen Konflikt „in dem das Subjekt sich findet, sobald es zu einem Bewusstsein von sich selbst kommen will“ (Sitzer/Wiezorek 2002, 106). Es handelt sich also um einen unausweichlichen Prozess der Auseinandersetzung von Subjekt und Welt, der sich nur im Modus des Erkennens eigener und fremder Geltungsansprüche vollziehen kann. Auf diesem Wege gelangt das Individuum zu einer Selbstbeziehung als autonomes Subjekt mit Bedürfnissen und Ansprüchen: „Was Anerkennungshandlungen im unendlichen Universum sozialer alltäglicher Geschehnisse auszeichnet, ist ihre Rolle, als die Grundlage für individuelle Autonomie zu dienen. Damit wird die Anerkennungskategorie tendenziell zu einer der zentralen Signaturen der Moderne [Hervorhebung im Original, UW]“ (Stojanov 2006, 210). Die Bedeutung intersubjektiver Anerkennungsdynamik für Berufsorientierung in funktional arbeitsteiligen Gesellschaften der (Spät-)Moderne besteht darin, den Imperativ autonomer Lebensführung inklusive vermeintlich freier Berufswahl als intersubjektives Paradigma zu skizzieren, indem Fragen der beruflichen (Selbst-)Lokalisierung als zentral mit der individuellen Historie der Gewährung und des Entzuges von Anerkennung verbunden verstanden werden. In diesem Sinne sind auch die institutionellen Formen der beruflichen Bildung in ihrer historischen Entwicklung weniger als Ergebnis notwendiger inhaltlicher Veränderungen der Arbeitsbezüge in Folge des industriellen Wandels zu verstehen, denn als Ergebnis sich verändernder „Rangordnungen, Anerkennungsbeziehungen, Distributionslinien des Wissens und formale[r] Karrieremuster“ (Harney 2010, 163). Für Angebote des Übergangsbereiches muss konstatiert werden, dass eine Anbindung an diese Anerkennungsbeziehungen zwar seit einigen Jahrzehnten immer wieder Gegenstand bildungspolitischer Bemühungen ist, in der Umsetzung aber an den je spezifischen Akteursinteressen scheitert, wie z. B. im Falle des Widerstandes der Betriebe gegen die Anrechnung des Berufsgrundbildungsjahres auf das erste Ausbildungsjahr (vgl. Brändle 2012). Eine tiefer gehende Analyse des Zusammenhangs von Partikularinteressen und bildungspolitischen Entscheidungen, die sich nicht an Entwicklungsbedarfen Jugendlicher im Übergangsbereich orientieren, sprengt den Rahmen dieses Beitrages. Es spricht indes einiges dafür, dass es sich beim Übergangsbereich gleichsam um ein „Stiefkind der Anerkennungsbeziehungen“ der beruflichen Bildung handelt, die nur vordergründig einer meritokratischen Logik folgt, in der tatsächlich aber, wie im allgemeinen Bildungssystem auch, „kulturelle Passung und der Schülerhabitus“ (Kramer 2014, 187) so aufeinander bezogen sind, dass „die doppelte Willkür des pädagogischen Handelns (...) den herrschenden (privilegierten) Schichten entspricht, sich aber auch an Angehörige anderer, (unterprivilegierter) Schichten wendet und darin ihren Partikularismus als universelle Anforderung und Anerkennung verschleiert“ (ebd).

Der Kern der anerkennungstheoretischen Überlegungen Axel Honneths als theoretische Basis der vorliegenden Untersuchung besteht darin, Anerkennungstheorie als bildungstheoretische Gesellschaftstheorie für einzelwissenschaftliche Untersuchungen empirisch anschlussfähig zu machen. Honneth zerlegt den Anerkennungsbegriff analytisch in drei Dimensionen; (1) emotionale Anerkennung (Liebe), (2) rechtliche Anerkennung (als Staatsbürger) und (3) soziale Wertschätzung (als Individuum mit spezifischen Eigenschaften und Leistungen). Hierbei entwickelt er emotionale Anerkennung als Anerkennungsverhältnis, das als „jene Grundschicht einer emotionalen Sicherheit nicht nur in der Erfahrung, sondern auch in der Äußerung von eigenen Bedürfnissen und Empfindungen, zu der die intersubjektive Erfahrung von Liebe verhilft, die psychische Voraussetzung für die Entwicklung aller weiteren Einstellungen der Selbstachtung [bildet]“ (Honneth 1992, 172). Diese Analyse, die Honneth mit Rückgriff auf die Hegelsche Anerkennungslehre und auf Basis der Psychoanalyse Donald Winnicotts und Jessica Benjamins entwickelt, stellt das Anerkennungsverhältnis, das sich in der Liebe darstellt, gleichsam als konstitutiven Ausgangspunkt menschlicher Bildsamkeit und den „Kern aller Sittlichkeit“ (ebd., 174) dar. Die Anerkennungsform der Liebe fasst Honneth damit als quasi-anthropologische Konstante auf, berücksichtigt aber, im Unterschied zur späthegelianischen Auffassung der Vernunft als zentralem Regulativ bürgerlicher Gesellschaften (vgl. Habermas 1985, 67ff), die Historizität der Subjektivierung und stellt der basalen Anerkennungsform der Liebe die des Rechts gegenüber, die sich historisch und damit komplementär zur Entwicklung moderner Gesellschaften entwickelt hat und weiter entwickelt. Die Anerkennungsdimension des Rechts ist nach Honneth durch die reziproke Anerkennung als moralisch zurechnungsfähige Subjekte in modernen Gesellschaften geprägt (Honneth 1992, 178). Die modernen Rechtsverhältnisse unterscheiden sich von traditionellen Rechtsverhältnissen in erster Linie dadurch, dass in letzteren die rechtliche Anerkennung, die ein Rollenträger genießt, graduell mit der jeweiligen Wertschätzung, d. h. dem angenommenen Wert des Individuum für das Gemeinwesen, abgestuft ist. Erst im Zuge historischer Neuordnungsprozesse des Rechtsgefüges entwickelt sich eine Form von Anerkennung im Medium des Rechts, die jedem Mitglied der Gesellschaft ungeachtet von Rang und Eigenschaften gleichermaßen gelten soll (vgl. ebd. 179). Gleichzeitig spalten sich damit die Vergabepraktiken sozialer Wertschätzung von der Vergabe von Rechtstiteln ab und müssen in der Folge als eigene Anerkennungsform, basierend auf individueller Leistung, gesondert analysiert werden (vgl. ebd.).

Die dritte Anerkennungsform, die der sozialen Wertschätzung, ergänzt die frühe Anerkennungslehre und die Rechtsphilosophie Hegels mit Rückgriff auf die Sozialpsychologie Meads zu der Theorie, anhand derer sich die „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ (Honneth 1992) verstehen lässt. Soziale Wertschätzung unterscheidet sich von der Anerkennungsform der Liebe, die als basale Anerkennungsform das soziale Handeln als Subjekt erst ermöglicht und von der des Rechts, die unabhängig von personalen Zuschreibungen besteht, dadurch, dass in sie normative Wertsetzungen der Gesellschaft darüber, unter welchen Umständen Subjekte Anerkennung verdienen, eingeschrieben sind. Sie stellt damit die Grundlage einer Subjektivierungsform dar, die sich von traditionellen, vormodernen Wertvorstellungen abhebt und die soziale Inwertsetzung der Subjekte in erster Linie anhand ihrer sozialen Leistung, also ihres Beitrags zum Gelingen des Gemeinwesens, vollzieht. Damit unterliegt die Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung, ähnlich wie die der Anerkennung als Rechtsperson, einer ständigen Verhandelbarkeit und historischem Wandel. Anders als diese wiederum vollzieht sich im Medium der sozialen Wertschätzung, so Honneth, jenes Ringen sozialer Gruppen um positive Wertschätzung ihrer spezifischen Eigenschaften und Leistungen, die Honneth im Anschluss an Hegel als Kampf um Anerkennung bezeichnet (ebd. 205f). Mit diesem Kampf sind also jene Aushandlungsprozesse gemeint, anhand derer sich über die Verhandlung sozialer Leistungskriterien gesellschaftlicher Fortschritt vollzieht. Honneth skizziert die Verteilung sozialer Wertschätzung in nachtraditionellen Gesellschaften als auf Prozesse von Leistungsevaluation beruhend, „denn wie auch immer die gesellschaftlichen Zielsetzungen bestimmt sind, ob in der einen, scheinbar neutralen Idee der »Leistung« zusammengefaßt [sic] oder als ein offener Horizont pluraler Werte gedacht, stets bedarf es einer sekundären Deutungspraxis, bevor sie innerhalb der sozialen Lebenswelt als Kriterien der Wertschätzung in Kraft treten können“ (ebd. 205).

Die Sphäre der Arbeit ist in funktional arbeitsteiligen Gesellschaften das zentrale Medium der Vergabe leistungsbezogener sozialer Wertschätzung und der zugehörigen Aushandlungsprozesse. Wie stark die Verwobenheit von Leistung und sozialer Wertschätzung im kollektiven Bewusstsein moderner Gesellschaften verwurzelt ist, zeigt sich in parteipolitisch angestoßenen gesellschaftlichen Diskussionen um Leistungsgerechtigkeit, etwa unter der Losung „Leistung muss sich wieder lohnen“. Auch wiederkehrende Diskussionen um die Ausnutzung sozialstaatlicher Leistungen, also der Leistungen der Mehrheit, durch eine als faul, träge oder asozial markierte Minderheit sind als Aushandlungsprozesse des Zusammenhangs unterstellter (Minder-)Leistung und sozialer Wertschätzung bzw. Missachtung zu verstehen. Diese Zuschreibung hat sich seit der Bankenkrise um das Jahr 2008 – unter Verwendung des Vorwurfs der Gier anstelle der Leistungsverweigerung – gegen andere Gruppen gewendet, die sich im Medium des Berufs vermeintlich am Gemeinwesen bereichern (dies als Ausdruck eines  gesellschaftlichen Bedarfs der Markierung von Leistungsparias). Nicht zuletzt das Ringen um einen flächendeckenden Mindestlohn ist anerkennungstheoretisch interpretierbar, insbesondere das Detail, dass Jugendliche vom Mindestlohngesetz ausgenommen sind (vgl. MiLoG, Abschnitt 4, §22 (2), http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/milog/gesamt.pdf). Sie werden, altersbedingt im (Aus-)Bildungsprozess begriffen, nicht als vollwertige Mitglieder des Gemeinwesens adressiert, sondern von ihnen wird erwartet, den gesellschaftlichen Entwicklungsimperativen zu folgen und sich diesen Status und die damit verbundene soziale Wertschätzung durch Bildungsabschlüsse erst zu erarbeiten.

Kinder treten spätestens mit der Einschulung in das „umkämpfte Feld der sozialen Wertschätzung“ (Honneth 1992, 202) ein und sind im Verlauf ihrer Bildungsbiografie zahlreichen Erfahrungen der Gewährung und des Entzuges sozialer Wertschätzung im Kontext institutioneller Bildungs- und Selektionsprozesse ausgesetzt. In diesem Sinne begründet Sandring die Übersetzung von Bildungsbiografie als „Anerkennungsbiografie“ (Sandring 2013, 35). Diese Anerkennungsbiografien spitzen sich an den spezifischen Wegmarken des Bildungssystems jeweils zu als erlebter Möglichkeitsraum beruflicher Entscheidungen und nicht zuletzt von den Anerkennungsbiografien und -erwartungen hängt es ab, welche Wege als begehbar bzw. attraktiv oder versperrt bzw. unattraktiv eingeschätzt werden.

Die Entscheidung für einen Eintritt in qualifizierende Ausbildung stellt eine der bedingungsreichsten biografischen Entscheidungen dar. Entsprechend nachvollziehbar ist das Bestreben Jugendlicher, diese Entscheidung, die gleichzeitig das vorläufige Ende eines adoleszenten Bildungsmoratoriums markiert, hinauszuzögern. Dies gilt besonders, wenn auf Basis der eigenen Anerkennungsbiografie ein Reüssieren in Bewerbung, Ausbildung und Beruf als unwahrscheinlich antizipiert wird. Im  Folgenden soll daher der Grundstein für ein erweitertes Verständnis des Zusammenhangs zwischen Anerkennungserfahrungen und verzögerten Übergängen in qualifizierende Ausbildung gelegt werden.

Eine Bedeutungsbestimmung der Honneth´schen Anerkennungskonzeption für schulische Bildungsprozesse wurden in den vergangenen Jahren im Kontext des Forschungsverbundes Desintegrationsprozesse (vgl. Heitmeyer/Imbusch 2005), insbesondere im Forschungsprojekt „Politische Orientierungen von Schülerinnen und Schülern im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen“ (Helsper/Sandring/Wiezorek 2005) vorgenommen.

Helsper, Sandring und Wiezorek werfen die Frage auf, inwiefern die Honneth´sche Anerkennungstheorie als umfassende Gesellschaftstheorie überhaupt geeignet ist, die „professionellen und institutionellen pädagogischen Beziehungen und Verhältnisse“ (ebd., 179) zu reformulieren und zu fassen. Insbesondere stellen sie infrage, wie sich die Anerkennungstheorie auf schulisch-pädagogische Beziehungen übertragen lässt, die durch Asymmetrie und Ungleichheit gekennzeichnet sind, wie die verschiedenen Dimensionen des Anerkennungsbegriffs miteinander interagieren und wie „die Bildungsgeschichte von Individuen als Anerkennungsgeschichte zu rekonstruieren“ (ebd., 180) ist. Sie betonen in ihrer empirischen Forschung die Interdependenzen zwischen den Dimensionen der Anerkennung. So seien die Modi der Anerkennung zwar analytisch voneinander zu trennen, griffen aber empirisch, z. B. in den Spätfolgen entzogener emotionaler Anerkennung in der frühen Kindheit in späteren Prozessen sozialer Interaktion, ineinander (vgl. ebd., 203). In der Schule seien die Anerkennungsmodi der moralischen Anerkennung (als Rechtsperson) und der sozialen Wertschätzung quasi programmatisch miteinander verwoben, da individuell erbrachte schulische Leistungen einer universalistischen Leistungsbewertung unterliegen (Sandring 2013: 250).

3 Kampf um Anerkennung im Berufsgrundbildungsjahr

Die vorliegende Untersuchung ist eingebettet in eine Studie zur Berufs- und Bildungsorientierung Jugendlicher im Berufsgrundbildungsjahr (BGJ). Das BGJ an einem großstädtischen nordrhein-westfälischen Berufskolleg, an dem die erste Teiluntersuchung im Frühjahr 2013 stattfand, richtet sich an schulpflichtige Jugendliche mit Hauptschulabschluss. Es werden zwei unterschiedliche Schwerpunkte im BGJ angeboten, Gastronomie/Hauswirtschaft und Pflege-/Sozialberufe, die klassenweise organisiert sind. Die Teiluntersuchung fand in einer Klasse mit dem Schwerpunkt Gastronomie und Hauswirtschaft statt.

Die Studie war ursprünglich als Praxisforschungsprojekt angelegt mit dem Ziel, das Potenzial internetgestützter Unterrichtsszenarien, die sich auf lebensweltliche situierte Problemstellungen beziehen, für die Förderung fach- und berufsbezogener Lernmotivation zu untersuchen. Hierzu wurde, in Zusammenarbeit mit zwei Lehrkräften des BGJ, ein WebQuest, also ein internetbasiertes Lernszenario (vgl. Moser 2008) entwickelt. Dieses WebQuest zum  Thema Existenzgründung im Berufsfeld Gastronomie forderte die Schüler/innen auf, sich der Frage zu stellen, welche Tätigkeitsbereiche sie attraktiv finden, woher sie notwendige Informationen bekommen können, welche Kooperationsformen beim Bemühen um den Aufbau einer beruflichen Existenz in Frage kommen u. Ä.. Außerdem waren die Jugendlichen aufgefordert, als Projektziel des WebQuests, einen rudimentären Geschäftsplan für ein Unternehmen ihrer Wahl zu entwerfen und auf diesem Wege mathematische Problemstellungen in ihre Überlegungen einzubeziehen. Das WebQuest wurde in einem Umfang von vier Unterrichtseinheiten, inklusive der Ergebnispräsentation, unter didaktischer Mitwirkung der Projektleitung, umgesetzt (vgl. Weiß 2013). Im Nachgang des Unterrichtsprojektes wurden mit den Jugendlichen Gruppendiskussionen durchgeführt um ein Bild davon zu erhalten, welche Themen im Kontext Übergang Schule-Beruf für die Jugendlichen eine besondere Relevanz haben.

Die Fallgruppe bestand ausnahmslos aus Jugendlichen mit Hauptschulabschluss, die diesen an unterschiedlichen Schulformen – vornehmlich an Hauptschulen, einige an Gesamtschulen und ein Schüler an einem Gymnasium – erworben hatten. Die Schüler/innen waren zum Zeitpunkt der Materialerhebung zwischen 16 und 18 Jahren alt.

Die Gespräche mit den Jugendlichen wurden als Reflexionsgespräche des WebQuests zum Thema Existenzgründung geführt und so Anlass und Möglichkeit geschaffen, ein Gespräch über sowohl berufsbezogene Themen als auch Themen schulischer Leistungsaspiration zu führen. Die Auswertung des Materials erfolgt nach der dokumentarischen Methode im Sinne Bohnsacks (Bohnsack 2011, Asbrand 2011). Zunächst wird im Rahmen der formulierenden Interpretation analysiert, was die Schüler sagen und welche Themen relevant sind. Danach wird im Rahmen der reflektierenden Interpretation, also der Analyse, wie etwas gesagt wird, den „konjunktiven Erfahrungsräume[n]“ (Bohnsack 2011, 43) der Jugendlichen und dem darin eingelagerten „handlungsleitenden Wissen“ (ebd., 40) interpretativ nachgespürt.

Die formulierende Interpretation der Gruppendiskussionen offenbart ein sehr gering ausgeprägtes Interesse der Jugendlichen an Fragen zügiger Übergänge in qualifizierende Ausbildung, insbesondere nicht in Ausbildung im Schwerpunkt ihres BGJ, Gastronomie und Hauswirtschaft. Auf interessen- oder kompetenztheoretische Zugänge zum Selbsterleben der Jugendlichen im BGJ ließen sich diese Interpretationen nicht beziehen, da das Erleben spezifischer Kompetenzen oder Interessen im Zusammenhang mit beruflichen Aspirationen in keiner Situation zum Ausdruck kam. Die für die Auswertung von Gruppendiskussionen nach Prinzipien interpretativer Sozialforschung zentrale „metaphorische[..] Dichte“ (Schäffer 2012, 358) zeigt sich vielmehr in solchen Sequenzen, die als Ausdruck einer geringen Selbstschätzung bzw. als Reaktion auf schulische Missachtungserfahrungen interpretierbar sind. Daher wurde im Fortgang der Studie der Schwerpunkt auf Anerkennungs- und Missachtungserleben im Zusammenhang mit Berufs- und Bildungsorientierung Jugendlicher im BGJ gelegt.

Die zentralen Ergebnisse der ersten Teiluntersuchung werden anhand von vier Themenbereichen nachvollziehbar gemacht; (1) Übertragung der Reputation der Schulform Hauptschule auf die Individuen als kollektives Stigma, (2) affektiver Gehalt des mittleren Abschlusses, (3) Wunsch nach sozialer Wertschätzung als BGJler, (4) Verwobenheit von Anerkennungsdimensionen und Rechtspositionen als Rückzugsraum. Komparative Analysen unterschiedlicher „kollektive[r] Sinnstrukturen“ (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2009, 17) ehemaliger Hauptschüler/innen und ehemaliger Schüler/innen anderer Schulformen werden in den folgenden Teiluntersuchungen vorgenommen und auf diese Weise genauer analysiert, welche Formen handlungsleitenden Wissens auf welche institutionenspezifischen Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen beziehbar sind.

3.1 Übertragung der Reputation der Schulform Hauptschule auf die Individuen als kollektives Stigma

Die Verflechtung von institutionellen Zuschreibungen und mangelnder „Selbstschätzung“ (Honneth 1992, 209) formuliert ein Schüler während einer Gruppendiskussion recht drastisch. Ein anderer Schüler, der in der Oberstufe zwei mal die Versetzung verpasst hatte und daraufhin mit Hauptschulabschluss das Gymnasium verlassen musste, hatte dargestellt, wie intensiv an seinem Gymnasium Computer im Unterricht genutzt wurden, indem z. B. im Rahmen eines Zeitzeugenprojektes mit Einbindung von Videokonferenzen u. Ä. gearbeitet wurde. Der erwähnte ehemalige Hauptschüler reagiert auf diese Ausführungen mit einem Ausdruck der Scham (alle Interviewsequenzen sind aus Gründen besserer Lesbarkeit in leicht geglätteter Form wiedergegeben):

m1: Irgendwie ist das voll beschämend, Hauptschüler zu sein.

Interv.: Wie bitte?

m1: Es ist beschämend ein Hauptschüler zu sein, wenn man neben ihm sitzt.

Interv.: Warum?

m1: Weil der so mit gutem Deutsch kommt und naja (...) weil bei uns ist ja der Unterrichtsstoff ein bisschen vereinfacht und so. Und der hat ja besseres Deutsch gelernt als ich. Und der redet (…)┌m4┐ Ja, genau, also mit Fachwörtern.

m4: In Fachwörtern

 

Dem Schüler ist bewusst, dass er als Hauptschulabsolvent mit deutlich weniger elaborierten Artikulationsformen in Kontakt gekommen ist, als sein Mitschüler, der bis in die Oberstufe das Gymnasium besucht hat. Er verallgemeinert diese Betroffenheit für alle Hauptschüler/innen, da er unterstellt, als Hauptschüler schlichtweg nicht den Zugang zum distinguierten Artikulationsformen erhalten zu haben. Gleichzeitig bindet er mit der Wahrnehmung von Scham eine individuelle Wahrnehmung ein, die vermeintlich für alle Hauptschulabsolventen gilt. Es kommt zum Ausdruck, dass der Schüler der Institution Schule eine zentrale Bedeutung für das Eröffnen erweiterter Artikulationsräume zuschreibt. Vor diesem Hintergrund ist der weitere Schulbesuch zum Zweck der Überwindung von Scham nachvollziehbar. Die Bedingung „wenn man neben ihm sitzt“ verweist darauf, dass die Scham in der Situation am stärksten wird, in der der ehemalige Hauptschüler mit der offensichtlichen schulischen Überlegenheit des Gymnasiasten konfrontiert wird. Die Situation am Ausbildungsmarkt, in der ehemalige Hauptschüler/innen mit Abiturient/inn/en um Ausbildungsstellen konkurrieren, stellt eine solche Vergleichssituation dar und die Verzögerung des Übergangs in reguläre Ausbildung spiegelt das Empfinden der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss, diesem Konkurrenzkampf schlichtweg nicht gewachsen zu sein.

Eine Ursache der Scham scheint zudem das Erleben zu sein, als Hauptschüler für geistig unterlegen gehalten zu werden, da der Unterrichtsstoff vermeintlich künstlich vereinfacht wird. Auch hier steht der Besuch des BGJ für den Versuch ehemaliger Hauptschüler/innen, sich von der Scham durch eigene Leistung zu befreien und den Gegenbeweis anzutreten, dass auch sie zu höheren Bildungsleistungen in der Lage sind.

Dass andererseits mit dem bloßen Besuch des BGJ bereits ein Teilerfolg im Kampf Selbstschätzung erzielt wird, zeigt die Konklusion der dargestellten Sequenz. Nachdem eine leichte Betretenheit angesichts der vorangegangenen Selbstoffenbarung herrscht, entlastet ein anderer ehemaliger Hauptschüler die Situation mit einer weiteren Erkenntnis:

m2: Tja.

Interv.: Mmh.

m3: Trotzdem seid ihr beiden hier. >Schmunzelnd<

Der ehemalige Gymnasiast wird zwar als in schulischen Leistungssituationen deutlich überlegen anerkannt, dennoch befindet er sich gemeinsam mit den ehemaligen Hauptschüler/inne/n im BGJ, was als eine Art Nivellierung der andererseits offensichtlichen Unterschiede aufgefasst wird. Die gesamte Sequenz zeigt somit, dass ehemalige Hauptschüler sich als soziale Gruppe innerhalb des BGJ begreifen und spezifische kollektive Erfahrungen dieser sozialen Gruppe die Selbstwahrnehmung im BGJ prägen.

3.2 Der affektive Gehalt der mittleren Reife

Eine weitere Sequenz, die an die Frage anschließend entstanden ist, warum die Jugendlichen in der Diskussionsrunde gerne die Fachoberschulreife (FOR) erreichen möchte, zeigt diese kollektive Selbstwahrnehmung noch deutlicher:

m5: Es gibt sogar Leute, die mit keinem Abschluss ┌Interv.┐ eine Ausbildung bekommen haben.

Interv.: Aber sie sagen, mit FOR...

m1: Kommt´s besser rüber. Sagen wir mal so.

m2: Man fühlt sich auch besser irgendwie.

m4: Ja, man fühlt sich dann so, ja so…

m3: Like a boss.

>Lachen<

m2: Like a boss. >Lachend<

m1: Man möchte auch die Eltern stolz machen. ┌m4┐ Verstehen sie, was ich meine? Wenn man nichts hat, kommt man auch ┌Interv.┐  voll blöd rüber.

┌m4┐ : Ja.

┌Interv.┐:  Mmh. 

Auf die Proposition, die Fachoberschulreife sei gar nicht zwingend notwendig für den Beginn einer Berufsausbildung, folgt die Elaboration, dass es bei den Bemühungen um die FOR nicht allein um berufliche Chancen geht, sondern dass mit der Fachoberschulreife eine andere Form affektiver Selbstwahrnehmung einhergeht, die in gesellschaftlichen und familialen Leistungsvorstellungen begründet ist. Der Anreiz eines erweiterten Abschlusses liegt damit nicht ausschließlich in der Erweiterung von beruflichen Entscheidungsspielräumen, sondern darin, die individuelle Selbstwahrnehmung, gemessen an gesellschaftlichen Wertschätzungskriterien, aufzuwerten. Die Formulierung „wenn man nichts hat“ spiegelt zudem die Übernahme der gesellschaftlich weit verbreiteten Einschätzung, dass der Hauptschulabschluss das beinahe wertlose Zertifikat einer „Restschule“ ist. Die affektive Aufladung der Fachoberschulreife stellt ein Aggregat aus Anerkennungsbedürfnissen durch primäre Bezugspersonen, im Beispiel die Eltern, und der gesellschaftlichen Wertschätzung dar, ausgedrückt in der Konklusion, nicht „voll blöd rüber [kommen]“ zu wollen. Diese Interpretation stützt die Einschätzung, dass die unterschiedlichen Anerkennungsmodi auf der analytischen Ebene zwar gut zu trennen sind, empirisch aber vielfältigen Verflechtungen unterliegen (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, 189).

Die Formulierung „Like a boss“ bezieht sich möglicherweise direkt auf einen parodistischen Rap-Song („Like a boss“, Lonely Island feat. Seth Rogers auf YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=NisCkxU544c) wahrscheinlicher aber auf eine aus diesem Song basierende jugendsprachliche Wendung, nach der Dinge „like a boss“ zu tun bedeutet, sie mit besonderer Lässigkeit und Unverfrorenheit zu tun. Die Phrase findet sich als entsprechende kommentierende Bildunterschrift vielfach in sozialen Medien im Internet (vgl. Langenscheidt, 100% Jugendsprache 2014, epub-Version, http://www.gutefrage.net/frage/like-a-boss----). Die Äußerung beinhaltet in dieser Lesart im Vergleich zur wörtlichen Übersetzung eine ironische Wendung, denn der Modus „like a boss“ entlehnt die statusintensive Position des „boss“ aus ihrer arbeitsweltlichen Konnotation, in der Macht und Verantwortung immer austariert werden müssen und reduziert sie auf einen schrankenlosen Möglichkeitsraum, der dem untergebenen Arbeitnehmer vorenthalten bleibt. Ohne einen möglicherweise aus purer Freude am Zitat ausgesprochenen pop- oder jugendkulturellen Verweis interpretativ überhöhen zu wollen, lässt sich die Äußerung dann so verstehen, dass die FOR in der Wahrnehmung der Jugendlichen Freiräume eröffnet, die der Status des Hauptschulabsolventen nicht vorhält. Die Schüler/innen beschreiben gerade auch den Status des Schülers bzw. der Schülerin, im Sinne eines Bildungsmoratoriums als Raum der Freiheit im Vergleich zu den Zwängen des Berufslebens. Ein Beispiel aus der anderen Gruppendiskussion, in der es ebenfalls um die Gründe für einen weiteren Schulbesuch geht, mag diese Interpretation dokumentieren:

W2:Wiederrum lernt man, also an, von einer Seite lernt man und ähm, man muss nicht arbeiten. Von der anderen Seite, dann ist man auch nicht so ausgepowert am Abend.

In dieser Sichtweise spiegelt sich ein Orientierungsrahmen von Arbeit als etwas, das nicht primär gesellschaftliche Wertschätzung verspricht, sondern – insbesondere unter den Beschäftigungsbedingungen, die viele Hauptschüler/innen möglicherweise aus Erzählungen im privaten Umfeld kennen – den Zwang, sich vielfältigen Zumutungen und Anforderungen auszusetzen, von denen man im Schulkontext weitgehend befreit ist. „Like a boss“ könnte demnach für einen Raum der selbstbezogenen Nutzung von Freiheit stehen, den Schule und höhere Bildung vorhält, Ausbildung und Beruf vermeintlich aber nicht. In Verbindung mit dem vorangegangenen Textbeispiel lässt sich eine Berufsorientierung Jugendlicher im BGJ entwerfen, die zwar Vorstellungen von gesellschaftlicher Anerkennung im Medium Beruf beinhaltet, die die Jugendlichen aber in ihrer lebensweltlichen Realisierung mit ihrem derzeitigen Status für außer Reichweite halten.

3.3 Der Wunsch nach sozialer Wertschätzung als BGJler

Weitere Verflechtungen unterschiedlicher Anerkennungsmodi, insbesondere des Rechts und der sozialen Wertschätzung, verweisen auf Unsicherheiten der Jugendlichen mit unterschiedlichen Dimensionen gesellschaftlicher und statusbezogener Erwartungen. Diese Unsicherheit zeigt sich insbesondere in einer Gesprächssequenz, in der die Bewertung von Schüler- bzw. Lehrerverhalten wiederholt in Argumentationsmuster münden, die sich auf Rechtstitel oder Kriterien der moralischen Integrität als gesellschaftliches Subjekt mit Rechten beziehen.

Es wird beispielhaft eine Sequenz wiedergegeben, die durch eine besondere interaktive Dichte gekennzeichnet ist und aus Platzgründen nur ausschnittweise abgebildet werden kann.  Die lebhafte Diskussion entwickelt sich anschließend an die Frage, warum BGJler im Unterschied zu Schüler/inne/n anderer Bildungsgänge am Berufskolleg keine Unterstützung nach BAföG beziehen können. In der Sequenz vermischen sich Empörungsäußerungen mit Ansätzen formal-rechtlicher Erklärungsversuche.

w4: Wir kriegen kein BAföG, das wollt ich auch noch fragen.

w1: Nicht im Berufsgrundschuljahr, ne?

w3: Janine kann so was bekommen.

w4: Warum Janine und warum nicht wir?

w2: Weil die Quali macht.

w3: Weil die Ausbildung glaube ich macht.

w4: Warum bekommen die anderen Schüler BAföG, aber wir nicht?

w6: Frag ich mich…

w1: Weil wir Berufsgrundschuljahr sind.

w3: Berufsgrundschuljahr.

w4: Eine Freundin macht auch Berufsgrundschuljahr, nur mit Sozial- und Ernährung - kriegt BAföG. 216 Euro im Monat.

w1: Ja.

w4: Wir kriegen nichts! >Entrüstet<

An der Sequenz zeigt sich einerseits ein Bewusstsein für die Regelhaftigkeit sozialstaatlicher Leistungen, weil das Ausbleiben der BAföG-Berechtigung über die Art des Bildungsganges begründet wird, andererseits aber auch das Bedürfnis, dass die eigenen Bildungsanstrengungen als unterstützungswürdig und damit gesellschaftlich wertvoll anerkannt werden. Die Schüler/innen bemühen sich um die Aufwertung des eigenen Sozialstatus im BGJ, machen aber die Erfahrung, dass ihre Bemühungen nicht den gleichen sozialen Rang wie andere (Aus-)Bildungsgänge genießen. Über die formal-rechtlichen Erklärungsversuche erfolgt einerseits ein Rückzug auf die Anerkennungsform des Rechts, weil in diesem Anerkennungsmodus individuelle Zuschreibungen und Inwertsetzungen nicht greifen, gleichzeitig dringt aber eine Empörung über die entzogene soziale Wertschätzung qua nicht gewährter finanzieller Unterstützung durch. In der ergänzenden Elaboration der öffnenden Frage anhand verschiedener, als taxonomisiert begriffener Qualifikationsarten, zeigt sich das geteilte Bewusstsein der Jugendlichen, sich in der Rangordnung der beruflichen Bildung weit unten zu bewegen und deswegen von der Wertschätzung, die sich in einer Ausbildungsvergütung zeigt, abgeschnitten zu sein.

3.4 Verwobenheit von Anerkennungsdimensionen und Rechtspositionen als Rückzugsraum

Eine ausladende Diskussion entspinnt sich entlang der Frage, in welchem Verhältnis wahrgenommenes Fehlverhalten seitens der Schule bzw. einzelner Lehrpersonen und Fehlverhalten seitens der Schüler/innen zueinander stehen. (w3) bezeichnet die Schülerin, die in einen Konflikt mit einer Lehrerin geraten war. Die jeweilige Verantwortung für den Konflikt und seine Klärung seitens der Schülerin bzw. der Lehrerin wird in der Sequenz ausführlich und teilweise kontrovers diskutiert. Dennoch kommt es zu einer Konklusion, die hier wiedergegeben wird. In dieser stellt eine andere Schülerin rückblickend dar, wie es ihr gelungen ist, den Hauptschulabschluss trotz als massiv empfundener persönlicher Entwertung zu erreichen.

w4:      „Wenn die (w3) super Noten schreibt, das war bei mir in [westdeutsche Großstadt] auf der Schule. Haben die Lehrer mich gehasst. Mein Lehrer wollte mich rauskicken, ich schwöre, der hat mich drei Monate lang aus dem Unterricht suspendiert. Ich konnte nichts machen. Aber ich hab das so schlau gemacht in den anderen Unterrichtsstunden, ich war so super. Ich war die beste von den Schülerinnen. Ich hab meinen Abschluss bekommen. Ich hatte null Fehlstunden und der konnte nix machen, weißte wie der mich gehasst hat? Zum Schluss habe ich den so fertig gemacht, ich hab, ich wollt den, das war schlimm. Ist wie gesagt und (w3), wenn du super Noten schreibst, können die nix machen.“

 Der Ausschnitt spiegelt eine grundlegende Unterstellung der Missachtung durch das Lehrpersonal wieder. Der schulische Anerkennungsapparat wird als das feindliche Andere konstruiert, das die Vernichtung der persönlichen Integrität zum Ziel hat. Dieser Feindseligkeit und Missachtung auf Ebene der sozialen Wertschätzung kann aus Sicht der Betroffenen nur durch Anpassung an die vermeintlich überindividuellen Bezugsnormen der Institution Schule, die Noten, begegnet werden. Rechtspositionen übernehmen hier die Funktion eines Schutzraumes (vgl. Honneth 2012, 152), der genutzt wird, um dem kontingenten Raum sozialer Vergabe von Wertschätzung vorübergehend zu entkommen. Anpassung und gute Noten werden als eine Art Trick dargestellt, indem man sich quasi verstellt, zeigt, dass man auf der überindividuell gültigen Ebene des Rechts unangreifbar ist und macht sich auf diese Weise gleichsam immun gegenüber Missachtung auf der Ebene sozialer Wertschätzung. In dieser Orientierung erscheinen Noten nicht als das gerechte Resultat schulischer Bemühungen, sondern als etwas, das vorübergehend benötigt wird, um dem schulischen Repressionsapparat standhalten zu können. Schule als Institution, in der die Vergabe von Anerkennung potentiell in einem transparenten und dynamischen Aushandlungsprozess von Schüler/innen und Lehrer/innen erfolgt und damit zu einer Form von Selbstschätzung als Basis zukünftiger Leistungssituationen beiträgt, hat in dieser Orientierung der trickreichen und vorübergehend selbstverleugnenden Anpassung ihre Bedeutung verloren.

Andererseits wird vom Lehrpersonal ein machtsensibler im Umgang mit dem Rechtstitel der Notenvergabe, basierend auf einer grundlegenden sozialen Anerkennung von Schülerbedürfnissen und -eigenschaften, erwartet:

w2:      „Lehrer, die zum Beispiel auch irgendwo an ihre Mit… . Also an ihre Schüler und ihre Zukunft denken. Zum Beispiel, die steht zwischen Vier und Fünf. Dass sie dann eher die Vier gibt, statt die Fünf. Obwohl sie kann genauso, sie hat das Recht, auch die Fünf zu geben. Aber Lehrer die zum Beispiel auf jemanden einen Tick oder so haben die nicht abhaben können wegen irgendwelchen Gründen. Die geben einfach eine Fünf. So die denken gar nicht so, dass sie ihr Leben zerstören. Das sind für mich falsche Lehrer. Und Lehrer die trotz allem, auch wenn die Schülerin mal so ist, mal so ist, die müssen trotzdem so irgendwo wissen, OK da ist ne Schülerin, die ist jetzt vielleicht so, aber wenn die sich ändert, dass sie trotzdem irgendwie immer versuchen die Noten zu verbessern.“

 Auch diese Konklusion einer längeren Sequenz, in der die Frage, was eine gute Lehrperson ausmacht, verhandelt wird, spiegelt eine Orientierung wieder, in der die Jugendlichen sich nicht als Gestalter/innen ihrer Anerkennungsbiographie erleben, sondern als dem Wohlwollen der sie beurteilenden Lehrer/innen ausgeliefert, die sie lediglich um Milde anrufen können. Schüler/innen stehen in der Gefahr, dass ein Lehrer „einen Tick“ entwickelt, man also „wegen irgendwelchen Gründen“ in den Fokus der Abwertung durch die Lehrperson gerät. Leistungsbewertung wird dann verstanden als das Machtinstrument, mit dem die soziale Missachtung übertragen wird auf die Anerkennungsdimension des Rechts, indem Lehrer die Macht besitzen, die Schülerin als ganze Person zu entwerten und gleichsam ihr Leben zu zerstören. Von Lehrer/inne/n wird die professionelle Wertschätzung erwartet, die es ermöglicht, eine jugendliche Person als im ständigen Wandel begriffen aufzufassen und ihr eine ständige Chance der Verbesserung einzuräumen. Die Schülerin beschreibt an dieser Stelle recht genau, wie Personen im Status des Schülers adressiert werden, nämlich nicht als vollwertige Person, sondern als Person, die diesen Status qua Bildung erst noch zu legitimieren hat. Nicht das Kind, sondern der zukünftige Erwachsene ist Adressat der allgemeinen Schulpflicht (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, 181). Im Material zeigt sich ein Ringen um Anerkennung als Teil eines adoleszenten Subjektivierungsprozesses, zu dem alle Schüler/innen sich im Rahmen schulischer Selektionsprozesse aufgefordert sehen und in den Spannungen und Kontingenzen nahezu programmatisch eingeschrieben sind. Gleichzeitig zeigt sich aber auch eine besondere Brüchigkeit des Anerkennungserlebens, da schulische Leistungs- und Selektionssituationen nicht primär als etwas durch selbstbezogene Vorstellungen von Leistungsfähigkeit – z. B. in Form von passenden Lern-und Arbeitsstrategien – Gestaltbares erlebt wird, sondern als etwas, das nicht zuletzt durch trickreiche Anpassungsformen bearbeitbar ist. Im BGJ finden diese Orientierungen ihre Fortsetzung, da die Anerkennungsbiografie die Auffassung der Rolle als Schüler/in im BGJ vorstrukturiert. Diese Subjektivierungsmodalitäten im Modus eines Kampfes um Anerkennung sind keine, die eine zielgerichtete, an individuellen Zielen und Vorstellungen von Leistungsfähigkeit ausgerichtete Berufsorientierung wahrscheinlich machen. Das BGJ steht angesichts solcher Bildungsorientierungen nicht zuletzt für ein soziales Setting, das deswegen gewählt wird, weil hier weitere Entwertungen der persönlichen Integrität unwahrscheinlicher sind als in anderen „Leistungsumwelten“ und das deswegen für von Entwertung jedweder Art Betroffene die Übergangsentscheidung der Wahl an der ersten Schwelle ist.

4 Zusammenfassung und Ausblick

Es konnte gezeigt werden, dass Berufs- und Bildungsorientierungen Jugendlicher im BGJ deutliche Zeichen eines Kampfes um Anerkennung tragen in dem Sinne, dass sich in den konjunktiven Sinnstrukturen insbesondere ehemaliger Hauptschüler/innen das Bedürfnis erkennbar ist, gruppenbezogene Statuszuweisungen individuell positiv zu wenden und das BGJ als Vehikel für die Aufwertung der leistungsbezogenen Selbstbeziehung zu verwenden. Ferner konnte gezeigt werden, dass nicht in erster Linie spezifische Bildungsziele oder das Scheitern der Bewerbung um eine Ausbildungsstelle der Grund für das Ziel eines erweiterten Abschlusses sind, sondern das Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung, einer positiven Selbstbeziehung im Medium der Leistung und die Konfundierung emotionaler Anerkennung durch die Erfüllung elterlicher Bildungserwartungen.

Strategien der Selbstselektion, verstanden als Verzögerung des Übergangs in qualifizierte Ausbildung, stehen hierbei für ein Bündel an Berufs- und Bildungsorientierungen, die der weiteren Explikation und Erforschung bedürfen und die je spezifisch auf verschiedene Anerkennungsdimensionen beziehbar, aber auch auf Orientierungen, die außerhalb eines Kampfes um Anerkennung liegen, zurückführbar sind.

Die analytische Dreiteilung des Anerkennungsbegriffs der Honneth´schen Anerkennungskonzeption hat sich als hilfreich erwiesen. Die Unterscheidung und reziproke Bezogenheit insbesondere der Anerkennungssphären des Rechts und der sozialen Wertschätzung hat dazu beigetragen, Einzelaspekte der Beziehung von Schüler/inne/n im BGJ zum Lehrpersonal und zur Institution Schule sichtbar zu machen.

Ausgehend von dieser Anerkennungskonzeption konnten Berufs- und Bildungsorientierungen im BGJ analysiert werden, in die das intersubjektiv entwickelte Anerkennungsgefüge der Gesellschaft eingeschrieben ist, das in Formen von Selbstselektion an der ersten Schwelle zur Geltung kommt. Beispielhaft zu nennen sind:

1) Das vielfach beschriebene Bedürfnis der Aufwertung der (affektiven) Selbstbeziehung durch die Fachoberschulreife.

2) Das Bedürfnis, elterliche Zuneigung, die als an Bildungserfolg gekoppelt erlebt wird, zu legitimieren. Insbesondere in Familien mit Migrationshintergrund liegen teilweise sehr hohe Bildungsaspirationen bei gleichzeitig tendenziell schwach ausgeprägten Unterstützungsstrukturen vor (vgl. Becker 2011, 30). Viele Jugendliche würden gerne dem elterlichen Wunsch, das Abitur zu erreichen um ein Studium aufnehmen zu können, entsprechen und nutzen das BGJ entweder, um diese Möglichkeit als reale Chance aufrecht zu erhalten oder um den Eltern gegenüber den Moment der Offenbarung aufzuschieben.

3) Eine Anerkennungsbiografie, die von Misserfolgserfahrungen gekennzeichnet ist und die weitere Herabsetzungserfahrungen durch Ablehnung in einem Bewerbungsverfahren als nicht zumutbar für die persönliche Integrität erleben lässt.

4) Ausprägungen sozialer Pathologien der rechtlichen Freiheit (Honneth 2012, 157ff), in denen intersubjektive Freiheit, mithin Berufswahl, nicht mehr als etwas reziprok Verhandelbares erlebt wird, sondern als belastendes Spannungsfeld, das Sprachlosigkeit erzeugt. Unterschiedliche Leistungserwartungen ziehen derart an den Jugendlichen, dass die Teilnehme am BGJ als von intersubjektiven Begründungszwängen befreiter Rechtsraum für eine temporäre Flucht aus berufsbezogenen Kommunikationsräumen genutzt wird.

Weitere Aspekte von Selbstselektion sind im BGJ wirksam, aber nicht primär auf Anerkennungsdynamiken beziehbar, z. B.:

5) Ein individuelles Attributionsverhalten des schulischen Misserfolgs, das zu der Einsicht führt, dass die Unreife der früheren Jugend und nicht Unvermögen die Ursache für schulischen Misserfolg war und die Selbstwahrnehmung, dass man mit erfolgter persönlicher Reifung auch zu höherwertigen schulischen Leistungen in der Lage ist,

6) direkte oder indirekte Botschaften aus dem Arbeitsmarkt, man sei noch zu jung und hätte nach einem Berufsgrundbildungsjahr bessere Chancen auf eine Ausbildungsstelle.

Die Vielfalt der Berufs- und Bildungsorientierungen an der ersten Schwelle macht es notwendig, die Unterschiede in den Bildungs- und Berufsorientierungen ehemaliger Hauptschüler/innen systematisch mit denen ehemaliger Gesamtschüler/innen mit Hauptschulabschluss im BGJ zu kontrastieren.

Die Auswertungen zeigen, dass das BGJ den Jugendlichen sowohl psychosoziale Entlastung verschafft, sie aber gleichzeitig von den Anerkennungsbeziehungen, in die qualifizierende Ausbildung eingelagert ist, isoliert.

Zusammenfassend zeigt sich, dass subjektbasierte, anerkennungstheoretische Forschung zu den Berufs- und Bildungsorientierungen im BGJ das Potenzial hat, die Vielfalt der Berufs- und Bildungsorientierungen Jugendlicher im BGJ zu beschreiben, indem die Jugendlichen als Subjekte mit spezifischen Bedürfnissen ernst genommen und die Bedeutung einer reflexiven, hegemoniesensiblen Berufsorientierungsforschung in die Theorieentwicklung integriert wird. Indem der weitere Schulbesuch an der ersten Schwelle als biografisch legitimierte Entscheidung anerkannt wird eröffnet sich die Möglichkeit, Bedürfnisse, Geschichten und komplexe Subjektivierungskontexte auf Berufs- und Bildungsentscheidungen zu beziehen und Verzögerungen des Eintritts in qualifizierende Ausbildung als biografisch sinnvoll aufzufassen. Das Bildungsmoratorium als eigene Qualität der Zeit, die Kinder und insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene in institutionellen Bildungskontexten verbringen, ist derzeit ein Privileg der Erbringer bürgerlich gerahmter Bildungsleistungen. Abiturienten nutzen die Zeit in der Oberstufe nicht nur, um sich auf ein Studium vorzubereiten, sondern auch für diverse Formen des „Erwachsenseins im Schonraum“, kulturelle Selbsterprobung, tentative Suchbewegungen etc. Die Pluralisierung der Arbeitsbezüge und ein gesellschaftlicher Bedeutungszuwachs subjektiv bedeutsamer Bildungs- und Berufsentscheidungen haben dazu geführt, dass das Bedürfnis, sich Zeit für einen Prozess der Selbstfindung zu nehmen, gesellschaftliche Verbreitung auch in die Gruppen von Schülern gefunden hat, die traditionell nach der Schule in qualifizierende Ausbildung eingetreten sind (vgl. Bojanowski 2012, 129). Dieses Bildungsmoratorium als spezifische Bildungsphase auch für Jugendliche ohne Schulabschluss und mit niedrigen Schulabschlüssen ertragreich zu gestalten bei gleichzeitiger Fokussierung beruflicher oder schulischer Anschlussmöglichkeiten, d. h. ohne den Preis einer sozialpädagogischen Entschulung, ist eines der zentralen Kriterien für Gestaltungsentscheidungen im Übergangsbereich insgesamt. Aus anerkennungstheoretischer Sicht ist es sinnvoll, Jugendlichen im BGJ ihre Anerkennungsbiografie reflexiv verfügbar zu machen. Dies wäre eine Grundlage dafür, dass die Jugendlichen ihre biografisch begründeten Bildungsentscheidungen als Subjekte in den Rahmen eines emanzipierten Selbsterlebens stellen. Konzepte, die im BGJ zu einer positiven Selbstbeziehung als Grundlage einer ermöglichenden Berufsorientierung beitragen, ohne das BGJ dabei auf eine sozialpädagogische Reparaturwerkstatt zu reduzieren, sind auf der Basis dieser Untersuchung notwendig.

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Zitieren des Beitrags

Weiss, U. (2014): „Like a Boss!“ – Eine subjektzentrierte Perspektive auf verzögerte Übergänge bei Jugendlichen im Berufsgrundbildungsjahr. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 27, 1-20. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe27/weiss_bwpat27.pdf  (21-12-2014).